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Der Schlappschwanz

(Aus dem Tagebuch eines Friedensfreundes.)

Ich war zum Landsturm einberufen worden in diesem aus der Hölle gestiegenen Jahr 1914, in dem die lange schlummernde allgemeine Geisteskrankheit des zivilisierten Europas, die sich in den wetteifernden Kriegsrüstungen der letzten Jahre drohend angekündigt hatte, zur offenen Tobsucht ausartete. Da ich ein schlechtes Herz und sehr schwache Augen hatte und zu den älteren Jahrgängen gehörte, sah man vorläufig davon ab, mich noch mit der Waffe auszubilden. Man erklärte mich für dauernd garnisondienstfähig und steckte mich, um mich der Allgemeinheit nutzbar zu machen, in die Schreiberei des Bezirkskommandos.

Das ist eine furchtbar langweilige Beschäftigung, bei der man, wenn auch nicht sein Leben, so doch auf die Dauer seinen Verstand riskiert. Man sitzt in einem kahlen, verstaubten, häßlichen Raum, dessen einziger Schmuck ein billiges Kaiserbild und ein paar noch billigere Kriegslandkarten sind, und muß da fortwährend Namen, Namen, Namen und Zahlen, Zahlen, Zahlen von einem Register in das andere schreiben. Eine unheimliche Arbeit, wie man sieht. Ich lag ihr ob, so gut ich es konnte, und fühlte mich fürchterlich unglücklich dabei. Das tat ja freilich wohl ein jeder während dieses entsetzlichen Krieges, um dessentwillen allein schon ich lieber ungeboren geblieben wäre. Wenngleich es manche gab, die es durchaus nicht wahr haben wollten.

So zum Beispiel mein – ja, ich muß ihn so nennen – mein Kollege auf der Schreibstube. Es war ein älterer pensionierter Amtsrichter, der dem Staat freiwillig seine Dienste angeboten hatte. Er war Vizefeldwebel, über fünfzig Jahre alt und sah noch dreimal so schlecht wie ich. Und weil man ihn schwerlich zu etwas anderem hätte brauchen können, so hatte man ihn wie mich in diese papierene graue Stube verbannt. »Verbannt« war freilich nicht das richtige Wort für ihn, denn er kam sich hier äußerst wohl und wichtig vor. »Man hat doch wenigstens den Krieg in der Nase!« pflegte er zu sagen. Und ordentlich wollüstig sog er dann den Schweiß- und Ledergeruch der Mannschaften ein, die unter uns im Kasernenhof einexerziert wurden, wie unsereins gern seine Nase in einen Fliederbusch oder in das duftende Haar einer Frau oder seines Kindes taucht. »Man ist doch mit dabei, so gut wie es eben noch geht, Kollege!« wiederholte er dann zu seiner Bekräftigung. »Kollege« nannte er mich wohlwollend, seitdem er gehört hatte, daß ich früher einmal Jurist gewesen war und die niedern Weihen dieses irdischen Berufs empfangen hatte. »Schade, Kollege, ewig schade, daß wir nicht auf offnem Felde mit dem Schwert in der Hand unsern Mann stehen können, nicht wahr? Drauf und dran gegen die Franzosen, Russen, Belgier und Engländer.«

»Wie wollten wir sie verdreschen, was, Kollege!« Ich war charakterlos genug, zu solchen und ähnlichen Ausbrüchen seines Patriotismus oder Blutdurstes, in denen er sich nie genug entladen konnte, mit dem Kopf zu nicken und zuweilen sogar mit einem »Ja!« oder »Es mag sein!« zuzustimmen. »Was willst Du Dir Dein Maul verbrennen!« dachte ich mir dabei, »und es mit einem solchen Eisenfresser verderben? Solch ein rabiater Kerl ist womöglich imstande, Dich anzuzeigen und unters Fußvolk zu bringen, wenn Du hier in der Kaserne öffentlich die Friedensfahne hinaushängen würdest!« Wir waren ja alle damals feige und gesinnungschwach von oben bis unten, wir Friedensfreunde, und zogen unsere weiße Fahne so plötzlich und völlig zurück, daß sie keinem Unteroffizier mehr unter die Augen kam. Wir duckten uns unter und ließen das Gewitter vorübergehen, sofern wir nicht gar mit den andern den Kopf verloren und ganz verdreht und verblendet in den Hagel und die Blitze mitliefen.

Aber einer war da, der setzte sich und sein Leben für seine Friedensüberzeugung ein. Und das Andenken an dieses reinste Opfer des Krieges, dessen kein Regiment, kein Reichsanzeiger und kein Militärblättchen gedacht hat, noch je denken wird, will ich zu retten versuchen. Er wurde eines Morgens in die Kaserne eingebracht. Der Gendarm hatte ihn geholt, da er dem Stellungsbefehl nicht nachgekommen war. Es war ein bleicher, langer, linkischer Mensch, mit einer Brille auf der Nase und einem wirren, dünnen Bart um sein Kinn, einem Bart, in dem, wie man zu sagen pflegt, die Motten gewesen waren. Zwei farblose, weiche Augen sahen einen aus ihm mit tiefem Mitgefühl mit jedem Lebenden an. Ich konnte mir in seinen schlaff herunterhängenden Armen ein Gewehr ebensowenig vorstellen wie einen Strauß von Rosen oder einen Band von Sonetten in der Hand meines Amtsrichters. Der machte sich eine besondere Wonne daraus, diesen pflichtvergessenen Menschen zu vernehmen. Das sah ich ihm an den Backen an, die er dick aufzublasen beliebte, wenn ihm etwas große Freude machte, wie z. B. die Verluste der Feinde. »100 Belgier füsiliert! Prächtig! Was! 10 000 Franzosen zusammengeschossen. Herrlich, Kollege, nicht wahr!« »Knack! Knack!« setzte er dann gern hinzu, das Krachen der Salven tonnachahmend, und blies seine Backen dabei auf wie ein Trompeter, der noch neue Würger herbeiposaunen will.

