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Der Tetanus

Es hatte Krach in der »Erholung« gegeben. Einen höchst ärgerlichen Krach zwischen einem älteren Reserveleutnant und dem jungen Hilfslehrer Paul Mühsam. Dieser, der erst seit zwei Wochen am hiesigen Gymnasium wirkte, hatte sich durch ein Gedicht im Generalanzeiger, das den Frieden auf Kosten des Krieges über alles andere hochpries, in die Stadt seines neuen Wirkungskreises eingeführt. Und das hatte verschiedene Herren, die im Kriege mitgewesen waren, vor allem den genannten Reserveoffizier, derartig geärgert, daß es zu scharfen Auseinandersetzungen zwischen ihm und dem schwindsüchtigen »Steißtrommler«, wie er den Lehrer hinterdrein vor seinen Kameraden titulierte, gekommen war.

»Was verstehen Sie überhaupt vom Kriege? Haben Sie ihn mitgemacht?« hatte er den armen schwächlichen Paul Mühsam angeschnauzt.

»Nein! Aber mein Vater, der in ihm geblieben ist!« hatte der schüchtern entgegnet.

»Ach was! Sie können nicht vom Kriege reden, wenn Sie nicht selbst mit dabei gewesen sind, wenn Sie nicht wochenlang für unser Vaterland bis an den Hals im Dreck oder Wasser gelegen und über sich die Schrapnells und Granaten, die ganze himmlische Symphonie der Schlachten, gehört haben!«

»Ich rede ja nicht über den Krieg, ich verwerfe ihn nur ganz einfach!«

»So! Sie verwerfen ihn, diesen herrlichen Ausnahmezustand, ohne den die Menschheit in Wohlleben und Weichheit versinken würde, – diese ewig notwendige, kraftvolle Erneuerung des ganzen Menschengeschlechts, dieses urgesunde Stahlbad, an dem jede Schwäche genesen muß, dieses Lenzen« – das Wort »Lenzen« hatte er vor kurzem in einem nationalen Leitartikel gelesen, und er wiederholte es, weil es ihm besonders gefallen hatte – »dieses Lenzen und Werden einer neuen frischen Menschheit – – –.«

»Ich bestreite das alles!«

»Wissen Sie auch, daß ich nachts noch davon träumen kann und dann aufwache voll Begeisterung und wirklich echtes sehnsüchtiges Heimweh nach dem Kriege verspüre?« war der Reserveleutnant abgeschweift.

»Ihre persönlichen Blutbedürfnisse kommen nicht infrage, wenn es sich um das Wohl und Wehe von Millionen handelt«, hatte der arme Paul Mühsam zu erwidern gewagt, wobei er ganz blaß geworden war. Aber da war er schön angepfiffen worden:

»Unsinn! Der Krieg ist eine Notwendigkeit, eine grausame meinetwegen. Aber er ist nicht aus der Welt zu schaffen, solange die Menschen nicht allesamt Friedenspiepengel wie Sie geworden sind und liebe süße Flügelchen an den Ärmchen tragen. Und das wird Gott sei Dank nie und nimmer der Fall sein. Die Kraft und der Wille zur Macht geht gottlob nicht unter im Menschengeschlecht, weil er ein integrierender Bestandteil seiner Natur ist. Ob Sie und andere Kriegsverächter sich noch soviel zusammendichten und schreiben werden. ›Der ewige Friede ist ein Traum, und nicht einmal ein schöner‹, hat schon Moltke gesagt.«

»Er wird Wirklichkeit werden, wenn man erst die ganze Menschheit eine Reihe von Jahrzehnten lang beharrlich und wahrhaftig in der Liebe zum Frieden erzogen hat. Ebenso wie das rohe Faustrecht zwischen den einzelnen Menschen durch die Gerichte aufgehoben worden ist, ebenso werden auch die blutigen Auseinandersetzungen zwischen ganzen Völkern verschwinden. Verständige vertragliche Auseinandersetzungen werden dann an die Stelle der Kriege mit ihrem entsetzlichen sinnlosen Blutvergießen treten. Das Militär wird auf die Rolle einer bloßen Schutzpolizei beschränkt. Die rohen Instinkte des Menschen, die durch die Aufhäufung vieler zu einer zu Gewalttätigkeiten berechtigt erklärten wüsten Soldateska –«

