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Die Pferde

Auf den Schneefeldern von Suwalki lernten die beiden Pferde einander kennen. An einem düstergelben Winternachmittag. Nach einem kurzen erbitterten Gefecht, von dem am andern Tag in dem deutschen Tagesbericht zu lesen war, daß es mit dem Abzug der völlig geschlagenen Russen geendet habe, während in dem russischen von ihm verkündet wurde, daß es zu einer schweren Niederlage für die Deutschen geworden sei. Unbekümmert darum, welche von den beiden amtlichen Meldnngen die richtigere war, fanden sich die zwei Pferde zusammen, das deutsche und das russische. Wie Liebende zueinander gezogen durch den Rest von Wärme, den sie in dieser Eiswüste verbreiteten. Zahllose kleine Schneeflocken wirbelten wie tausend und tausend Pünktchen um sie. Zuweilen blies ein schneidender Wind ein Loch in das ununterbrochene Gestöber. Auf dem Boden in ihrer Nähe lagen ein paar zusammengestürzte Wagen, zerfetzte Uniformen, zerbrochene oder verlorene Waffen, Kadaver von Menschen und Tieren, deren ausgelaufenes Blut schmutzige schwarze Flecken in die Schneedecke gerissen hatte, die rings alles weiß überhüllte.

In der Ferne heulte und brummte die Artillerie hüben und drüben. Wütend und fauchend wie zwei Raubtiere gegeneinander.

Von den beiden Pferden war das deutsche das bei weitem ältere. Es war ein Rotschimmel, eine schwere wackere westfälische Mutterstute, die von Rechts wegen nicht über Osnabrück hätte geschafft werden dürfen. Aber in diesem grauenvollen Kriege konnte man nicht einmal bei dem »Menschenmaterial« Schonung üben, geschweige denn bei den Tieren, die, wie jeder Gebildete weiß, weder Vernunft noch Seele haben. Und so hatte man die alte Stute vor einen Munitionswagen gespannt, den sie pflichtschuldigst wie ein alter, treuer Landsturmmann durch Schlamm und Schnee gezogen hatte, bis sie heute mittag vor Entkräftung zusammengebrochen war. Da weder ein Zureden in Güte, noch ein steigernd wiederholtes mit der Peitsche mehr bei ihr helfen wollte, hatte man sie abgehalftert und liegen lassen müssen, weil man sehr eilig war. Über eine Stunde hatte die Alte keuchend und ächzend im Schnee gelegen. Sie war wie eine Ruine mit ihren zerbrochenen Weichen anzuschauen, aus denen die Knochen so spitz hervorragten, daß man jeden Augenblick fürchten mußte, sie würden die welke Haut durchstoßen.

Da hatte sich das junge russische Pferdchen zu der Sterbenden gesellt, die sich bei seinem Nahen ein wenig aufgerichtet hatte, weil ihr die Kälte in den Leib hineinschnitt. Das Jungpferd war gleichfalls ein Weibchen, eine kleine braune Stute, die unten zwischen der Don- und Wolgamündung zu Hause war. Sie blutete stark am Halse und zog eine Blutspur wie eine rote Schnur im Schnee hinter sich her. Sie schnupperte zuerst ein wenig an der alten Westfälin herum, um sich zu überzeugen, ob sie noch lebte. Als sie dies festgestellt hatte, fing sie an wehmütig zu wiehern. Das war die Begrüßung. Dann stellte sie sich vor: »Ich bin weit her. Aus dem Kaukasus, weißt du. Ein freies Land. Wie im Himmel lebt dort unsereins. Nur die Kosaken sind wilde jähzornige Leute. Haben mich hierhergeschleppt. In diese Schneeeinöde. Fragten nicht, ob ich wollte oder nicht.

Und du, wo kommst du her? Bist eine Deutsche, nicht wahr? Sag': Ist das richtig, daß man in Deutschland uns die Haare am Schwanz abzählt? Und daß man uns dort mit Chlorkalk und Schwefelsäure wäscht? Und daß wir da nur Hobelspäne und Zeitungspapier zu fressen bekommen? Ich möcht' nicht dorthin kommen, wenn das wahr wäre. Sprich doch, Schwester! Schwesterchen!«

Die Alte sah die Kleine mit brechenden Augen an. Sie hätte gar nichts erwidert auf diese törichten kindlichen Fragen, wenn sie nicht durch die letzte zärtliche Anrede betroffen worden wäre. Sie ließ ihren welken runzeligen Hals hängen und beroch traurig den kalten Schnee, der über der harten duftlosen Erde lag. »Ich hab' Heimweh!« sagte sie plötzlich leise vor sich hin. Und der dünne rötlichgraue Haarschopf über ihrer Stirne bebte.