So sah er jetzt auch meinen Helden an, der verlegen und demütig vor ihm stand und sich den aufgequollenen Mann hinter dem Schreibtisch sanft verwundert, wie ein Kohlweißling einen Ochsenfrosch von der Seite betrachtete. Nach dieser kurzen Beaugenscheinigung brüllte mein Amtsrichter los: »Warum kommen Sie nicht zur rechten Zeit? Weshalb muß man Sie mit der Schutzmannschaft heranholen lassen?«

Und nun kam eine Stimme aus diesem Mann geflogen, deren Ton ich nie vergessen werde, eine ganz merkwürdig schöne Stimme. Sie setzte leise und unsicher ein, wurde dann aber fest und klar und gab jedes Wort mit Bedeutung wie große Münze aus. Wenn sie jedoch absetzte, so schwang sie lange nach auf der tiefen Resonanz eines Menschen, der nur sprach, wie er fühlte:

»Ich bin Pazifist!«

»Ach was! Unfug! Ein Drückeberger sind Sie, ein ganz gewöhnlicher Drückeberger. Wissen Sie, daß ich Sie einsperren lassen könnte, daß ich zwei Jahre Festung für Sie beantragen kann?«

»Ich bitte darum. In zwei Jahren wird dieses unselige Schlachten ja wohl hoffentlich zu Ende sein.« Es entstand eine kleine Pause, ähnlich der vor einer allgemeinen großen Artilleriekanonade, Augenblicke, die mir Mitkämpfer als die grauenvollsten im ganzen Kriege beschrieben haben. Dann eröffnete mein Amtsrichter sein volles Feuer, nachdem er sich noch ein paarmal aufgeblasen und Luft eingepumpt hatte:

»Was fällt Ihnen ein! Wissen Sie, daß Sie schon unter den Kriegsgesetzen stehen, daß ich Sie sofort erschießen lassen kann, wenn Sie noch einmal eine ähnliche hochverräterische Bemerkung fallen lassen? An die Mauer werd' ich Sie stellen unten im Kasernenhof, wenn Sie sich unterstehen sollten, etwas derartiges zu wiederholen.«

Der arme Mensch ihm gegenüber war noch bleicher geworden. Und seine letzte Farbe schien in den wütenden Mann überzugehen, der ihn da anschnauzte und rot wurde wie rohes Rindfleisch. Die erste Hauptkanonade war vorbei. Und wie eine verspätete und verirrte Granate warf der Amtsrichter noch die patzige Frage auf sein Opfer, die eigentlich gar keinen Bezug und keine Bedeutung mehr hatte: »Warum tragen Sie keinen Kragen, wenn Sie sich melden?«

Der blasse Zwangssoldat kam fast ins Lächeln über die so unvermutete unwichtige Frage. »Weil« – er drehte dabei nervös an der Schnur herum, die sein baumwollenes Hemd vorn schloß – »weil ich keinen Druck am Halse vertragen kann.« Dann fügte er, offenbar kühner geworden durch den Klang seiner eigenen Stimme, hinzu: »Darf ich vielleicht noch eine Bitte vortragen?«

Der Kriegsmensch besah sich das Jammergewächs, das dieser Kerl da vor ihm war, blies sich, um ihm seine ganze Minderwertigkeit deutlich zu machen, dick auf und knurrte: »Schießen Sie los!«

»Ich möchte Sie bitten, daß Sie mich, ehe Sie mich als Soldaten einkleiden und mir ein Gewehr in die Hand geben, unten an der Mauer, wie Sie soeben sagten, töten lassen wollten!«

Wieder wurde es ganz still, als seine schöne Stimme absetzte und in meinen Ohren und meinem Herzen nachzitterte. Sein Gegner mußte sich eine Weile besinnen über diesen ganz unerhörten, unerwarteten Rückzug. Aber schon drehte er das Geschütz, das man ihm freiwillig überlassen hatte, herum und feuerte es brutal auf den Feind zurück: »Das könnte Ihnen passen, Sie Memme, sich kampflos umknallen zu lassen wie ein Bählamm! Aber wir werden Sie schon zwiebeln. Sie sollen auf den richtigen Geschmack kommen, das versichre ich Ihnen. Wenn Sie erst einmal vierzehn Tage Kommißbrot gegessen und mit den andern dort unten herumgesprungen haben, wollen wir uns wieder sprechen.«

»Niemals!« versuchte der andere zu sagen. Aber er wurde überdonnert wie eine Kompanie von einem Armeekorps: »Schweigen Sie! So viel Vertrauen hege ich denn doch noch in Ihre Mannheit, daß Sie nicht unverbesserlich sind. Wenn Sie erst einmal herausgekommen sind aus Ihrer weichlichen Stubenluft in rechten Drill und rechte Zucht, was, Kollege?«

Damit holte er mich als Blutzeugen für seinen Glauben heran. Aber ich schämte mich, ihm diesmal zuzustimmen. Ich beugte mich über irgendein Register, das vor mir lag, und tat, als ob ich etwas viel Wichtigeres zu schreiben hätte, und als ob mich der Fall, der da vor sich ging, gar nicht näher berührte.