»Nun hören Sie aber auf!« war der Friedensschwärmer hier rauh von dem Reserveleutnant unterbrochen worden. »Mit Ihrem Friedensgefasel! Wer an unser Heer und seinen Ruhm und seine Ehre zu tasten wagt, der hat es mit mir zu tun.«

Einige ältere Herren, die in der Hindenburgecke saßen, welche nach dem dort hängenden Bild des Generalfeldmarschalls so benannt war, hatten sich mit hineingemischt und ihren Unwillen über eine solche Verunglimpfung unserer wackeren Soldaten, die nach ihrer Meinung in seinen Worten gelegen hätte, kräftig Luft gemacht. Und Paul Mühsam hatte unter lautem Widerspruch der versammelten Bürgerschar die »Erholung« verlassen müssen.

Die Sache war vor seinen Direktor gekommen, der ihn, nachdem er schon am Morgen einer Unterrichtsstunde des angezeigten Missetäters beigewohnt hatte, auf den Nachmittag nach Schulschluß in sein Amtszimmer bestellt hatte. Paul Mühsam wandelte durch den mit Ansichten von Rom und Athen geschmückten Flur auf die Stätte seines peinlichen Verhörs zu. Er klopfte an. »Herein!« rief es. And er trat in das ein wenig überheizte Zimmer seines Direktors, der mit der Verbesserung der Aufsätze seiner Prima über »Das passive Heldentum des Philotas« beschäftigt an seinem Pulte saß. Der riesige Kopf des Zeus von Otricoli starrte mit fernen großen Augen und seinem halboffenen Mund ihm gegenüber geisterhaft ins Leere.

Der Direktor blickte von seinen Heften auf und wies, indem er sich seinen Angeklagten nochmals lange betrachtete, ihm einen Stuhl an. Es war ein gutmütiger alter Herr, der in den Zeiten des Pericles und des Tacitus zu Hause war und die neumodische Welt um sich mit verträumten, sanft verschleierten Augen ansah. »Nun erzählen Sie mir einmal den Vorfall, lieber Kollege!« sagte er mit einer Stimme, die durch vieles Lehren und Vortragen in geschlossenen Schulräumen matt und glanzlos geworden war. Paul Mühsam berichtete, soweit er sich des Streites noch erinnern konnte, was vorgefallen war. Seine Aussage stimmte natürlich nicht mehr ganz genau mit dem Wortlaut der hin und her geworfenen Äußerungen überein. Aber sie gab den Fall, wie er ihn sich vorstellte, gut wieder. Der Direktor hatte es vermieden, ihn anzuschauen, während er sprach, um ihn nicht zu verwirren oder abzulenken. Jetzt tat er es, als er fragte: »Wie kommen Sie zu dieser ausgesprochenen Vorliebe für den Frieden, Kollege?« In der Tat wurde Paul Mühsam unter den Augen seines Vorgesetzten etwas verlegen. Aber entschlossen, wie er sich vorgenommen hatte, seine Sache durchzusetzen, zog er nun ein verknittertes vergilbtes Schriftstück aus seiner Brusttasche hervor.

»Durch diesen letzten Brief meines Vaters!« Er überreichte die wichtige Urkunde, auf die sich seine Todfeindschaft mit dem Kriege stützte, seinem Direktor. »Gestatten Sie mir, ihn zu lesen?« fragte der.

»Ich bitte Sie darum. Wenn Sie mir jedoch erlauben, werde ich Ihnen vorlesen, da seine Handschrift etwas undeutlich, ja stellenweise fast unleserlich ist. Nein, bitte sehr, Sie können ihn ruhig indes in der Hand behalten. Ich weiß ihn auswendig.«

Und nun begann er, während der Direktor ihm zunickte und ab und zu auf die mit Bleistift bekritzelten Bogen blickte, die er ihm übergeben hatte, das folgende in den friedlichen, stillen, gepflegten Raum zu sprechen:

»Dies wird mein letzter Brief sein, mein Sohn, den ich an dich schreibe. Sie sagen zwar, ich würde noch drüber kommen, die beiden Ärzte und die scheinheiligen Krankenschwestern, die verlogen wie die Engel jedem vorschwatzen, er sei übermorgen wieder gesund und brauche nicht zu sterben. Aber was mich angeht, das weiß ich besser. Ich habe den Tod zuviel beobachtet und studiert in den letzten beiden Wochen, da ich in diesem Krankenhaus, was sag' ich, in dieser Hölle liege. Soll ich sie dir beschreiben, diese entsetzlichste, die je ein Gehirn hat ersinnen können? Ein kleiner runder Saal, sechs bis acht Meter im Durchmesser, aber vollgepfropft mit Krankenbetten, mit Matratzen und Strohlagern. Wohin du siehst, blutende und verwundete Menschen. Wohin du hörst, Schreien, Ächzen oder Wimmern. Wohin du riechst, Fäulnis, Eiter und Blutdunst oder häßlicher, stickiger Menschengeruch. Man sagt, unser Saal läge in dem alten Schloß eines französischen Chevaliers, der vor dem Krieg ausgerissen sei, und dies sei sein Speisezimmer gewesen. Es ist nicht wahr. Der Kerl ist noch immer hier. Dort hinten sitzt er in einer Ecke mit einem widerlich wackelnden spitzen Bart und kaut und frißt deutsches Menschenfleisch. So gierig und gefräßig, daß ihm unser Blut in den Bart tröpfelt. Zuweilen knirscht er zwischen den Zähnen: ›Revanche! Revanche!‹ Die Knochen und Kaldaunen schleudert er neben sich in die großen, mit rotem Blut gefüllten Eimer, in die unsere Ärzte immer die abgeschnittenen Gliedmaßen schmeißen.

Du denkst, ich phantasiere, mein Sohn. O nein! Das ist das Unheimlichste an meiner Krankheit, daß sie eine schauderhafte Klarheit in uns anzündet, daß sie den Schleier der Ohnmacht, den die gütige Natur – ihr mögt sagen, was ihr wollt, gütiger als die Menschen ist sie doch! – über die allzu schwer Leidenden wirft, daß sie, meine Krankheit, diesen Schleier nicht kennt. Ich weiß, daß ich mir das mit dem französischen Chevalier einbilde. Ich tu' es nur, um mir etwas vorzuspiegeln. Etwas Lustiges, ja, in der Tat. Denn was in diesen letzten vierzehn Tagen um mich herum vorgeht, das ist so grauenvoll, daß die blutrünstigste Einbildungskraft eurer Künstler ein fröhliches Puppenspiel dagegen ist.

Denk' dir, du liegst Tag um Tag, und nun kommt etwas so Fürchterliches, daß du es dir gar nicht vorstellen kannst, und – und auch Nacht um Nacht mit halbtoten oder sterbenden Menschen zusammengepfercht, deren Phantasien dir die eben überstandenen Kriegsschrecken fortwährend in grauenvollen Verkürzungen und Verzerrungen wiederholen. Du hörst das wortlose ununterbrochene Wimmern oder Heulen der Verwundeten, die mit heraushängenden Muskeln oder Därmen hier liegen und ihr Leiden nur schreiend ertragen können. Du zählst die Seufzer der Tapfern, die sich schweigend mit hin und wieder heraus gepreßtem Stöhnen über die Qual und Angst der Stunde schleppen. Du nimmst diese ganze Höllenmusik von Menschen, die meist gar keine Schmerzen gewohnt sind, die gestern noch gesund und rüstig waren, in dich auf, bis du es nicht mehr erträgst, bis du dich aufrichtest, wie ich es eben von Stunde zu Stunde tue, und kreischst: ›Warum? Warum?‹

Ich bin bei vollstem Bewußtsein, mein Sohn. Denke nur nicht, ich schriebe dir irres, wirres Zeug! Ich spüre ganz genau, wie diese Tetanustierchen in mir arbeiten und ihr Gift aufhäufen, das hinten in meinem Rücken wie in einer umgestülpten Sanduhr immer höher steigt. Ich bin so klar und ruhig wie ein Statistiker. Ich habe gezählt, daß die meisten Leute, die hier um mich sterben mußten, als letzte Worte gelallt haben: ›O meine Mutter!‹ oder: ›Nun komm' ich doch nicht mehr nach Hause!‹ Du kannst jeden fragen, ob diese Statistik nicht stimmt. Mit solchen grausamen Rechnereien vertreibt man sich hier die Zeit, die langsam weiterschleicht wie der Starrkrampf, der mich von oben nach unten überkriecht und ein Glied nach dem andern lähmt und härtet, bis ich ganz zu Stein geworden bin.

