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Die Brieftaube

Zoé, die Brieftaube, war ein sehr wertvolles Tier. Und sie wußte das. Sie hatte schon mehrmals hohe Preise bekommen. Einmal sogar einen von 30 000 Francs. Als sie von Madrid nach Antwerpen geflogen war. Über 1500 Kilometer in nicht fünfzehn Stunden. Sie sah noch die Augen ihres Besitzers vor Freude rollen, als sie zitternd von der Anstrengung in ihren Heimatschlag zurückgekehrt war. Sie hörte noch die Leute in die Hände klatschen, als ihr Herr sie strahlend auf den Wettplatz getragen hatte.

Zuerst war Zoé erschrocken über dies schallende klatschende Geräusch, das vermischt mit den entzückten Ausrufen der sommerlich gekleideten Damen, die wie langgezogene »Ah! Ah!« durcheinanderschwirrten, ihr entgegenschallte, doch dann, als sie fühlte, daß man sie damit ehren wollte, daß sie noch mehr beachtet und bewundert wurde als die schönste der weißen und bunten Damen dort, war sie stolz geworden. Sie zog ihr zierliches Köpfchen hervor, das sie vor Erschöpfung von dem Flug mit ihrem kurzen schwachen Schnabel in ihr Gefieder gesteckt hatte, das regenbogenfarbig wie der Taft schillerte, mit dem jene Damen dort umhüllt waren. Ihre gewölbte Brust, die vom Fliegen ganz breit geworden war, atmete unter dem kleinen Kropfansatz, den sie hatte, der ihr aber sehr gut stand, heftig wie unser Herz bei einem großen wichtigen Empfang. Nun lüftete sie ein wenig ihre langen spitzen silberfahlen Flügel, blickte bewegt aus ihren perlgrauen Äuglein auf die Menschen, die ihretwegen hier versammelt waren, und nickte leutselig hin und her, als hätte sie sagen wollen: »Sehen Sie, meine Damen und Herren von Antwerpen! So sieht jemand aus, der heute morgen noch am Manzanares war.« Ihr kleines Herzchen tickte dabei vor Aufregung wie ein Sekundenzeiger in der Hand ihres Herrn, der sie leicht an einem ihrer Beinchen festhielt. Er selbst war nicht minder entzückt als sie, namentlich natürlich wegen der 30 000 Francs, die sie ihm erflogen hatte. Er streichelte ihre weichen Halsfedern unter ihrem Kröpfchen und die starken straffen Flügel, die sie an einem Tag über drei große Länder wieder bis zu ihm hergetragen hatten. Ja, als sie vor dem Preisrichterkollegium standen, hatte ihr Herr die kleine Zoé liebkosend an seine Backe gedrückt, sie zärtlich angesehen und sogar beschnuppert, wobei er hingerissen vor seinem Areopag die längst im stillen vorbereiteten Worte ausgestoßen hatte: »O, meine Herren, riechen Sie! Sie trägt noch einen Hauch von den Pyrenäen in ihren Flügeln!«

Seitdem war mehr als ein Jahr vergangen. Und Zoé hatte ein wenig auf ihrem Ruhm und ihrem großen Preis ausgeruht. Nur im Herbst danach hatten sie und ihr Herr sich noch einmal an einem kleineren Wettflug zwischen Paris und Antwerpen beteiligt. Aber da die Preise sehr niedrig waren, hatten sie sich keine rechte Mühe gegeben und diesmal mit dem zweiten Preis begnügt, wie ihr Herr witzelte, der sich vollkommen mit ihr gleichstellte. Für den nächsten Sommer war Zoé indessen schon wieder bei verschiedenen Wettflügen vorgemeldet. Jedoch kränkelte sie ein wenig in dem Winter, der diesen neuen Gelegenheiten, ihren Ruhm womöglich noch zu überfliegen, voranging. Und ihr Herr mußte seine kleine Königin der Luft, wie er sie gern nannte, zunächst etwas schonen.