»Wie kann man Heimweh haben nach solch einem Land? Oder geht es gar nicht so schlimm dort zu, wie es die russischen Offiziere den Kosaken eingebläut haben?« fragte die kleine Stute weiter und wartete vergebens auf eine Antwort, die sie aufgeklärt hätte. Sie liebte zu plaudern wie alle Russen und ärgerte sich über das stumpfsinnige Schweigen ihrer Gefährtin, die in den Schnee stierte, als ob Wunder etwas in ihm zu sehen gewesen wäre. »Warum haben sie auch angefangen, diese Hundesöhne, deine verdammten Deutschen, und uns immerzu mit Krieg bedroht und dann auf einmal heimtückisch mitten im Frieden überfallen?«

Da fuhr die alte Stute auf, hob ihren Hals so hoch, wie sie noch konnte, und bullerte drauf los: »Wer hat angefangen? Niemand anders wie deine Russen und ihr niederträchtiger feiger verlogener Zar, der mehr Blut auf dem Gewissen hat als jemals ein Mensch vor ihm. Ihr wißt ja nichts von alle diesem dort drüben. Das russische Volk wird dumm gehalten wie die Schweine, um besser abgeschlachtet werden zu können. Nicht einmal lesen und schreiben können sie, deine Russen. Und die wollen behaupten, daß wir angefangen hätten. Diese Mordbrenner, die Ostpreußen verwüstet haben!«

Die alte Stute war in helle Entrüstung geraten über einen solchen Vorwurf, der nach ihrer Überzeugung die geschichtliche Wahrheit völlig entstellte. Sie pfiff und zischte noch eine ganze Reihe von Verwünschungen gegen diese Betrüger und Fälscher daher. Sie tat es in dem etwas lispelnden Münsteraner Dialekt, den sie seit früher Kindheit von den Weiden her gewöhnt war. Die kleine Stute aus der Gegend unten an der Wolga mußte lächeln über diesen jähen Ausbruch von Vaterlandsliebe bei ihrer alten vierbeinigen Schwester.

»Reg' dich doch nicht auf!« wieherte sie jetzt dazwischen. »Was brauchen wir uns zu zanken über die Lügen, die sie einander vormachen, die Menschen, damit jeder von ihnen im Recht ist? Wir wären Narren wie sie, wenn wir das täten.« Sie blickte voll Mitleid auf die Alte aus Westfalen herab, die wieder zusammengesunken war, und der vor Ermattung über diese letzte heftige innere Erregung die Haut am Leibe zitterte. »Haben dich tüchtig abgerackert, deine lieben Landsleute, deren du dich so annimmst, das muß man ihnen lassen! Kannst dich nicht mehr auf deinen Beinen halten, trotzdem sie keinen Riemen mehr auf dir liegen ließen, die sparsamen Brüder! Ganz nackt haben sie dich ausgezogen. Eine Schande, solch ein altes Pferd wie dich noch mit in den Krieg zu schleppen!«

Damit beugte sich die kleine Stute und rieb ihre warme Schnauze über die eingefallenen nackten Flanken ihrer bejahrten Freundin aus Westfalen voll Teilnahme hin und her. Die Alte ließ es sich ruhig gefallen. Sie starrte fast blind vor Erschöpfung vor sich hin ins Weite. Das kahle weiße Land, der graugelbe Himmel und das wirbelnde Schneegestöber malten sich in ihrem großen Augapfel wie ein Stück der Ewigkeit ab. Sie sagte nichts mehr zu den Anklagen der kleinen Russin gegen ihre deutschen Herren. Sie hatte nicht mehr die Kraft und vielleicht auch nicht mehr die Lust, zu widersprechen. Sie litt ihr Los mit der stummen demütigen Ergebenheit der vielen alten Leute, die in den Krieg hinausgetrieben wurden und ihn hinnahmen wie eine Naturnotwendigkeit, der sich keiner entziehen durfte noch konnte. Wenn ihr auch noch mehr aufgebürdet und zugemutet wäre, sie hätt' es geduldig getragen, bis sie darunter wie ein rechtschaffener Gaul in den Sielen zusammengebrochen wäre.

