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Der Totschläger

Darum, meine Herren Geschworenen, selbst wenn sie die erste Schuldfrage nicht verneinen könnten und den Angeklagten auf Grund des § 212 unseres Strafgesetzbuches für schuldig des Totschlags an seiner Ehefrau befinden müßten, die Nebenfrage danach, ob ihm mildernde Umstände zuzubilligen seien, werden Sie unbedingt bejahen müssen.

Der Angeklagte ist auf jeden Fall zu der Tat, die er bestreitet, die er als Selbstmord seiner Frau geschildert hat und noch behauptet, von der Toten gereizt worden, mehrfach gereizt worden. Das steht fest. Mag es ihm auch nicht gelungen sein, einen berechtigten Grund für die Eifersucht nachzuweisen, die er gegen seine Frau empfand, mag sich kein Zeuge mehr finden lassen, der über ihren Lebenswandel während der Abwesenheit ihres Mannes im Kriege Nachteiliges aussagen will, das eine läßt sich nicht abstreiten noch verschweigen, daß die Verstorbene durch verschiedene Redensarten den Angeklagten aufs äußerste gekränkt und zum Zorn erregt hat. Wenn auch ihre Taten sich nicht mehr vor Gericht stellen lassen, weil die etwaigen Mitschuldigen es vorziehen, kein Zeugnis gegen sie abzulegen, ihre Worte sind von uns hier vernommen worden und verlangen, daß wir sie zugunsten des Angeklagten sprechen lassen.

Die Zeugen, die wir in der Verteidigung namhaft gemacht haben, sie alle haben bekundet, daß die Verstorbene den Angeklagten, ihren Ehemann, mehrfach gröblich beleidigt hat. In den häuslichen Szenen, die zwischen den beiden fast täglich seit der Heimkehr des Mannes aus dem Feldzug stattfanden, hat sie immer wieder den Angeklagten einen Müßiggänger, einen rohen Bummelanten gescholten, der nichts anderes mehr könne, als über den Krieg zu maulfechten, der sein ehrliches Handwerk über dem blöden Soldatenspielen verlernt habe und sie und ihre Kinder bald an den Bettelstab bringen werde. Sie hat damit die Soldatenehre des Angeklagten verletzt, der mit Recht stolzer auf seine militärischen Heldentaten als auf seine alltägliche Beschäftigung als einfacher Schlosser ist. Ja, sie hat, wie ein Zeuge hier auf seinen heiligen Eid genommen hat, sich nicht einmal gescheut, das Eiserne Kreuz auf der Brust des Angeklagten, die höchste Zier eines jeden Kriegers, zu verunglimpfen, indem sie in seiner Gegenwart verächtlich erklärt hat, eine Stange Gold wäre ihr lieber als das billige blecherne Dings, diese Hundemarke, für die man keinen Topf Milch für seine hungernden Kinder kaufen könne.

Mußte der Angeklagte nicht durch solche und ähnliche wegwerfende Äußerungen der eigenen Frau bis in die tiefsten Tiefen seines Wesens aufgerüttelt und getroffen werden? Wär' es ihm viel zu verdenken gewesen, wenn da eines Tages das alte tapfere Bajonett, das er heimlich als teure Kriegserinnerung im Schrank verwahrte, fast wie von selbst in seine Hand gesprungen wäre, die Schmach, die ihm da fortwährend im eigenen Hause angetan wurde, mit Blut zu rächen!

Er selber freilich bestreitet es. Er steht fest auf seiner ersten Behauptung, daß sich seine verstorbene Frau nach einer ihrer gewöhnlichen Wortstreitigkeiten mit diesem seinen Bajonett während seiner Abwesenheit selbst entleibt habe. Auch wenn man dieser Behauptung keinen Glauben schenken könnte, ja, wenn man sich dem ihr widersprechenden Gutachten der Sachverständigen anschließen wollte, mildernde Umstände müßte man trotzdem auf jeden Fall dem Angeklagten zubilligen. – Meine Herren Geschworenen! Es liegt mir fern, den Mord zu verherrlichen, wie mir dies der Herr Staatsanwalt untergeschoben hat. Nicht einmal verteidigen möchte ich eine solche Untat am eigenen Weibe, falls sie begangen worden wäre. ›Die Frau ist das heiligste Gut des Mannes‹, sagt das Alte Testament, und wer sich an ihr versündigt, der tut es an Gott.‹ Aber summum ius, summa iniuria‹ heißt es schon bei Cicero. Das höchste Recht kann zum höchsten Unrecht werden.