Aber dann brach der Krieg aus, der allen diesen harmlosen kleinen Freuden und Vergnügungen ein krachendes Ende machte. Man überstürzte sich in allen Ländern, die von ihm betroffen wurden, so vaterlandsliebend, wie es nur anging, zu erscheinen. Es war wie ein Wettfliegen um den höchst möglichen Patriotismus. Besonders in der ersten Zeit. Auch Zoés Herr stellte gleich nach Kriegsanbruch sein teuerstes Eigentum, die zärtlich verehrte wertvolle Taube, seiner Regierung zu militärischen Zwecken zur Verfügung. Gleich nachdem er es in der ersten Wallung und im allgemeinen Feuereifer, sich für den Staat aufzuopfern, getan hatte, bereute er es schon wieder. Aber nun war es zu spät. Man erklärte ihm, daß man gern von seinem Angebot und der berühmten Flugtaube Gebrauch machen würde, wenn die Zeit dazu käme.

Und sie kam, schneller als man erwartet hatte. Und eines Tages wurde Zoé von einem Sergeanten abgeholt, um zu Nachrichtendiensten zwischen dem französischen Heer und den in Antwerpen liegenden belgischen Truppen verwendet zu werden. Ihrem Herrn war es jetzt fast gleichgültig, daß er sie verlor. Er hatte inzwischen wie die meisten seiner Landsleute über der immer drückenderen Einschließung der Stadt die Lust an der Taubenzucht verloren. Die Tierchen wurden ja doch von den hungrigen Deutschen, die keine Ahnung von ihrem Wert hatten, wie die Spatzen abgeknallt. Am besten war es noch, man fraß sie selber auf, eh' es die Feinde taten. Jedenfalls ging kein Mensch in Antwerpen mehr in den Verein der Taubenfreunde, der im vorigen Jahre noch mehr als 25 000 Tauben zum Rückflug hinausgesandt hatte. Auch Zoés Herr nicht. »Adieu!« sagte er kaltblütig, als man sie ihm wie eine lästige Geliebte wegnahm. Und Zoé, die an Zärtlichkeiten wie: » Ma mie! Ma mignonne! Mon tout-tout petit pigeon!« von ihm gewöhnt war, schämte sich fast vor dem Sergeanten, daß man sich so leichten Herzens von ihr trennte. Sie hielt ihr Köpfchen vor Verlegenheit über dies lieblose Benehmen ihres Herrn schief zur Seite und hätte es gern ganz in ihren weichen schillernden Brustfedern versteckt. Aber dazu war sie als Weibchen zu neugierig auf das Schicksal, das ihrer wartete.

Sie ward zunächst auf kurze Zeit an ihren neuen Schlag am Rathaus der Stadt gewöhnt, um dann in einem kleinen Körbchen aus Weidengeflecht, ähnlich dem, worin man das Kind Moses einst aussetzte, mit einem Begleitschreiben durch eine Kavalleriepatrouille nach Nordfrankreich gebracht zu werden. Es gelang ihrer Begleitung, durch die deutschen Streifscharen hindurchzukommen, die schon langsam bis nach Ostende vorstießen. Man empfing sie in Frankreich wie die meisten fremden Fürstinnen dort leidlich kühl. Man hatte dank dieser Sintflut von Deutschen, die sich gegen den Westen ergoß, genug mit dem Schutz des eigenen Landes zu tun, um sich noch viel um das in eine schlimme Patsche geratene Belgien und seine Bewohner kümmern zu können.

Auch war man heutzutage, wo man die Tiere und ihre Hilfe fast gänzlich durch Maschinerien, die zuverlässiger und schneller wirkten, ausgeschaltet hatte, kaum mehr auf den Brieftaubendienst angewiesen. Man hatte ja statt dessen die Flugzeuge zur Verfügung, ganz abgesehen von der elektrischen Funkenpost, mit der man von einer Anlage zur andern Zeichen geben und Nachrichten austauschen konnte. Immerhin, nun war Zoé einmal da, und man konnte versuchen, ihr gelegentlich eine Mitteilung für Antwerpen anzuvertrauen. So geschah es, daß man sie nach wenigen Tagen aus ihrem Körbchen hervorholte. Ein französischer Nachrichtenoffizier, der als ein leidenschaftlicher Taubenzüchter für diese himmlischen Tierchen begeistert war, befaßte sich so hingegeben mit ihr, daß Zoé sich wieder ihres Hochtages erinnerte, da sie 1500 Kilometer in nicht fünfzehn Stunden überflogen hatte und man sie wie die Beherrscherin der Lüfte, die Herrin des Himmels geehrt hatte. Der Offizier prüfte den Fußring aus Aluminium, der Zoé am dritten Tag nach ihrer Geburt wie eine leichte Fessel über ihre rötlichen Zehen gestreift worden war, damit sie oben in den Lüften nicht ganz auf die Erde vergesse. Dann legte er in die kleine Federspule, die an diesem Ring befestigt war, zusammengefaltete Depeschen, die trotz ihrer Winzigkeit 60 000 Worte umfaßten, in denen wichtige Mitteilungen für die Besatzung von Antwerpen enthalten waren. Und nun ergriff er Zoé zärtlich wie ihr einstiger Besitzer an ihrem Gefieder: »Laß dich nicht von diesen Deutschen herunterschießen, hörst du?« flüsterte er ihr in die Öhrchen, »du hast eine bedeutende Aufgabe zu erfüllen! Zeig', daß du ihr gewachsen bist!«