»Was sind Sie in Ihrem Privatleben denn eigentlich?« hörte ich meinen Amtsrichter weiter fragen, und hatte in meinem Schweigen das beschämende Gefühl eines Menschen dabei, der seine Zugehörigkeit zu einer guten Sache verleugnet.

»Philosoph!« war die Antwort, die ein knallendes Gelächter bei seinem Peiniger erregte.

»Ein netter Philosoph! Trinkt, ißt und kleidet sich von dem, was die Menschheit ihm darreicht, und will sich der allereinfachsten, allerersten Pflicht gegen sie, der allgemeinen Wehrpflicht, entziehen!«

»Ich erkenne diese Pflicht nicht an! Sie geht gegen mein Innerstes, meine sittliche Freiheit!«

Ich schrak zusammen, weil ich dachte, ich selber hätte dies gesagt. Und ich bückte und vergrub mich beinahe in die vor mir liegenden Papiere.

»So? Sie erkennen sie nicht an! Sie erkennen wohl nur die Pflichten an, die Ihnen passen, und suchen sich die für Sie bequemsten und angenehmsten heraus? Man wird Ihnen etwas pfeifen. Für Sie wird keine Extrawurst gebraten, weil Sie Philosoph sind. Philosoph? Das ist dasselbe wie Pazifist. Hinter diesen Fremdwörtern verbirgt sich nur immer der eine gleiche Begriff, den wir auf gut Deutsch ›Drückeberger‹ nennen. Im Frieden können Sie Philosoph sein, soviel wie Sie wollen. Aber im Kriegsfall sind Sie zunächst Staatsuntertan.«

»Das bin ich im Frieden auch.«

»Ach was! Unsinn! Im Frieden sind Sie bloß ein Mensch. Jetzt haben Sie Soldat zu sein, verstehen Sie mich?«

Der Philosoph verstand ihn durchaus nicht. Er wagte aber nicht zu widersprechen, sondern schüttelte nur traurig wie eine Blume im Wind seinen Kopf hin und her. Aber der andere geriet immer mehr in den überlegenen Kasernenhofton, der durch keinen Widerstand irre gemacht wird. »Seien Sie kein Jammerlappen!« wetterte er weiter. »Sie wollen ein Philosoph sein? Ich danke. Ihnen fehlt ja jeder Sinn und jedes Gefühl für Verantwortlichkeit, Sie Wolkenkuckucksheimer! Zeigen Sie sich endlich einmal dankbar für den Schutz und die tausendfachen Dienste, die Ihnen der Staat jahrelang gewährt hat!«

»Ich habe dem Staat dafür gedankt, so gut wie ich es vermochte«, gab der Philosoph zur Antwort. »Ich habe den Geist meines Vaterlandes gefördert und meinem Volk gedient in den Tiefen der Wissenschaft und Kunst, in denen ich mich zu Hause fühlte.«

»Blödsinn,« ward er unterbrochen, »Sie leben nicht bloß mit Ihrem Spiritus allein und nicht auf einer Insel, wo Ihnen die Kokosnüsse in den Schoß fallen und die Lamas aus der Hand fressen! Sie müssen dem Staat die Dienste leisten, die er von Ihnen verlangt.«

»Auch habe ich immer pünktlich meine Steuern an den Staat gezahlt«, wagte der Philosoph in die Pause einzuwerfen, die der andere machte, um sich von neuem aufzublasen. Aber es klang schüchtern und verzweiflungsvoll, wie wenn einer die letzte Patrone ins Leere abschießt, weil sie einmal noch in der Flinte sitzt. Er wurde auch nicht schlecht dafür abgeschlagen. Denn nun ging's los: »Ihre lumpigen Steuern, mit denen Sie sich noch dicktun wollen, sind einen Dreck wert! Jetzt heißt es, mit seinem Herzblut eintreten und sein Alles einsetzen für sein Vaterland: Schämen Sie sich nicht vor Ihren Volksgenossen, Ihren künftigen Kameraden, die draußen für uns ihr Teuerstes, ihr Leben, verspritzen?«

»Ich will diese Opfer nicht. Ich hab' sie nie gefordert. Es ist mir der schmerzlichste, peinlichste Gedanke, daß man für mich blutige Opfer darbringt. Ich nehme sie nicht an. Ich will mich nicht mit dieser Schuld belasten lassen!«

»Sie müssen wollen, Sie Ideologe Sie! Kommen Sie endlich aus Ihrem geistigen Nebel, den Sie sich vormachen, auf unsere rauhe Erde zurück. ›Denn hart im Raume stoßen sich die Sachen‹, sagt unser Schiller.