Ich habe mir einen Briefbogen bringen lassen, auf dem ich dir mit meinem Bleistift dies aufschreibe als die ewige, die lautere Wahrheit, mein Sohn. Ich tu's mit meiner letzten Kraft, und mit ihr beschwör' ich dich, mit ihr verpflicht' ich dich, sei dein Leben lang ein Kriegsgegner, du mein einziger Sohn. Es werden Menschen kommen, sofern man sie so nennen darf, Menschen, die selbst mit dabei gewesen sind, und die werden sagen: ›Es war ja gar nicht so schlimm!‹ Glaub' mir, glaub' mir, mein Sohn, in der letzten Stunde meiner Kraft, es war so schlimm, wie ich es dir hier schreibe! Glaub' es mir, der ich nicht mehr vergessen kann wie die andern Menschen, die weiter am Leben bleiben und darum vergessen müssen. Sie lügen, sie müssen lügen, denn sie wollen noch leben und das Dasein ertragen. Aber ich rede die Wahrheit. Ich habe ja keinen Nutzen mehr an der Lüge, ich, der Sterbende, der bald schon Tote. Und ich sage dir, der Krieg ist das entsetzlichste, das erniedrigendste, das tierisch häßlichste Unheil, das über die Menschen kommen kann.

Vergiß das nie, vergiß du das nie, mein einziger Sohn, als mein heiligstes Vermächtnis an dich! Wenn du Kinder hast – ich zittre bei diesem Gedanken, der mir vordem so lieb war –, schenk' ihnen keine Kriegsspielsachen, keine Kriegsbücher. Lehr' sie, den Frieden als die einzige Möglichkeit, uns über den Tierzustand zu erheben, zu verehren! Sag' ihnen bei dem Andenken ihres Großvaters, daß der Krieg keinen einzigen Menschen verändern könnte, es sei höchstens, um ihn mehr zu verrohen! Lehr' sie darauf achten, daß das, was als edel am Kriege gerühmt wird, seinen Wert und seine Wurzel aus dem Frieden und den Gefühlen des Friedens zieht, und daß es keine, aber auch keine treffliche Eigenschaft gibt, die der Krieg besonders freimacht, die man nicht ebensogut ohne die Schlachten zu beweisen vermöchte!

Dies impfe deinen Kindern ein als ein Gegengift gegen die menschlichen Bestien, die den Krieg zu verherrlichen wagen, wie man mir zu spät dieses Schutzmittel eingespritzt hat gegen die Tiere, die mich mit ihrem Gift erstarren machen!

Dies Lebewohl hauch' ich für dich in das schmutzige blutige Kissen, auf dem ich liege und wie auf einer umränderten Wolke voll Eiter und Qualen aus dieser Welt einer mangelhaften Menschheit fahren werde.

Ich muß meinen Brief schließen. Man würde ihn dir sonst vielleicht nicht abliefern, mein Sohn. Ich kann den Mund kaum noch offnen. Es ist mein letzter Kuß für dich, wenn ich den Umschlag gleich mit meinem Speichel berühre und schließe.

Dann werf' ich mich wehrlos und steif dem Tod und seinen Unholden vor: dem scheußlichen französischen Chevalier mit seinem Wackelbart dort in der Ecke und den Köpfen, die wie Kegelkugeln durcheinanderrollen und höhnisch mit ihren roten Tschakos mir zunicken, und all den verstümmelten Gliedmaßen, die mein Lager umtanzen. Siehst du hier die beiden blutigen Beine ohne Rumpf, die zusammen hopsen und mir Fratzen schneiden, und die Leiber ohne Füße, die da wie Kröten über den Boden kriechen, und die losen zerfetzten Arme, die zu Dutzenden dazwischen hampeln. Bis die Affen kommen und sie alle verjagen, die vielen, vielen hundsköpfigen Affen, die an der Wand hinter meinem Bett hervorkommen und immerzu oben über die Decke rennen. Sie machen: ›Hetz! Hetz! Hau! Hau!‹ Hörst du: ›Hetz! Hau! Hau!‹ Sie werden auch mich bald aus dem Leben hinausgebellt haben.«

Damit schloß der Brief, den Paul Mühsam seinem Direktor vorgesprochen hatte. Dieser betrachtete sich noch einmal die zittrigen Schriftzüge, mit denen ein Todkranker seine letzte Besinnung von sich gegeben hatte. Dann blickte er mit seinen gütigen Augen auf seinen jungen Lehrer: »Gestatten Sie mir, Kollege, daß ich diesen Brief Ihres Vaters verbrenne? Er belastet Sie viel zu sehr und bringt nur Unglück in Ihr Leben und Ihren Beruf!«