Er drückte sie noch einmal liebevoll mit seiner Hand, um ihr zu sagen, daß er wohl wußte, was ihr eifriges Kopfnicken, mit dem sie aufgeregt und voll Flugfieber seine Reden und Ratschläge begleitete, zu bedeuten hatte. »Wir verstehen uns, meine Kleine, nicht wahr?« redete er ihr noch einmal betulich zu, wie ein besorgter Vater seiner Tochter, die er in die Welt hinausschickt. »Lebewohl, mein Liebchen! Grüß mir Antwerpen!«

Er warf sie steil in die Luft, die Zoé brausend empfing. Denn es wehte ein heftiger Wind, und Zoé hatte ihn gegen sich, wie sie gleich in der Höhe mit einiger Enttäuschung feststellte. Sie fand sich sofort ohne Kompaß und Karte zurecht. Wenigstens in der Richtung, die sie einschlagen mußte. Sie hatte sich zur Freude des Offiziers, der ihr gespannt nachschaute, oben gleich nach Osten gewandt und flog nun pfeilgerade auf die Stadt ihrer Heimat zu. Es war schon ziemlich spät am Tage, weil der Offizier gefürchtet hatte, daß man sie bei größerer Helligkeit leichter abschießen könnte. Seiner Berechnung nach brauchte sie höchstens drei Stunden bis Antwerpen. Und so lange wurd' es nicht finster.

Aber er hatte nicht die unvorhergesehenen Zufälle, die von den Geschäftsleuten als Risiko in Anschlag gebracht werden, bei seiner Berechnung vorbedacht. Was Zoé schon ziemlich bald nach ihrem Abflug einigermaßen in Verwirrung brachte, das waren die ihr bisher fremden Schwingungen, die sie oben verspürte. Die ganze Luft war wie elektrisiert von den Wellen, die von einer Fernstelle zur andern gefunkt wurden. Es war, als ob sich die Gereiztheit, in der die Menschen dort unten während des Krieges lebten, auch den Lüften mitgeteilt hätte. Selbst das unberührte Reich des Lichtes und des Äthers war mitaufgewühlt durch die Schrecklichkeiten, welche die Menschheit gegeneinander verübte. Es zitterte und knisterte um Zoé, deren Flügel sich emsig schlagend gegen den Wind weiterarbeiteten. Dazu kam noch mehr sinnverwirrend das dröhnende Getöse der Geschütze, das von der in eine bisher nie gekannte Länge gezogenen Schlachtlinie die Luft erbeben und nicht zur Ruhe kommen ließ. Betäubt von diesem Lärm, der wie von einer Kesselschmiede oder einem Dock zu ihr klang, in dem alle, wahnsinnig von dem Spektakel geworden, durcheinander hämmern und hauen, flog Zoé weiter. Dieser Höllensabbat unter ihr, der selbst ihre mächtigen Schwestern, die Wolken, unruhig umherjagte, machte sie ganz zerstreut und verdreht. Sie verlor eine Zeitlang so weit ihren Ortssinn, daß sie eine beträchtliche Strecke zurückflog. Doch besann sie sich, nachdem sie mehr in die Höhe gestiegen war, eines Bessern und wandte sich wieder nach Osten zu. Sie jagte, da es indessen schon grauer und lichtloser um sie wurde, so schnell, wie sie konnte, der Heimat zu. Die Luft brauste ihr in Windstößen, die gegen Abend stärker und rauher wurden, entgegen. Sie glaubte bereits die Häusermasse von Brüssel mit dem mächtigen weißschimmernden Justizpalast in der Ferne zu sehen. Da nötigte sie das Herannahen eines großen Fischadlers, der wie ein schwarzer Punkt von der See heranstrich, einzuhalten und tiefer zu gehen. Aber es war gar kein Raubvogel, wie sie gefürchtet hatte. Wenigstens keiner, der auf sie Jagd macht, sondern nur einer, der Menschen nachstellte: ein Flieger, der von einer Fahrt, bei der ihm mehrere Greise und Kinder, ganz unkriegerische Leute, zum Opfer gefallen waren, schleunigst zu seinem Flugplatz heimkehrte.