Ihre paar Kröten können wir nicht mehr gebrauchen. Ihren Leib, Ihre Seele müssen Sie jetzt dem Lande opfern, dem Sie Ihre Sprache, Ihre Erziehung und Ihre ganze verfluchte Philosophie zu verdanken haben. ›Ans Vaterland, ans teure, schließ dich an! Und nichtswürdig ist die Nation, die nicht ihr alles freudig setzt an ihre Ehre‹, alles steht schon bei Schiller.«

Er feuerte noch einige andere Zitate gegen ihn ab, die offenbar sämtlich an dem Kopf seines Gegners abzuprallen schienen, wie ich an dem wehmütigen Lächeln merkte, das um seinen Mund zitterte. Ich weiß nicht, ob mein Amtsrichter diesen letzten Widerstand seines Opfers auch wahrgenommen hatte, jedenfalls sprang er plötzlich hoch, als hätte er noch etwas vergessen, ein ganz schweres Geschütz, mit dem er seinen Gegner unbedingt völlig bis auf das letzte Atom vernichten würde. »Einen Augenblick, Kollege! Passen Sie auf den Mann hier auf!« schrie er mir zu. »Warten Sie! Warten Sie!« herrschte er den andern an. Und damit lief er hinaus. Ich war mit dem Philosophen allein in der Stube, die plötzlich ganz still wurde wie ein Grab. »Nehmen Sie Platz!« sagte ich endlich und wies auf einen leeren Stuhl, der nüchtern an der grauen Wand stand. Aber der Mensch, der da auf ein paar Minuten mit mir allein in der Welt war, nahm mir mit einem Ruck die Maske ab.

»Es hat keinen Zweck mehr!« sagte er leise, »bemühen Sie sich nicht um mich! Ich bin erledigt. Ich muß wieder zur Masse und zur Materie werden.«

Ich wollte etwas sagen, um ihm zu zeigen, daß ich seine Sprache verstände. Aber er unterbrach mich mit gütigem, sanftem Ton: »Sagen Sie nichts! Ich erkannte Sie sofort, als ich eintrat. Sie haben nicht das Blutkreuz auf der Stirne wie die andern alle, die privilegierten Mörder, zu denen die Menschen über Nacht geworden sind, ich sah das gleich. Aber Sie müssen sich still halten, hören Sie! Sie sind ja noch nicht in die Maschine geraten! Sie haben ja das Glück, kein Leibeigner zu sein. Warum wollen Sie es aufs Spiel setzen? Es schadet Ihnen und nützt uns nichts. Sie würden erdrückt werden von der Masse wie ich jetzt.«

»Lieber Märtyrer als Feigling!« brüstete ich mich vor ihm. Da kam er auf mich zu, gab mir seine Hand, die ganz feucht und heiß war, und sagte lächelnd:

»Seien Sie ein Feigling, ein Feigling wie Galilei, der große Widerrufer, ich bitte Sie innig darum. And bleiben Sie es! Dieser Blutstrom wird vorüberfließen. Und wenn ich auch nicht mehr an die Möglichkeit glaube, die Menschheit zum Frieden zu erziehen, völlig betäubt von der Bestialität, die sie heute zeigt, so hoffe ich doch schließlich noch auf die Daseinsliebe der Menschen, die sie wieder dazu bringen wird, die tödlichen Waffen niederzulegen. Erhalten Sie sich für diese ruhigen Zeiten der Zukunft! Opfern Sie sich nicht sinnlos für eine Idee, die heute ›keinen Dreck‹ wert ist, wie wir soeben hörten, aber die einmal wieder großen Kurswert haben kann wie alles, was jetzt daniederliegt! Den Krieg kann man nur im Frieden bekämpfen, das heißt, wenn er halbwegs gezähmt oder gefesselt ist. Denn sonst tritt oder schlägt er einen einfach tot, wie er mich jetzt auslöscht.«

Seine schöne Stimme verhallte in die Leere, die um uns war. Vom Kasernenhof klang es herauf: »Laufschritt! Marsch! Marsch!« Und dann hörte man den Leutnant, der die Ersatzreservisten dort eindrillte, um sich und die andern aufzumuntern in dieser entsetzlich langweiligen Beschäftigung, dazwischen rufen: »Hopp! Hopp! Hopp! Hopp! Hopp! Hopp! Hopp! Lampenputzer ist mein Vater beim Berliner Hoftheater.«

Der Philosoph verlor sich in Erinnerungen dabei: »Da hat man auf der Schule gelernt, daß im Jahre 1807 die Leibeigenschaft in Preußen aufgehoben worden wäre. Welch ein Irrtum! Man hat statt ihrer die allgemeine Wehrpflicht als eine viel schlimmere und größere Leibeigenschaft eingeführt. Denn sie fordert auch die sogenannte Seele des Menschen, sein Innerstes und Heiligstes, für sich, indem sie einen Menschen wie mich, der sich ins Geistige gezüchtet hat, zwingen will, sich wieder die wildesten tierischsten Vernichtungs- und Mordtriebe anzueignen und sie sogar als Tugenden anzuerkennen. Die allgemeine Wehrpflicht ist der gräßlichste Fluch, den die französische Revolution neben ihren Segnungen über den europäischen Kontinent gebracht hat. Und solange dieser Fluch nicht gebrochen ist, solange wird Europa ein unglückliches und verworrenes Land bleiben.«

