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Das Kriegsandenken

Ich ging zu meinem alten Uhrmacher, meine Uhr abzuholen, die repariert und reguliert werden mußte.

»Ja! Sie ist fertig!« sagte der Uhrmacher. »Und sie geht wieder tadellos, Ach!« fügte er mit einem tiefen Seufzer hinzu, »wenn man doch auch die Menschen, die einen Schaden genommen haben, wieder so schön instand setzen könnte.«

»Wieso?« fragte ich erstaunt über einen solchen Ausbruch dieses Mannes, der mir immer als ein Muster an Ruhe und Regelmäßigkeit vorgekommen war und wie eine Normaluhr, nach der man alle andern richten konnte.

»Nun,« meinte er in wegwerfendem Ton, als hätt' es ihn schon gereut, sich so weit enthüllt zu haben, »manch einer hat vom Krieg ein unvergeßliches und unheilbares Andenken zurückbehalten!«

»Aber Sie doch nicht! Sie sind doch ganz gesund, soviel man sieht.« Ich betrachtete mir den Mann, wie er hinter dem Ladentisch, umtickt von seinen vielen Uhren, dastand, und konnte keinen Fehler an ihm entdecken.

»Ich selbst hab' es nicht, das Andenken an den Krieg«, sagte er leise lächelnd über die stumme Prüfung, die ich ihm angedeihen ließ. »Ich war damals noch zu jung, um ihn mitzumachen. Aber mein älterer Bruder hat eins.«

»Sie haben einen älteren Bruder? Das wußt' ich ja gar nicht.«

»Er kommt auch niemals unter die Leute«, gab er mir immer wieder mit dem feinen, ausweichenden Lächeln zur Antwort. Aber plötzlich fragte er, als hätt' er sich heute einem Menschen mitteilen und anvertrauen müssen: »Wollen Sie ihn einmal sehen?«

»Gewiß will ich das. Warum nicht?« bemerkte ich etwas verlegen geworden durch dieses unvermutete Anliegen.

»Therese!« rief er, »Fräulein Therese! Ich gehe mit dem Herrn nach hinten. Geben Sie indessen auf den Laden acht!«

Eine häßliche verwachsene alte Jungfer humpelte, aus irgendeinem Winkel hervorkriechend, an uns vorbei, als wir nach hinten schritten. Es ist etwas Unheimliches um eine Uhrmacherwerkstatt. Von allen Tischen und Wänden tickt es und pickt es. Und man glaubt durch eine Schar halbbeseelter Wesen zu gehen, die hierher verbannt worden sind und nur auf ihren Körper warten müssen, um vollständig ins Leben zurückkommen zu können. Ganz ängstlich wird einem zumut, wenn man das leise Ticken oder laute Schlagen dieser gespenstischen Getriebe durcheinanderschwirren hört.

»Wir müssen über den Hof gehen!« weckte mich der Uhrmacher aus dem schlafähnlichen Zustand, der den Menschen gern in dieser geisterhaft sich bewegenden Umgebung umfängt. Er stieß eine kleine Hintertür der Werkstatt auf. Wir schritten über einen schmalen langen Hof, dessen Asphalt in dem dünnen Regen, der herniederströmte, schwarz glänzte, auf einen kleinen Schuppen zu.

»Dort wohnt er, mein Bruder!« sagte der Uhrmacher und geriet ganz von selbst in den Flüsterton, in dem er mir das Folgende erzählte:

»Sie müssen wissen, er war ein studierter Mann. Ich red' ihn immer noch Doktor an. Er stand dicht vor seinem Assessorexamen, als der Krieg losging. Oh! Eine glänzende Zukunft lag vor ihm. Ganz gewiß. Auch Leutnant wär' er bald geworden, Sie können beim Bezirkskommando danach fragen. Offizierstellvertreter war er schon, als er den Kopfschuß bekam. Der machte freilich dann allem ein plötzliches Ende. Er verlor erst die Schrift und dann kurz darauf auch sozusagen die Sprache im Lazarett.«

Wir standen vor der Tür zum Schuppen, die durch ein kleines Vordach vor dem Regen geschützt war. Der Uhrmacher schien mir das Unbehagen anzumerken, das mich bei dieser letzten Enthüllung ergriffen hatte.

»O nein!« beruhigte er mich, »Sie brauchen keine Angst vor ihm zu haben. Er ist gänzlich ungefährlich, ich versichere es Ihnen. Wie wär' er sonst hier bei mir in der Privatpflege. Ja, früher, als er noch in der Anstalt sein mußte, in die man ihn aus dem Lazarett schickte, da mag es manchmal recht ungemütlich um ihn gewesen sein. Aber jetzt ist er völlig zahm und harmlos. Ich garantiere Ihnen dafür wie für meine beste Uhr.«

Er hatte den Schlüssel, der den Schuppen von außen abschloß, und den er unter der Fußmatte hervorgeholt hatte, umgedreht und stieß jetzt die Tür auf.