Ohne die Antwort seines Gegenübers abzuwarten, hatte der Direktor die kleine Kerze auf seinem Pult angezündet, über der er den Siegellack für die Schulurkunden zu schmelzen pflegte. »Sie dürfen einen solchen im Wundfieber geschriebenen Brief eines Sterbenden nicht zur Richtschnur für Ihr ganzes Leben machen!« fuhr der Direktor fort, während er das vergilbte Papier in die Nähe der Kerzenflamme brachte. Paul Mühsam ließ es schweigend geschehen. Er lauschte nur der Stimme des Direktors, die ihm voll sanfter Überzeugung all das Verführerische, was er sich längst schon selbst gesagt hatte, in die Ohren träufelte:

»Wir müssen uns mit dem jetzigen Geist abfinden, Kollege. Auch Sie sind nicht der Mann, der gegen den Strom schwimmen kann, das sah ich Ihnen gleich an. Ebensowenig wie ich, im Vertrauen gesagt, selbst es vermöchte. Am Scheideweg merken wir alle, ob wir ein Herkules sind oder nicht. Lassen Sie es sich nicht zu sehr zu Herzen gehen, daß Sie keiner sind! Dichten und phantasieren Sie fleißig weiter! Das beruhigt namentlich zu Anfang sehr. Nur tun Sie es unter Ausschluß der Öffentlichkeit, wie wir Männer in Amt und Würden und wir Philologen insbesondere seit jeher es halten müssen. Und auch möglichst unter Vermeidung einer bestimmten Richtung. Das hat sein Gutes, indem es Sie vor Einseitigkeiten und vor Prinzipienreiterei bewahrt. Man darf nichts auf die Spitze treiben. » Ne quid nimis!« sagt mein geliebter Terenz. An die Möglichkeit eines paradiesischen Zustandes auf Erden glauben Sie doch wohl auch nicht mehr, Kollege. Dafür dürften Sie zu alt und zu verständig geworden sein.

Erlauben Sie mir darum als Ihrem geistlichen Vater gleichsam, daß ich dieses Sie quälende Schreiben Ihres leiblichen Vaters vernichte und Sie von einer Verpflichtung entbinde, deren konsequente Durchführung Sie Ihr Amt kosten würde.«

Der arme Paul wollte noch etwas entgegnen. Aber der Direktor erstickte mit seiner glatten gütigen Stimme seine letzten Bedenken: »Sie dürften damit auch im Interesse Ihrer alten Mutter handeln, für deren Wohlergehen Ihr Herr Vater, soviel ich weiß,« fügte er ganz ohne Schärfe hinzu, »nicht genügend vorgesorgt hat.«

Der Brief brannte und knisterte in der Flamme und zerblätterte dann als schwarze feine Kohle, die der Direktor sorgsam in seinen Papierkorb blies. Paul Mühsam lauschte diesen leisen Geräuschen und sagte kein Wort dazu. Er dachte die ganze Zeit über an ein Bild, das er einmal als Kind in einer alten illustrierten Zeitung oder in einem Museum gesehen hatte. Genau konnte er es sich nicht mehr vorstellen, und der Vorgang und die Personen des Bildes verschoben sich dunkel in seinem Kopf. Aber darunter hatte gestanden: » Der Widerruf«. Sein Direktor hatte sich erhoben und damit das Zeichen gegeben, daß die Aussprache beendigt sei.

»Ich werde die Sache in der ›Erholung‹ in Ordnung bringen, Kollege!« redete er ihn an. »Und nicht wahr, keine Wiederholungen dieses Falles, wir sind uns völlig einig darüber!«

Er reichte Paul Mühsam die Hand, die dieser immer noch schweigend ergriff. Nur mit einem gefühlvollen Händedruck bekräftigte er seinem Direktor, daß der Kompromiß zwischen ihnen für immer geschlossen sei. Der Direktor erwiderte den Druck auf seine sanfte Weise und beugte sich wieder zu den Aufsatzheften, in denen seine Primaner am Beispiel des Jünglinge Philotas aus der Antike beweisen mußten, daß auch in der Entsagung Größe liege, und daß es neben dem aktiven ein ebenso edles passives Heldentum gäbe.

Also trennten sich die beiden Menschen und überließen sich dem Tetanus des Lebens mit seinem Gift, das in einem alles lähmenden Starrkrampf endet.


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