Er zog seine Hand aus der meinen und erhob sich. Denn er hörte den Amtsrichter durch den Flur wieder auf uns zu poltern. Jetzt kam dieser herein, ein bedrucktes Papier in der Hand haltend. Und nun wußte ich gleich, weshalb er weggelaufen war, und was er herbeigeholt hatte. Es war ein Gedicht von ihm, das er in diesen Tagen, in welchen die Zeitungen alles annahmen, was von Blut und Patriotismus triefte, in irgendeinem Blättchen, das er schon seit Jahrzehnten hielt, untergebracht hatte. Ich hatte es schon mehrfach zu hören bekommen, denn er war wie jeder Dilettant als Dichter maßlos eitel und stolz auf seine Reimereien. Nun hatte er es aus seinem Straßenuniformmantel von nebenan herbeigeholt, um es auch diesem Philosophen zur Besserung und Bekehrung vorzusetzen. So eingebildet war er auf seine Kriegspoesie, daß er sie sogar einem solchen hergezwungenen halben Deserteur, den er doch aufs äußerste verachtete, auftischen mußte.

»Hören Sie! Hören Sie!« schrie er ihn an, »was ein Bekannter von mir, – er möchte anonym bleiben!« fügte er dick schmunzelnd hinzu und platzte fast vor Wohlgefallen, »zu Beginn des Krieges am zweiten Tag der Mobilmachung gedichtet hat! Das wird Sie ermutigen, das wird Ihnen Courage einblasen, Sie Hasenherz!« Und nun las er ihm mit scheußlichem Kriegervereinspathos dieses gräßliche Gedicht vor, das mir vor Ekel schon aus dem Halse herauskam:

Von Ost und West sie uns bedräun,
die feindlichen Millionen.
Nun wehrt euch, Brüder, wie die Leu'n,
ihr dürft nicht einen schonen.
Wir wollen sie verdreschen.

Haut auf sie ein und mäht sie tot,
die Russen wie die Franzen,
und färbt mit ihrem falschen Rot
die Flüsse wie die Schanzen!
Wir wollen sie verdreschen.

Ein Mähen gilt es Tag um Tag,
ein Mähen und ein Ernten.
Nur Memmen sind's, die Stoß und Schlag
nicht zu erwidern lernten.
Wir wollen sie verdreschen.

Auch das perfide Albion
soll für sein Bündnis bluten.
Ihr blauen Jungens, kein Pardon,
ersäuft sie in den Fluten!
Wir wollen sie verdreschen.

Besinnt euch nicht, schlagt zu, schlagt zu,
und ohne einzuhalten!
Auf, deutsches Weib, nun reize du
den Mann zum Schädelspalten!
Wir wollen sie verdreschen.

Wo ihr sie findet, macht sie kalt,
die Starken wie die Schwachen!
Und wenn die Büchse nicht mehr knallt,
so laßt die Kolben krachen.
Wir wollen sie verdreschen.

Der Schweiß stand ihm auf der Stirn, als hätt' er in Wirklichkeit und nicht nur auf dem Papier ein Stücker Tausend niedergemetzelt: »Was! Das sind andere Töne!« rief er puterrot vor Anstrengung und Einbildung. »Ich hab' es selbst gemacht, dies Gedicht! Ich will's Ihnen nur sagen. Sie sollten sich ein Muster daran nehmen. Sie Philosoph, der Sie sein wollen. Vaterlandsliebe und Kunst gehen immer Hand in Hand seit altersher, das sollten Sie doch wissen!«

»Gewiß!« sagt der Philosoph. »Zuweilen. Aber Blutdurst und Kunst niemals.«

»Schweigen Sie, lernen Sie endlich zu schweigen!« wurde er wütend angeherrscht. Denn nun hatte er den Dichterling in meinem Amtsrichter verletzt: »Sie bilden sich wohl gar ein, Patriot zu sein an Ihrer Stelle!«

»Wenn ich noch sprechen darf, ja!« Aber dies war der letzte Wortwechsel, der ihm verstattet wurde. »Nein! Nein!« schrie ihn der Amtsrichter und Kriegsfreund an, der sich am meisten darüber geärgert hatte, daß sein Gedicht offenbar so geringen Eindruck gemacht hatte. »Wir werden Ihnen das Maul stopfen und Ihren philosophischen Quatschereien. Wir sollten Sie eigentlich ins Irrenhaus stecken statt in die Uniform. Aber wir werden Sie auch so kurieren. Nehmen Sie gleich seine Personalien auf, Kollege! Ich will sehen, ob noch jemand hinten in der Kammer ist, auf daß wir ihn möglichst schnell einkleiden und mundtot machen. Es ist ja eine Schande, daß ein solcher Mensch noch frei herumläuft!«

Damit raste er wieder hinaus, als könnte er es gar nicht abwarten, diesen Menschen zwischen die andern einzureihen und unter die Menge zu stoßen. Der Philosoph hatte noch den Mut, ihm nachzulächeln: »Ins Irrenhaus!« sagte er und blickte an mir vorbei: »Über diesen Ausweg habe ich auch schon nachgedacht in diesen letzten Tagen, da ich die Toten, die Blinden und die Wahnsinnigen beneiden gelernt habe. Aber man glaubt es mir nicht mehr. Man glaubt mir nur noch das einzige. Unvermeidliche!« Er starrte vor sich hin und fuhr mit seiner Hand über seine Stirn, indes ich seinen Blick aufzufangen und mit dem meinigen zu trösten suchte: »Es ist zum Närrischwerden,« tönte seine Stimme, »daß ich an diesem Individuum hänge, das mich quält und drangsaliert hat, solange ich denken kann, daß ich es nicht wegwerfen kann wie die andern für eine fixe Idee! Aber das Leben allzu gering zu schätzen und es gleich den Prätorianern und den heutigen Soldatensklaven wie billige Kupfermünze wegzuschleudern, beweist eine solch niedrige Selbstachtung und eine solch stumpfe Gleichgültigkeit, die nur Knechte bewundern können. Man braucht sein Ich nicht aufzublähen. Aber es völlig zu verleugnen und wie nichts zu verlieren, das verlange man von keinem wertvollen Menschen.