»Guten Morgen, Doktor!« rief er in den Raum hinein, der sein graues Licht durch ein breites Atelierfenster von oben bekam. Hinten an einem Tisch hockte ein starker breitschultriger Mann in einem ziemlich vertragenen Anzug, der farblos wie Pfeffer und Salz wirkte. Der Mann kehrte uns den Rücken zu, so daß man seine langen grau-weißen Haare sah, die ihm über den Nacken fielen, und war so vertieft in seine Arbeit, daß er den Gruß seines Bruders nicht vernommen hatte. Ein paar ganz einfache Uhren tickten auch in diesem sonst kahlen Raum von den Wänden herab. »Ich hab' sie ihm gelassen!« flüsterte der Uhrmacher mir zu. »Sie vertreiben ihm die Zeit ein wenig, solang er sie ruhig gehen läßt und nicht in Ordnung bringen will. Er glaubt, er helfe mir viel in meinem Beruf. Er ist ganz erpicht darauf, Uhren zurechtzusetzen, wie Sie sehen. Er verdirbt mir alles, das können Sie sich denken. Ich geb' ihm immer nur die schlechtesten, ältesten, die ich auf Lager habe. Lauter Tombak!«

Er ging auf ihn zu und klopfte ihm leise auf den breiten krummen Rücken, den der Irre bei seiner vermeintlichen Arbeit machte.

»Guten Morgen, Doktor!« wiederholte er. »Sei nicht so emsig! Du hast Besuch bekommen.«

Der Irre wandte sich um und richtete sich langsam von seinem Sitz in die Höhe. Es war ein riesengroßer, kraftvoll gewachsener schöner Mensch, ein Musterbeispiel unserer Gattung. Durch seinen etwas spärlichen grauen Bart sah man auf seiner linken Wange noch die Schmisse, die er als Student beim Fechten bekommen hatte. Wenn er sich nicht etwas schief und linkisch gehalten hätte und ohne den scheuen hilflosen Blick seiner grau umflorten Augen würde man nie geglaubt haben, einen Kranken vor sich zu sehen. Hinterher ist mir freilich eingefallen, daß er gelegentlich vielleicht alle Minuten einmal zusammenzuckte und seinen Kopf ängstlich zwischen seine Schultern zog, als hörte er etwas Beunruhigendes und suchte sich wie ein Tier, über dem ein Raubvogel kreist, davor unterzuducken.

»Eine stattliche Erscheinung, nicht wahr?« flüsterte mir der Uhrmacher ins Ohr.

Der Irre hatte sich jetzt zu seiner ganzen schwanken Länge erhoben. Ohne weiter von mir Notiz zu nehmen, wandte er sich an seinen Bruder und sagte, indem er jedes Wort schwer ansetzte und dann ganz weich und mit kraftlosen Konsonanten aussprach:

»Die Silberne ist jetzt wieder in Ordnung. Das Schlagwerk – das Schlagwerk – ke, ke, ki, ke, ke, ki, ke –!«

»Jawohl!« unterbrach ihn der Uhrmacher, um ihm zu versichern, daß er ihn sehr gut verstanden hätte. »Das Schlagwerk geht auch wieder, Doktor. Schön! Schön!«

Aber der Kranke wollte offenbar etwas ganz anderes ausdrucken: »Das Schlagwerk«, fing er an und runzelte seine Stirn zusammen, daß man sein Gehirn unter ihr arbeiten und sich vergeblich abmühen sah. »Das Schlagwerk, ke, ke!« Er stierte voll Angst vor sich hin in das Weite, als ob dort von irgendwoher Hilfe für ihn kommen müßte. Ich versuchte ihm beizuspringen und sagte, um nur irgend etwas zu sagen: »Ihr Bruder sorgt schon dafür wie für Sie, Herr Assessor!«

Der Titel war mir entfallen, weil ich unterdessen die ganze Zeit unbewußt an seine Vorgeschichte gedacht hatte, und weil er wirklich trotz seines grauen Bartes und seiner langen Haare noch etwas Assessorenhaftes hatte. So wie man unter einem überwachsenen Garten noch die schnurgeraden Wege entdeckt, in die er einst eingeteilt und angelegt war. Wie ein totes Standbild aus Gips sah er mich aus seinen hohlen Augen an, als hätt' ich mit diesem Titel etwas wachgerufen, was er verschlafen und vergessen hatte.

»Assessor!« lallte er, man merkte, wie schwer ihm das Wort wurde. »Leutnant!« setzte er, sich mühevoll entsinnend, hinzu, als ob diese beiden Begriffe unbedingt zusammengehörten. Und nun formte er ein paar Laute, die man nur hören, nicht schreiben kann. Sie klangen, wenn ich es versuchen will, sie wiederzugeben, etwa wie: Huu-ih-i-i-i-i-ih-iih!-iih!iiih!-träng! träng! Diese letzten beiden Laute schienen sich besonders tief in sein krankes Hirn eingegraben zu haben. Er sprach sie ganz metallisch hart, und es klang, wie wenn Eisen zerplatzt und zerspringt. Sein Bruder, der Uhrmacher, zupfte mich an der Jacke. »Kommen Sie!« flüsterte er. »Er hört wieder seine Granaten. Man muß ihn dann allein lassen, hat der Doktor gesagt.«

Ich wandte mich erleichtert dem Ausgang zu, während der Uhrmacher auf den Kranken zuging und ihn zu beruhigen versuchte, indem er eine alte Taschenuhr hervorzog und sie ihm zur Wiederherstellung, das heißt zur Zerstörung übergab. Draußen vor der Tür unter dem Vordach des Schuppens stieß er wieder zu mir. Wir entschuldigten uns gegenseitig, ich, daß ich, ohne es zu wollen, durch meine Titulierung den Kranken aufgeregt hätte, er, daß er mir überhaupt zugemutet, seinen irren Bruder aufzusuchen.