Darum, meine Herren Geschworenen, vertreten Sie hier nicht den Buchstaben des Gesetzes! Folgen Sie Ihrem männlichen Gefühl, das Mitleid haben wird mit dem verletzten Stolz eines Soldaten, eines einstigen Kameraden von Ihnen, der mit dem Eisernen Kreuz geschmückt aus dem Kriege heimgekehrt ist und nun bei der Frau, die er liebt, nicht nur kein Verständnis, nein, empörenden Hohn und Spott findet, der alles in ihm vergiften muß. Denn ›mehr als die Peitsche schmerzt der Hohn des eigenen Weibes‹, sagt schon ein altes deutsches Sprichwort. Einem solchen Manne keine mildernden Umstände zuzugestehen, das, meine Herren Geschworenen, das hieße ein hartes, ein unmenschliches Urteil sprechen, an dem keiner von Ihnen beteiligt sein möchte. Denn Sie haben nicht nur die Paragraphen des Strafgesetzbuches, Sie haben auch die Gebote der Menschlichkeit zu vertreten. Und Sie alle kennen das Wort des großen, – großen Dichters und werden danach Ihr Urteil zu sprechen wissen: ›Die ird'sche Macht kommt göttlicher am nächsten, wenn Gnade bei dem Rechte steht‹.«

Damit endete der Verteidiger seine Rede unter dem beifälligen Murmeln und Aufatmen der hinter den Schranken versammelten Menge. Er wischte sich mit einem seidenen Taschentuch ein paar Schweißtropfen von der Stirn und freute sich im stillen, daß er zum Schluß den Namen des großen Dichters »Shakespeare« aus einem sicheren Gefühl heraus verschwiegen hatte. Denn es war wohl nicht gerade geraten, einen Engländer öffentlich als Helfershelfer heranzuziehen. Vielleicht hätte das sogar seinen Triumph etwas beeinträchtigt, den er jetzt in vollen Atemzügen genoß, zumal er das prickelnde Gefühl dabei hatte, daß hinten unter den zahlreichen Zuhörern zum erstenmal seine Frau und sein Verhältnis zugegen waren, was natürlich nur die letztere mit Bestimmtheit wußte. Und beide würden mit ihrem verschiedenen Temperament ihm sicherlich nachher noch Näheres über den Eindruck seiner Rede im Publikum mitteilen können.

Die Geschworenen steckten zustimmend die Köpfe zusammen und tauschten ein paar anerkennende Bemerkungen über das warme, zu Herzen gehende Plädoyer. Der Vorsitzende, der zunächst über die ihm verstiegen und völlig unjuristisch vorkommende Zitatenwut des Verteidigers still in sich hineingelächelt hatte, begann sich über den billigen Erfolg dieses Salonredners, wie er unter den Richtern hieß, zu ärgern. In der Absicht, noch irgend etwas für sich selbst aus dieser Aufsehen erregenden Sache herauszuschlagen, wandte er sich, ehe sich die Geschworenen zur Beratung zurückzogen und damit seine eigene Rolle bis auf nebensächliche Kleinigkeiten ausgespielt war, nochmals an den Angeklagten. Er tat es mit allem ihm möglichen Nachdruck, indem er sich zum letztenmal mit der ganzen ihm verliehenen obrigkeitlichen Schwere auf die Seele des Angeklagten quetschte, als er ihn fragte: »Haben Sie selbst uns nichts mehr zu sagen, Angeklagter? Haben Sie nicht doch noch ein Geständnis abzulegen?«