Sie sollen meine Personalien aufnehmen. Lassen Sie es! Es hat keinen Zweck mehr. Die Nummer des Hauses, in dem ich wohnte, hieß 88. Schreiben Sie sie auf und setzen Sie fünf Nullen dahinter! Das wird dann stimmen. Ich bin verloren. Ich bin total verloren.«

Er wurde plötzlich ganz grün im Gesicht und wankte hin und her. Ich sprang auf ihn zu. Er packte mich krampfhaft an den Arm, wie ein Ertrinkender zugreift, und hielt sich fest an mir. Und dann sprach er, sprach noch einmal mit der vollen Schönheit seiner Stimme: »Heiliges einzelnes Wesen, das mich überdauern wird, Wille, Wille eines Menschen neben mir, ich grüße Dich aus dem Nebel, der mich schon umfängt. Untertauchen soll ich und vergehen, von der Masse hingerichtet wie alle die andern vor mir! In die Mühle werd' ich vermengt und vermahlen. Man kehrt mich gewaltsam zusammen mit denen, deren Umgang ich stets gemieden habe, die mich verachten, wie ich sie verachten muß, die mich nichts angehen, und die ich nichts angehe. Ausgestrichen werd' ich wie ein einzelner Buchstabe, der sich nicht mit andern zu irgendeinem schönen hohlen Wort zusammenfügen wollte, wie eine Nummer, eine Ziffer, die nicht in eine lange soundsovielstellige Zahl aufgehen konnte. Ich werde zertrümmert und vernichtet, weil ich mich erhalten will, weil es mir eine Phrase bleibt und eine Besessenheit und eine Art Geistesgestörtheit, was sie ergriffen hat und zusammenrüttelt und durcheinander wirft, weil ich es nicht glauben, nicht mitbegreifen und fühlen kann, weil ich diese partielle Lähmung, welche die sogenannte Kulturmenschheit gepackt hat, nicht mitmache. Ihre Begeisterung ist mir, was dem Nüchternen der Schnapsrausch ist, ein Ekel und eine Schande. Ihr Glauben ist mir eine leere Redensart, die nicht voller wird dadurch, daß man immerzu noch auf ihr herumdrischt. Ihre Kriegslieder gellen mir in die Ohren wie das Huronengeschrei der Irokesen einem, der von ihnen an den Marterpfahl geschnürt worden ist. ›Dulce et decorum est pro patria mori.‹ Wissen Sie, wer das gedichtet hat? Ein Ausreißer, einer, der seinen Schild wegwarf, als er den ersten Toten sah. Ha, ha! Aber so ist es immer bei diesen Dichtern, diesen Lügnern, die hinter ihrem Ofen hockend der Menschheit weisgemacht haben, daß es ein Vergnügen sei, mit heraushängenden Därmen auf dem Schlachtfeld zu krepieren. Ha, ha, ha, ha, ha!«

Ein unheimlicher Lachkrampf ergriff ihn, was bei seiner schönen Stimme doppelt grausig in dieser mit Staub und Akten ausgefütterten Stube wirkte. Ich würgte allen Trost, den ich für ihn übrig hatte, heraus. Viel war es nicht. Aber er beruhigte sich doch, so schien es mir, bei Sätzen wie: »Sie werden ja nicht gleich in die Front müssen! Bis Sie ausgebildet sind, ist alles längst vorbei! Und die meisten kommen überhaupt unversehrt aus dem Kriege wieder!« Denn er wurde nach und nach stiller, und das fassungslose unbeherrschte Schreien verlor sich wie die Wellen hinter einem Schiff. Von nebenan hörte man jetzt die zinnerne Stimme eines Unteroffiziers, der im nachgeahmten Leutnantston die Instruktionsstunde der Rekruten begonnen hatte: »Das deutsche Infanteriegewehr hat eine Laufweite von zirka acht Millimeter. Die vier Züge vollenden eine Umdrehung auf 24 Zentimeter. Sämtliche Teile der Mehrladevorrichtung sind in einem Kasten im Mittelschaft unterhalb des Verschlußgehäuses vereinigt. Das Geschoß der einzelnen fertigen Patrone wiegt 14,7 Gramm und hat einen Kern aus Hartblei, die sogenannte blaue Bohne, die ich keinem von euch in die Rippen wünsche!« Diese letzte Bemerkung war ein Witz von dem Unteroffizier, den er, seiner komischen Wirkung bei den andern sicher, beständig zu wiederholen pflegte, ohne die eigene Amtsmiene dabei im geringsten zum Lachen zu verziehen.