»Es erstickt einen nur manchmal fast, dieses Schicksal, das an einem hängen geblieben ist!« fügte er hinzu, während wir in den niederfallenden Regen starrten, der den Himmel und die Luft um uns grau machte. »Er war der Stolz und die Hoffnung meiner Eltern, die über dem Unglück gestorben sind. Sie können sich kaum vorstellen, wie stark und gesund er früher war. Ein Baum von einem Menschen! Das Leben lachte einen an, wenn man ihn sah. Da bekam er diesen tückischen Schuß draußen irgendwo in Frankreich, diesen Kopfschuß, der seinen ganzen Mechanismus in Verwirrung gebracht hat. Seitdem hat er den Sprung weg. Die Feder in ihm ist auf ewig zerbrochen.«

Er sprach das, wie es solch geringe Leute gern tun, wenn sie von etwas Ernstem und Wichtigem reden, richtig pathetisch gehoben aus und blickte vor sich hin auf den nassen Asphalt, als hätt' er ein feierliches Todesurteil über ein Uhrwerk abgeben müssen, das man ihm zur Begutachtung vorgelegt. »Ich war vielleicht auch zu etwas Höherem geboren als zum Uhrmacher!« bemerkte er seufzend. »Aber mein Vater hatte damals ganz den Kopf verloren über diesem schrecklichen Ereignis, das auf uns einbrach. Ich war noch zu jung, und er ließ sich in seiner Verwirrung falsch beraten und betrügen und um das Seinige bringen. Da blieb dann nicht mehr viel anderes übrig für mich als das, was ich geworden bin. Und ich habe auch so mein Kratzen gehabt, bis ich durchgekommen war. Anfangs verschlang die Anstalt, in die ich den Bruder bringen mußte, alles, was ich verdiente, ja viel mehr noch, das dürfen Sie mir glauben. Der Staat sorgte nicht mehr für ihn, als er unbedingt mußte. Und er mußte nicht viel spendieren. Mein Bruder hatte ja noch nicht Offiziersrang, als er den Schuß mitbekam. Ich habe nicht heiraten können vor Schulden, die ich hatte. Und nun ich endlich dadurch bin und anfangen kann zu sparen, nun ist es zu spät dazu geworden. Nun mag mich keine mehr und ich mag erst recht keine mehr.«

Die häßliche verwachsene alte Jungfer, die ich schon soeben gesehen hatte, kam jetzt, wie die leibhaftige Gewissenhaftigkeit anzuschauen, unter einem Regenschirm aus der Werkstatt heran. Sie konnte vermutlich nicht allein fertig werden im Laden.

»Ja, ja! Ich komme schon, Fräulein Therese!« scheuchte der Uhrmacher sie zurück. Er haßte sie offenbar, wie man den Alltag haßt und das ewige Einerlei eines Berufes.

»Ach!« seufzte er mit einem Blick auf den Schuppen hinter sich, der wie ein Sarg dastand, in dem er alle Träume begraben hatte: »Dieser Krieg! Er hat uns allen das Dasein verdorben und verrückt.«

Er legte den Schlüssel zu dem Schuppen wieder unter die Fußmatte.

»Auch mich selbst hätte er beinahe noch wie ihn um den Verstand gebracht!« fügte er mit einem verlegenen Lächeln hinzu. »Ich darf's ja jetzt sagen, nun es schon so lange vorbei ist.«

Er wies auf ein paar alte unansehnliche kleine Scherben, die in der Ecke neben der Fußmatte lagen, wo die Rinne das Regenwasser vom Dach des Schuppens auf den Hof ausspie. »Vergiften hab' ich ihn einmal wollen, denken Sie! Mit Blausäure. Ganz zu Anfang, als ich es kaum ertrug, dies unheilbare Unglück, das wie ein Schatten auf meinem Leben lag. Keine Seele hätte dem Armen noch nachgetrauert, und ihm selbst wär's vielleicht auch recht gewesen. Aber ich hab's nicht fertiggebracht. Hier vor der Tür hab' ich das Fläschchen zerbrochen. Dort liegen noch die Scherben, sehen Sie! Zur ewigen Warnung für mich. Ich lass' sie niemals wegkehren. Und er lebt weiter, wie Sie gesehen haben. Und ich auch mit ihm, ins Graue hinein!«

Und er wandte sich, Abschied von mir nehmend, mit einem tiefen Seufzer wieder seiner Werkstatt zu.


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