Die kleine Stute plauderte, um sie zu trösten, weiter: »Auch ich bin hart hergenommen worden, Schwester, das darfst du mir glauben. Kosak hat mich geritten, Kosak hat mich geschlagen, Kosak hat mich gekratzt. Kosak hat mich getreten, daß mir das Blut über die Beine gelaufen ist. Hier, an meinem Hals, siehst du, hat er mit seinem Peitschenstiel ein Loch hereingestoßen. Aus purem Übermut. ›Sei lustig, Pferdchen!‹ schrie er mir dabei ins Ohr, ›wir haben Krieg.‹ Erst als ich den Kopf hängen ließ vor Schwäche, hat er damit aufgehört. Hätte mich sonst noch zu Wurst zerhackt, der wüste Kerl.

Dabei war er feig wie ein Hase. Gleich warf er Säbel und Gewehr fort, schmiß mir die Zügel über den Hals und hielt die Hände hoch, als die Deutschen kamen. Nur an mir ließ er seine Wut wieder aus und trat mich unter den Bauch zum Abschied, daß ich Reißaus nahm vor Schmerzen und fortlief durch den Schnee, bis ich zu dir kam.«

Sie hörte plötzlich auf zu sprechen. Denn sie sah an dem erlöschenden Blick ihrer fremden Freundin, wie gleichgültig ihr alle diese Dinge sein mußten. Sie näherte ihren kleinen schlanken Kopf, den noch das Zaumzeug schmückte, dem Maul der alten Stute, um es noch einmal zu küssen, eh' es sich für immer schließen mußte. Und da vernahm sie den einzigen Seufzer, der wie ein leiser Vorwurf gegen ihre bisherigen Herren der greisen vierbeinigen Westfalin entfuhr: »Warum müssen die Menschen auch uns arme Kreaturen mit in ihr Gemetzel und Gejammer ziehen?« So etwa lautete dieser Stoßseufzer. Mehr gab sie nicht von sich, obwohl das kleine russische Pferdchen bei sich dachte: »Nun wird sie auch hübsch loslegen gegen ihre hündischen Tyrannen!« und schon begierig die Öhrchen spitzte auf das Geschimpfe, das die Alte über ihre menschlichen Peiniger erheben würde.

Aber die schwieg und gab keinen Ton der Erbitterung mehr von sich; um ihr bedrücktes frommes Gemüt zu erleichtern, hatte die sterbende Greisin dies herausgestoßen. Selbst im Tode, der sie von jeder Knechtschaft und allen Qualen befreite, dachte sie nicht im mindesten daran, sich gegen die Menschen und ihre Herrschaft, die sie sehend und blind anerkannte, aufzulehnen. »Sie hat ausgelitten!« dachte die junge Stute, weil sie keinen Laut mehr von ihr hörte. Und eine dicke Träne über den Tod der armen alten Schwester trat ihr ins Auge. Da hob das greise Pferd neben ihr, als ob sie dies gesehen, gerührt noch einmal ein ganz klein wenig das matte Haupt. »Es ist gleich vorüber, Schwester!« lallte sie. »Leg' dich auf mich, wenn ich gestorben bin, hörst du? Du tust mir nicht weh damit. Und es ist bitter kalt. Ich werde dir von meiner Wärme abgeben, solang ich noch etwas habe.«

Damit fiel ihr Kopf zur Seite, und sie ging aus der vorletzten Region vor dem Sterben, in der alle irdische Feindseligkeit verschwindet, in die letzte, in das ewige Schweigen, hinüber. Die Träne der jungen Stute fiel in den eisigen Schnee, der sich anschickte, eine weiße Decke über die runzelige Haut der toten Freundin zu hüllen, die ihn nun nicht mehr abschütteln konnte. Unaufhörlich wirbelnd wob er leise sein Leichenhemd um die Verstorbene, die mit dem edlen Anstand, mit dem die Pferde zu verenden pflegen, aus diesem Dasein geschieden war. Die Kleine war ein stolzes Tier, obgleich sie sich von den Kosaken schlecht behandeln und treten lassen mußte. Sie hatte die letzten Worte der greisen Schwester recht wohl verstanden. Aber sie wollte durchaus keinen Gebrauch von ihnen machen. Es widerstrebte ihr, diese Gabe einer Toten, das letzte Lebende, was jene noch hatte, die eigene Körperwärme, von ihr anzunehmen.