Mein armer Philosoph, der bestimmt dazu war, bald diese gleiche Weisheit in sich aufnehmen zu müssen, lauschte den ihm offenbar ganz fremd vorkommenden Worten des Unteroffiziers so ahnungslos und zugleich so erschrocken, wie wohl ein Kind noch im Mutterleib die ersten rauhen Menschenworte von draußen aufnehmen würde. Ich muß gestehen, ich machte mir die ganze Zeit durchaus nicht klar, auf welchem Punkt außerhalb unserer Welt er stand, und daß er von dort aus schon unser ganzes Zusammenleben aus den Angeln hob. Sonst hätte ich wirklich alles getan, ihn zu retten und so oder so wieder zur menschlichen Gemeinschaft zurückzuführen. Aber ich dachte mir, er würde sich sicherlich noch fassen und beruhigen und vor der großen grausamen Notwendigkeit klein beigeben. Ich glaubte also fast wie mein Amtsrichter, der hinausgelaufen war, die kriegerische Montur für diesen gezwungenen Soldaten herbeizuschaffen, daß er angesichts des harten Muß zur Vernunft kommen würde, wie jener sich ausgedrückt hatte. Deshalb blieb ich auch selbst bei dem heftigen Ausbruch seines Lachkrampfs noch ziemlich ruhig, weil ich mir sagte: »Man wird ihn niederzwingen wie jeden andern, und wenn der erste Widerstand einmal gebrochen ist und die Macht des Dienstes und der Gewohnheit von seinem Körper Besitz nimmt, wird auch die Seele, so sehr sie sich sträubt, allmählich nachkommen müssen.« Hinterher bei verschobener Beleuchtung wird man alles ganz anders gewahr, und man fragt sich unter heftigen Selbstvorwürfen immerzu: Warum ist Dir das nicht aufgefallen, oder wie konnte Dir jenes entgehen?

Aber während sich dies in der sogenannten Wirklichkeit zutrug, da teilte ich, wie gesagt, wenn auch auf meine Weise, die Meinung des kriegerischen Amtsrichters, der fest davon überzeugt war, daß man auch diesem Gegenfüßler von Soldaten bald militärische Zucht und martialischen Geist eindrillen würde. Als man den Rohling in diesem Augenblick wieder durch den Flur heranpoltern hörte, ließ mein eben noch völlig fassungsloser Philosoph mich sofort wieder frei, wobei er freilich: »Leben Sie wohl!«, diese schmerzlichen drei Worte, die einem alltäglich geworden sind, mit einem solch innigen Ausdruck sagte, wie ich ihn nie wieder gehört habe. Dann aber, als er die Schritte seines Peinigers dicht vor der Türe vernahm, gab er sich einen Ruck und richtete sich, soweit es seine schwache Hühnerbrust zuließ, in die Höhe. Und dies bestärkte mich wieder in meiner Ansicht von seiner Gefügigkeit in sein unvermeidliches Geschick.

»So!« polterte da der auf die Nivellierung dieses Menschen ausgehende Amtsrichter in die Stube herein. Er trug ein Gewehr auf der Schulter und sah einem Werber und Prügelmeister von früher, wie man sie wohl auf alten Kupferstichen sieht, aufs Haar ähnlich. Er blies seine Backen auf. »Der Unteroffizier von der Kammer kommt sofort und wird Sie mitnehmen. Er saß unten in der Kantine herum, der Faulpelz, der! Aber ein Gewehr hab' ich schon mitgebracht vom Schießunteroffizier. Da! nehmen Sie's, haben Sie's. Und machen Sie einen guten Gebrauch davon. Mit jedem Schuß einen Ruß!«

Der Philosoph stand ihm starr gegenüber und sah ihn an, als könnt' er es nicht fassen, daß dieses zweibeinige Wesen ein Mensch sein sollte. »Nehmen Sie es doch, hören Sie nicht!« knirschte sein Henker ihn an und drückte dabei das Gewehr fest auf seine Schulter. Aber der Mensch sprang zurück, als ihm so diese Waffe aufgenötigt wurde. »Nein!« rief er, »nein! Berühren Sie mich nicht mit diesem Ding! Ich will nicht noch besudelt werden!«

»Das ist die Höhe!« wandte sich der Amtsrichter verwirrt an mich, der ich von meinem Geschreibsel, an das ich mich wieder begeben hatte, erschrocken aufblickte. »Besudelt, hat er gesagt, Kollege! Von der Waffe seines gnädigsten Kaisers und Herrn!« – – Er ging, als hätt' ich seine Entrüstung bestätigt, noch einmal so aufgebracht und aufgeblasen auf den Philosophen zu, der geradezu geisterhaft bleich bis an die Wand der Stube ausgerückt war. »Auf der Stelle werden Sie das Gewehr nehmen, Sie Feigling! Ohne das leiseste Widerwort, verstehen Sie mich? Wagen Sie es nicht noch einmal, die Heldenwaffe unserer ruhmreichen Armee zu beschmähen! Wenn man Sie erst in den Gebrauch dieses wundervollen, scharfsinnig ausgedachten Instrumentes eingeweiht hat, werden Sie – – –!«

»Ich kann mit der Waffe umgehen«, unterbrach ihn keuchend sein Gegner, der sich wie ein Verzweifelter an die Wand gepreßt hatte. Dabei fuhr er mit seiner Linken in die Jackentasche, als ob er dort eine letzte Hilfe verborgen hätte. Ich war derart erstaunt über diesen seinen jähen Ausbruch, als hätte ich aus dem Mund einer Taube plötzlich Feuer hervorquellen sehen.