Ärgerlich über diesen Aufschub stieg Zoé wieder in die Höhe. Aber nun, als sie sich Brüssel näherte, verwirrte sie die Stille, die über der Stadt war, wie sie vorhin der wüste Lärm der Schlachtlinien, die sie überflogen, außer sich gebracht hatte. Sie kannte diese Stadt von ihren Flügen nur als eine überlaute lebensvolle, deren heißer Atem sie kurz vor ihrer Heimkehr stets mit warmem Hauch berührt hatte. Und nun lag sie totenstill und kalt wie eine Leiche da, als sei der Herzog Alba mit seinen Henkern eingerückt.

Zoé verflog sich vor Erstaunen und Erschrecken über dieses unerwartete Schweigen der Riesenstadt noch einmal nach Süden, bis sie in ihrem Ortssinn merkte, daß sie sich hatte täuschen lassen, daß sie soeben auf der ganz richtigen Fährte nach Hause gewesen war. Es war bereits fast finster, als sie kehrtmachte und im sausenden Eilflug durch die schwärzliche Luft der Heimat zuschwirrte. In den Häusern und Straßen von Brüssel, die sie jetzt überstrich, zitterten die Lichter wie aufgehende Sterne. Und wie wir Menschen oft trostsuchend zum nächtlichen Firmament aufschauen, blickte jetzt Zoé zu den zahllosen flimmernden Pünktchen unter ihr.

Aber sie mußte weiter. Sie durfte sich nicht lange in diese Lichter versenken. Sie war, um sich in der Dunkelheit zurechtzufinden, tiefer hinabgestiegen und hastete jetzt über die letzten Häuser von Brüssel auf Antwerpen zu.

In einer guten halben Stunde, grade vor völligem Einbruch der Nacht, konnte sie dort sein. Sie steuerte über die grauen Felder und Wiesen in schnurgerader Richtung auf ihre Heimatstadt zu. Ein fast noch fürchterlicheres Getöse, als sie es über der französischen Schlachtlinie vernommen hatte, schlug ihr entgegen. Vermischt mit einem häßlichen Dunst aus Pulverrauch, Schwefel, Salpeter und andern giftigen Gasen, der sich wie eine schwer durchdringliche Wand auf ihre starke tapfere Brust legte. Um ihm zu entgehen, schwang sie sich mehr in die Höhe. Aber die Undurchsichtigkeit der düstern Luft zwang sie sogleich wieder tiefer zu gehen.

»Vorwärts! Vorwärts!« hieß es für Zoé wie für einen Menschen, den man vor eine Pflicht gespannt hat. »Du hast eine bedeutende Aufgabe zu erfüllen. Zeig', daß du ihr gewachsen bist!« Diese letzten Worte, die man ihr vorgeredet hatte, trieben sie gegen den Lärm und Gestank der Hölle unter ihr weiter. Immer lauter wurde das Konzert der Kanonen, in dem das ununterbrochene helle Gehämmer der Maschinengewehre den Diskant klopfte. Und immer drückender wurde der Brodem, der aus diesem Hexenkessel, in dem Wut und Haß und Blutdurst von allen Seiten herumrührten, zum Himmel stieg. Zoé zögerte, ganz verstört von diesem grauenvollen Tohuwabohu, ob sie weiterfliegen oder zurückkehren sollte. Doch es war viel zu spät, um den Rückweg zu finden. Darum nur weiter, weiter! Ob man sich tausendmal sagt: »Es geht nicht mehr!«, es geht doch, wenn man muß, wenn einem nichts anderes übrigbleibt als weiterleiden oder sterben. Sie flog über die dünne Linie der Deutschen dahin, die sich in ihren Schützengräben an die Stadt heranwühlten. Ein paar Flintenkugeln pfiffen durch das Abendgrau an ihr vorüber. Was sie sonst zu Tod erschreckt hätte, das beachtete sie nun kaum in der jagenden Gier, vor der Nacht ihr Ziel zu erreichen. Sie hastete weiter in dem Heulen der Geschütze, von dem die Luft erzitterte. Fast unerträglich ward dieses eiserne Duett der Kanonen. Jetzt näherte sie sich dem feurigen Ring, der um die belagerte Stadt lief, den in Brand oder Schutt geschossenen Häusern oder Meilern, die in dem äußersten Festungsgürtel standen. Wenn sie über diesen gekommen war, so hatte sie nicht mehr viel zu fürchten. So war das Schlimmste überflogen.