Der Angeklagte hatte sich in seiner Bank erhoben. Sein Gesicht war während der Untersuchungshaft, die sich durch verschiedene auswärtige Zeugenvernehmungen in die Länge gezogen hatte, völlig von einem schwarzen Bart überwuchert. Er sah wieder ganz wie damals aus, da er gleich einem Träumenden aus den Schützengräben heimgekehrt war und sich nicht mehr an das helle, fahrplanmäßig geregelte Tagesleben gewöhnen konnte und ein Säufer und Nichtstuer geworden war, wie seine Frau ihn vor jedermann beschimpft hatte. Nur seine Augen rollten in dem vom Bart zugewachsenen Gesicht wie zwei unruhige Kugeln umher. Ein sonderbar stolzes Gefühl war bei der Rede seines Verteidigers über ihn gekommen. Er hörte sich und seine Tat derart beschönigt, daß es ihm fast wie ein edles Werk erschien, was er angerichtet hatte. Ein häßliches Zittern, das Zeichen der Ergebung, das jedem Geständnis vorauszugehen pflegt, überflog seinen Körper. Der Vorsitzende, der ihn scharf ins Auge gefaßt hatte, nahm es gierig auf. »Erleichtern Sie sich und Ihr Gewissen!« sprach er ihm mit einer sanften Eindringlichkeit zu. »Gestehen Sie, daß Sie Ihre Frau selbst getötet haben!«

Der Angeklagte begann hin und her zu wackeln. Und plötzlich durchfuhr es ihn wie ein Krampf. Er nickte nicht nur, er warf seinen wilden Kopf zur Bestätigung auf und nieder: »Ja! Ja! Ja!« Und dann keuchte er noch: »Warum hat man's denn gelernt! Wozu habt ihr es denn einem erst beigebracht?« Das Letzte stieß er fast drohend gegen den Vorsitzenden und die Plätze aus, auf denen die Geschworenen saßen, die ihn aburteilen sollten. Er sah aus wie ein Buschmann, der die Weißen anfletscht, die ihn ihre Sitten lehren wollen, nachdem sie ihn mit ihrem Feuerwasser trunken gemacht haben. Ein scheues, niedriges Lächeln huschte dabei um seine Mundspalte, die man kaum durch den Wald von Haaren in seinem Gesicht bemerkte, ein Lächeln, das jählings verschwand, als er die entsetzten Gesichter sah, die ihm nach diesen Worten von der Geschworenenbank entgegenstarrten. – Jetzt brach er zusammen, bohrte sein schwarzes Gesicht in seinen Arm und schluchzte, sich schüttelnd, über die Anklagebank gebeugt, über diesen Marterpfahl, an den wir unsere Mörder und Totschläger im Frieden binden.

Der Vorsitzende war am tiefsten verstimmt über diese letzte Bemerkung des Angeklagten, die einen gleich starken Eindruck wie auf die Geschworenen auch auf die Zuhörer gemacht hatte, die allesamt diesen nachträglichen Eingriff in das gespannte Gemüt des Angeklagten peinlich empfanden. Der Verteidiger unterstrich noch durch einige Bewegungen und Bemerkungen, die er wie in alten Bühnenstücken geschickt »beiseite« machte, die Unbehaglichkeit dieses späten Eingeständnisses, das dem Angeklagten erpreßt worden war. Drei Sekunden lang überlegte der Vorsitzende voll Ärger, ob er den Angeklagten wegen seiner überflüssigen und unangebrachten Worte zur Ordnung rufen und öffentlich für eine solche Ungehörigkeit zur Rechenschaft ziehen sollte. Doch es schien ihm ratsamer, den unangenehmen Auftritt nicht noch breiter zu treten und weiter vor dem erregten Publikum zu verhandeln. Nur in der Rechtsbelehrung, die er hinterher den Geschworenen gab, konnte er sich nicht enthalten, auf die schamlosen Worte des Angeklagten nach dem offenen Geständnis, das er ihm mühsam endlich abgerungen hätte, tadelnd hinzuweisen.