»Machen Sie sich nicht noch mausig in Ihrer Schlappheit, die vor einem noch ungeladenen Infanteriegewehr ausreißt!« höhnte der Amtsrichter ihn aus und trat mit der Waffe näher an ihn heran. »Tun Sie nicht so, als ob Sie etwas in Ihrer Tasche trügen, Sie Linkser, Sie! Hier! fassen Sie dies Gewehr erst einmal an, damit Sie Mut bekommen!«

»Den hab' ich«, rief der arme Philosoph, indem er langsam vor dem hingehaltenen Gewehr in die Ecke kroch. Aber in diesem Rückzug war mehr Ekel als Furcht ausgedrückt. Und seine Stimme klang plötzlich ganz laut und entschieden, als hätte er sich selbst Befehle zugerufen. »Mut hab' ich!« beteuerte er uns und sich noch einmal, »Mut für meine Person und für meine Sache! Aber es muß meine eigene Sache sein, hören Sie, keine Massensuggestion, keine Knechtseligkeit, keine Ramschbegeisterung, kein Untertauchen in die niedergedrückte Allgemeinheit.«

Seine Worte machten keinen Eindruck auf sein feindliches Gegenüber, der sich vor ihm mit seinem Gewehr aufpflanzte. »Wischiwaschi!« sagte er. »Verschonen Sie uns mit Ihren öden, kleinlichen, egoistischen Redensarten! Das Gewehr genommen!« Er wollte es ihm gerade wieder auf die Schulter und in seine Hand drücken, ganz besessen von dem Wunsch, diese unnatürliche Verbindung herbeizuführen.

»Zurück!« schrie da der Mensch in der Stubenecke und zog im gleichen Augenblick einen Revolver aus der Jackentasche, in die er schon die ganze Weile seine linke Hand krampfhaft vergraben hatte. Und wirklich, der Eisenfresser sprang zurück vor ihm, riß aus vor diesem Feigling, der sich auf einmal als ein schon Bewaffneter entpuppte. Er wich vor ihm aus und trat neben mich, der ich gleichfalls ganz entsetzt über diese nie geahnte Verwandlung eines Menschen aufgesprungen war. »Ein Desperado, Kollege!« rief er. Und dann zu dem Besessenen in der Ecke: »Stecken Sie das Dings wieder ein! Richten Sie keinen Unfug damit an!«

»Können wir auch furchtsam sein?« klang es aus dem grauen Stubenwinkel zurück. Mir kommt es jetzt vor, als ob es schon ganz wie aus der Ferne geklungen hätte. »Sind wir auch ein einzelner Mensch sozusagen?« fragte es weiter. Ich sah, wie er seinem Quälgeist zunickte, als hätte er sich noch gefreut, diese Beobachtung an ihm zu machen. Und nun richtete er langsam seine Waffe auf sich selbst. »Ich kann keinen Menschen töten,« sprach er langsam, als ob er etwas aufsagte, »außer einem einzigen!« Er preßte den Revolver an sein Ohr. Warum hatte er sich wohl gerade diese Stelle ausgesonnen? »Achtung!« rief er sich zu, ganz klar und kalt. Und dann stieß er noch die unheimlichen Worte hervor: »Die Firmamente fallen zusammen. Meteore krachen. Gebt Feuer!«

Man hörte kaum den Schuß, so tief hatte er sich den Revolver ins Ohr gepreßt. Er fiel nicht. Er brach an der Wand in sich zusammen. Sein Gehirn spritzte durch das ganze Zimmer. Ich fand nachher noch Teilchen von ihm auf den Aktenstücken. Der Amtsrichter war aufs tiefste erschrocken. Er trat langsam an ihn heran, der fast sofort tot war. »Er hat sich mit der linken Hand erschossen, Kollege. Es war ein Linkser,« das war das einzige, was er immerzu zu mir, der ich völlig sprachlos geworden war, sagte.

Wir standen vor dem Toten mit dem leeren Gefühl der Zwecklosigkeit, das wir Lebenden vor einer Leiche empfinden, plötzlich hörten wir die Stimme des Unteroffiziers von der Kammer, eines Schneiders, hinter uns durch die offene Türe meckern. »Nanu! Wird hier schon scharf geschossen?« Er trug eine Anzahl Feldröcke über dem Arm, die er schon für den Neuling ausgesucht hatte. Jetzt trat er mit der Neugier, welche einfache Leute vor jedem Toten zu haben pflegen, näher heran. »Was ist denn das?«

»Er hat sich der allgemeinen Wehrpflicht freiwillig durch Selbstmord entzogen,« gab ihm der Amtsrichter kurz wie einen Rapport zur Antwort. »Lassen Sie ihn gleich von der Flurwache abholen!« »Na! Solch ein Schlappschwanz!« sagte der Regimentsschneider nur. Warf einen verächtlichen Blick auf den Klumpen Menschenfleisch in der Ecke, den er nun nicht mehr in eine Uniform einsperren konnte, und ging verdrießlich hinaus. Dann kamen zwei Soldaten mit der schwarzen Leichenkiste. Sie packten den Toten hinein. Er wurde auf den Friedhof gebracht, wo er ohne die geringste militärische Ehre verscharrt wurde. Selbst ich durfte nicht dabei zugegen sein. Man hätte es mir zu sehr verübelt.


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