Unter ihr schlugen fortwährend die Granaten in den Boden oder in die Gebäude, die dann wie von einem bösen Zauberstab berührt zusammenstürzten. Schon sah Zoé den hohen gotischen Turm der Kathedrale wie einen blühenden Lilienstengel zum Himmel ragen. Schon glaubte sie sich hinter den Kreis gekommen, der wie eine letzte glühende Zone zwischen ihr und der Heimat lag. Mochte dann immerhin einer der Ihrigen sie mit dem Gewehr herunterholen, wenn sie vor Erschöpfung ganz niedrig fliegen mußte, übermächtig angezogen von dem Magnetismus der Erde, dem nichts Sterbliches widerstehen kann. Ihre große Aufgabe war dann erfüllt, ihr Ziel war dann erflogen.

Da geriet Zoé unversehens noch in einen Schrapnellkugelregen, den die Deutschen als letzten Gruß vor der Nacht der heiß umworbenen Stadt zusandten. Rings um Zoé platzten die Geschosse, die wie Raketen einen tödlichen bleiernen Regen auf die Erde streuten. Und obwohl sie wunderbarerweise selbst nicht verletzt wurde, geriet sie doch von dem wüsten Geknatter und den Geschossen, die von den in einem leichten weißen Wölkchen zerspringenden Kartätschen in einer breiten Garbe herunterprasselten, in einen solchen Aufruhr, daß sich ihre Sinne jetzt vollkommen verwirrten. Statt vorwärts zu jagen, wo sie mit wenigen Flügelschlägen die Ihrigen erreicht hätte, schwirrte sie toll vor Aufregung und Angst wieder zurück.

Es war jetzt ganz finster geworden. An dem schwarzen Himmel malten sich die zahlreichen Feuerbrände mit flackernden roten Zungen ab. Dazwischen glühten gleich langen Sternschnuppen die Geschoßspuren und die bunten Lichtsignale, die von beiden Seiten mit Raketen oder aufleuchtenden Kugeln abgegeben wurden. Und die mächtigen Scheinwerfer der Stadt suchten mit ihren weißen Streifen, bald schnell, bald langsam herumkreisend, das Himmelsgewölbe nach feindlichen Luftschiffen ab.