Sie hatte die beste Absicht, wegzulaufen und ein solches Anerbieten zu verschmähen. Aber da merkte sie, daß sie vor Kälte und Blutverlust und der Überanstrengung in den letzten Tagen nicht mehr die Kraft dazu hatte, sich fortzubewegen. Der Kerl, der Kosak, war mit ihr herumgaloppiert, als hätte er sie für den Teufel oder einen Großfürsten zureiten müssen. Sie war so schwach in den Gelenken und Fesseln, daß sie kaum mehr ihre Hufe, die an dem Boden festfroren, in die Höhe heben konnte. Eine unüberwindliche Mattigkeit, die durch den beständig herabrieselnden Schnee noch verstärkt wurde, zog sie mit magnetischer Macht zur Erde. Wie ein übermüdeter Soldat, der sich fallen läßt und einschläft, trotzdem er weiß, daß der Tod darauf steht, sank sie jetzt nieder. Gerad auf den Leib der toten Freundin, als hätte sie ihren Wunsch und Willen genau befolgen wollen. Ein süßes Gefühl des Erlöstseins kam über sie, wie sie die letzte Wärme der Greisin verspürte. »Liebe alte Kameradin!« dachte die kleine Stute und streckte ihre Beine, sich fest an den Leib der Freundin drückend, weit von sich. »Tust du mir noch im Tode wohl! Was konntest du dafür, daß du den deutschen Schuften dienen mußtest, diesen Wurstmachern, die den Affen erfunden haben, wie unser Sprichwort sagt!«

Sie kam langsam ins Träumen und ward aus diesem grauen nackten flachen Land, das der Schnee umstob und das nicht der Mühe wert war, daß ein räudiger Esel darum starb, in ihr Heimatland getragen. Sie wieherte über fette grüne Wiesen dahin und wühlte sich mit ihren kurzen, niemals stillen Lippen bis über die Nüstern tief in den feuchten duftigen Klee. Sie trabte im Abendrot zu dem breiten Strom, trank sich satt und betrachtete sich ihr Bild, das in braunen Farben auf dem Wasser zitterte, und kühlte ihre heiß gelaufenen kurzen Beine, die sie gleich vier festen Säulen trugen. Große Flöße trieben vorüber. Die Hunde bellten. Die Balalaika, die die Schiffer spielten, zirpten mit den Grillen um die Wette. Die Sterne traten wie die Wachtposten am Ufer langsam einer nach dem andern hervor, indes die Schneekuppen des Kaukasus finster wurden und einen kühlen Hauch in die schwüle Sommernacht herniedersandten.

Sind seltsam! Als nun der Vollmond in gelber Pracht über den Bergen aufblühte und wie eine Seerose am Himmel schwamm, da sah die kleine russische Stute, wie sie zu ihrer Hürde heimtrabte, daß sie in seinem Glanz einen ganz andern Schatten warf wie bisher. Einen viel größeren, schwereren, plumperen Schatten als sonst. Und plötzlich fiel ihr auf, daß dieser unförmige Schatten den ganzen Tag über statt des ihrigen zarten, leichteren neben ihr hergegangen war. Auf den Wiesen und an den Wassern des Stromes. Und sie merkte, daß es der Schatten des alten Pferdes war, auf dem sie lag.

Und jetzt brachen zwei Augen in diesem Schatten auf und sahen sie mit dem traurigen gebrochenen Ausdruck an, mit dem ihre sterbende deutsche Freundin sie angeblickt, als diese der Kleinen den letzten Rest ihrer Wärme vermacht hatte. Und nun hörte das russische Pferdchen im Träumen seine deutsche Freundin freudig wiehern und aus der Ferne sprechen: »Komm zu mir in den Himmel, Schwester! Wir sind lange genug in der Hölle bei den Menschen gewesen. Sind zerpeitscht, gestoßen, getreten, geritten, gequält und geschunden worden. Sind verwundet und zerschossen worden und betäubt von dem Heulen ihrer Kanonen, die wir ziehen mußten. Warum sollten wir kein Anrecht auf den Himmel haben, auf den sie immer hoffen, wir, die wir nicht den mindesten Anteil an ihren Greueltaten hatten? Sind wir nicht menschlicher, nicht warm- und barmherziger als jene Gleichgültigen?!«

Da neigte die junge Stute lächelnd ihren Hals auf den ihrer greisen Freundin zurück und erfror an ihrer Seite.


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