»Gewiß, meine Herren!« führte er aus, »Sie haben auch den Einwendungen einer erlaubten, nicht allzu sentimentalen Menschlichkeit bei Ihrer Urteilsfindung Raum zu geben. Aber die gute Wirkung, die der Angeklagte durch sein schließliches Geständnis auf uns alle gemacht hat, die hat er, das muß ich denn doch hier betonen, leider durch die unziemlichen Redereien, mit denen er es begleitete, völlig verdorben. Dadurch hat sich der Angeklagte vor uns als ein niedriger verworfener Verbrecher enthüllt, der die Grenzen zwischen dem erlaubten, dem gebotenen Töten des Soldaten draußen im Felde und den ruchlosen Mordanschlägen eines mitten im Frieden lebenden Staatsuntertanen verwischt hat. Mir fehlen die Worte, die scharf genug wären, eine solche Verwirrung in der menschlichen Seele zu geißeln. Aber ich würde es für eine der größten Gefahren für den sittlichen Fortbestand unseres geliebten Vaterlandes halten, wenn ein solcher alle Werte verwischender, verbrecherischer Geist jemals in unserem deutschen Volke Wurzel fassen könnte. Aus dieser ernsten Besorgnis um die künftige seelische Gesundheit unseres Volkes, eine Besorgnis, die Sie alle teilen werden, mußte ich Ihnen dieses sagen. Sie selbst, meine Herren, haben nunmehr nach Ihrem besten Wissen und Gewissen, unbeirrt durch alle Nebensächlichkeiten und Auswüchse, die dieser Prozeß wie jeder sogenannte Sensationsprozeß gezeitigt hat, das Urteil zu finden.«

Die Geschworenen bejahten die Schuldfrage, die nach dem Geständnis des Angeklagten nicht weiter zu erörtern war, und billigten ihm mildernde Umstände zu. Das Gericht verurteilte ihn demnach zu fünf Jahren Gefängnis. Acht hatte der Staatsanwalt beantragt. Bei der Festsetzung des Strafmaßes seien, wie der Vorsitzende kurz bemerkte, die früheren militärischen Verdienste des Angeklagten strafmindernd in Anrechnung gebracht worden. Der Verteidiger, der inzwischen mehrfach mit dem Angeklagten getuschelt hatte, erklärte, daß sein Klient auf das Rechtsmittel der Revision Verzicht leiste. Man sah, wie er dem Angeklagten noch einmal schnell die Hand drückte, hinter dem sich jetzt das eiserne Tor der Gerechtigkeit schloß. Dann hastete der Verteidiger von dannen, da er noch zehn kleinere Zivilsachen anstehen hatte, während sich der Vorsitzende und die Geschworenen an die Verhandlung eines neuen Falles machten.

Am Abend traf der Verteidiger sein Verhältnis in der Weinstube, in die sie meistens gingen, wenn er nicht zu ihr kam. Sie war sehr gut aufgelegt, weniger des gut verlaufenen Prozesses als der neuen Bluse wegen, die sie sich verabredungsgemäß hatte kaufen dürfen, wenn der Kerl nicht mehr als fünf Jahre bekam. Sie überschüttete ihren Freund mit Artigkeiten wegen seiner fabelhaften – das war damals das Modebeiwort – Verteidigungsrede. Nur meinte sie, ob er nicht von vornherein zu sehr nur auf mildernde Umstände plädiert und nicht dem Angeklagten hätte besser den Rücken stärken können, auf daß er nicht zu guter Letzt noch mit dem überflüssigen Geständnis herausgeplatzt wäre.

»Aber, Puzzi!« rief der Verteidiger ganz gekränkt in seiner Fachmannseitelkeit, »ihr Weiber seid doch allesamt nur Gefühlslogiker. Denk dir, das gleiche wie du hat mir soeben schon meine Frau erzählt! Vergeßt ihr denn ganz, daß nach dem Gutachten der Sachverständigen der Tatbestand des § 213 total erwiesen war. Der Kerl hatte seine Frau umgebrungen. Mit seinem lieblichen Bajonett. Glatter Totschlag! Da half ihm kein Gott gegen. Mehr als mildernde Umstände war nicht herauszufischen bei der Sache, das ist mir von vornherein klar wie Wurschtbrühe gewesen. Und daß er zum Schluß noch umgefallen ist, das hätte ihm nicht weiter geschadet. Geschadet hat ihm nur das dämliche Gerede, das er dabei machte. Von wegen, daß er das Morden und Totschlagen draußen als Soldat quasi studiert hätte und nun nicht mehr ganz davon lassen konnte. ›Warum hat man's denn gelernt? Wozu habt ihr es denn einem erst beigebracht?‹

Ich danke! Ein netter Zeitgenosse! Kennt keinen Unterschied zwischen Krieg und Frieden. Verheiratet wärst du auch nicht gern mit ihm gewesen. Siehst du! Na, prosit! Deine neue Bluse!«


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