Zwischen diesem zauberhaften Durcheinander des Lichtes, das nun auch in der Nacht zum Krieg benutzt und aufgehetzt wurde, jagte die kleine Brieftaube Zoé verstört wie der Geist des Friedens hin und her. Geblendet von dieser nächtlichen satanischen Feerie zu Ehren des Schlachtengotts, die sie noch mehr betäubte als der Lärm, wußte sie nicht, wohin sie zunächst fliegen sollte: in den Lichtkegel der Scheinwerfer, die sich wie riesige Mühlenräder drehten, oder in die Rotglut der aufflackernden Häuser und Gehöfte, deren Hitze ihre Flügelchen versengte. Sie taumelte betrunken von der Fülle des Lichtes wie eine Motte bald hierhin, bald dorthin. Und plötzlich kam mit der Verwirrung ihrer Besinnung ein unendlich gesteigertes freudiges Gefühl des Glückes, der Freiheit und Pflichtlosigkeit über sie. Der selige Kriegswahnsinn, der manchen Soldaten packt im überströmenden Lustempfinden, daß er noch lebt inmitten der tausend Leichen, die um ihn stürzen, der ergriff auch die arme kleine Taube Zoé. Was war ihr noch die Aufgabe, die man ihr anvertraut, was das Ziel, das sie erreichen sollte! Berauscht von der Vernichtungsraserei um sie, schwebte sie, gleichgültig gegen Freund und Feind geworden, über den Schlachten hin und her. Was galt ihr noch das Gemetzel um diese paar kleinen Hufen Landes, ihr, die von Madrid nach Antwerpen in fünfzehn Stunden geflogen war! Sie wiegte sich in der Seligkeit der Lüfte ohne ein Ziel und richtungslos wie ein Dichter über den Wölkchen und weidete sich, jeden Zweck, jede Furcht vergessend, an dem Märchen der Wirklichkeit unter ihr. Es schien ihr nur ein kleiner Gedanke zu sein, dem sie bisher gedient und der sie an ihre Aufgabe gefesselt hatte. Sie streifte ihn von sich und schaukelte über dem bunten chaotischen unfaßlichen Wirrwarr der Lichter und Zeichen, die sich in dem weiten überschwemmten Gelände vor der Stadt doppelt groß und grausig widerspiegelten. Sie verstand nichts mehr von der Welt und gab sich himmelhochjauchzend dem Genuß der Flammenschrift hin, die hier an das Firmament vor der Riesenstadt geschrieben wurde.

Überwältigt von diesem Anblick, konnte sie schließlich nur mehr ganz niedrig und langsam fliegen. Sie fühlte, wie ihre Kräfte immer schwächer wurden. Ihre von der Hitze trocknen Flügelchen wußten sie kaum noch zu tragen. Wie eine ermattete Mänade flog sie jetzt den Flammen der brennenden Häuser zu, die im Feuergürtel der Stadt standen und die ganze Gegend rings taghell erleuchteten. Aber die Glut, die der Wind ihr zuwehte, der die Funken aus den Dachsparren blies, trieb sie zurück.

Wie ein welkes Blatt, das seinen Stamm verloren hat, taumelte sie an die Erde nieder.

Aber als sie den Boden berührte, als ihre vom Feuer angesengten Flügel das feuchte Gras streiften, da erwachte sogleich wieder in Zoé der quälende Gedanke an ihre bedeutende Aufgabe. Die Erde gab ihr das Pflichtgefühl, das gräßliche, wieder, das sie oben in den Sphären vergessen hatte. »Du wirst den Auftrag, mit dem man dich geehrt hatte, nicht erfüllen! Du wirst dein Ziel nicht erreichen!« sprach es in ihr mit dem Rest von Besinnung, der sie auf ihren Posten zurückzog. Die wichtige Botschaft, die man ihr anvertraute, würde jetzt dem Feind in die Hände fallen. Wie ein sterbender Soldat im Spital, der aufsteht und aufspringen muß, weil ihm einfällt, daß er seinen Befehl noch nicht ausgeführt hat, so erhob sich jetzt Zoé angesichts des Todes. Noch einmal schwirrte sie empor, wenn es auch nicht höher war als wie ein Sperling, ein gemeiner, sich über den Boden erheben kann. »Du mußt deine Aufgabe erfüllen! Zeig', daß du ihr gewachsen bist!« keuchte sie und hob noch ein letztes Mal ihre stolze Brust, die einst Zeit und Raum überwunden hatte. Los! Los! heulte ihr die Pflicht, diese Erzfeindin und Vernichterin des Ichs, in die Ohren. Aber es ging nicht mehr. Sie konnte den Bogen nicht mehr spannen, der sie an ihr Ziel geschnellt hätte. Da drückte sie die todmüden Flügel ein und schoß, um nicht vom Feind gefangen zu werden, wie ein Pfeil in die rote Lohe der brennenden Häuser, die sie verschlang. Gleich einer indischen Witwe, die nicht mehr leben will ohne die Liebe und ihre Pflichten, stürzte sie sich in ihr Flammengrab. Im Aschenregen ihrer Federn, die um sie stäubten und wirbelten, starb Zoé, erlöst von der großen Aufgabe und von dem Patriotismus, mit dem man selbst das winzige Seelchen, das weiße Gefieder dieses Friedensengels belastet hatte.


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