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Fegefeuer

Aus dem Munde eines Toten erzählt.

Ich fliege, ich fliege. Endlos von Gestirn zu Gestirn und wage keines mehr zu berühren. Durch eine weite, vage Masse sause ich dahin und erschrecke bei dem Gedanken, dies formlose Wesen, das ich jetzt bin und fühle, könnte wieder in ein bestimmtes enden.

Was war ich denn früher, laßt es mich besinnen! Ich habe nur meine Mutter gekannt und gehabt. Mein seliger Vater hing im Bild über dem blauen Sofa in unserm Eßzimmer und lächelte aus einem todgutmütigen Gesicht auf mich herab. Immer, wenn ich als Kind nach ihm fragte, wies meine liebe Mutter sanft lächelnd auf das Bild zu ihren Häupten und sagte: »Das war dein Vater, mein Sohn!« Sie liebte ihn über alle Maßen. Sie saß immerzu unter seinem Bild, das in seinem schwarzen Ovalrahmen an der Tapete hing. Sie sitzt wohl auch jetzt noch dort und denkt an ihn und an mich. Nein! Nicht an mich! Denk nicht an mich, liebste Mutter, hörst du! Ich will nicht mehr auf die Erde gezogen werden. Auch in Gedanken nicht, verstehst du mich?

Sie hätte mehrmals wieder heiraten können nach dem frühen Tode meines Vaters. Wenigstens hab' ich das von ihren Schwestern und Verwandten häufig genug erzählen hören. Und ich glaub' es auch. Denn sie war eine hübsche und noch mehr eine zarte und überaus liebevolle Frau. Aber sie wollte nicht wieder heiraten. Sie mochte sich nicht von dem Mann trennen, dessen Bild über und in ihr hing und in dessen Angedenken, das für sie immer nur schöner wurde, sie nach Herzenslust schwelgen konnte. Sie zog mich auf in der Liebe zu diesem Vater, der aus seinen guten Augen lächelnd auf mich herniederschaute, wenn wir aßen, wenn wir lasen, und wenn wir uns unterhielten. Er führte gleichsam noch ein bildhaftes Dasein zwischen uns. Denn meine Mutter erwähnte ihn fast jeden Tag und holte ihn immer wieder aus seinem toten Rahmen zu uns herab. Indem sie sagte: »Dein lieber seliger Vater pflegte das und das zu tun oder zu lassen!« oder »Ach, wenn das dein guter Vater noch an dir erlebt hätte!« Ich war ihr ein und alles neben ihm, wie es ja ganz natürlich war. Am liebsten saß sie mit mir und »ihm« allein zusammen in dem gemütlichen kleinen Speise- und Wohnzimmer, das so sauber und gepflegt war wie sie selber. In diesem, im Sommer von ihr hübsch kühl gehaltenen und im Winter stets mollig durchwärmten Zimmer wuchs ich in aller Behaglichkeit und ohne Zugluft auf. Vom Fußbänkchen, mit dem ich auf dem sorgsam abgebürsteten Teppich herumrutschte, bis zum Kinderstühlchen, auf dem ich rosig gewaschen beim Essen sitzen durfte. Schließlich, als ich über den schweren, mit schwarzem Wachstuch bespannten Tisch schauen konnte, wenn ich mich auf die Zehen stellte, bekam ich den blauen Plüschstuhl neben dem Sofa meiner Mutter. Auf ihm saß ich nun still und wohlerzogen all die Jahre, die nun kamen, plauderte mit der Mutter oder mit unserm Kanarienvogel am Fenster, der »Piip! Piip!« machte, wenn man mit ihm sprach, und mein guter toter Vater schaute uns glückselig lächelnd aus seinem Bilde zu.

Als ich die Schule durchgemacht hatte, beschloß ich, um mich noch nicht von meiner Mutter trennen zu müssen, zunächst mein einjähriges Dienstjahr anzutreten. Ich blieb also vorläufig noch zu Hause bei meiner Mutter in dem Zimmer mit dem blauen Sofa.

Meine Mutter, froh wie eine Klucke, die ihr Küchlein wieder bei sich hat, strahlte über mich. »Wenn dich dein lieber Vater noch in der Uniform gesehen hätte!« sagte sie wohl und nickte zu seinem Bilde empor und wischte sich ein paar Tränen aus den Augen. Ich war kein schlechter Soldat, wie man es vielleicht von einem solchen Muttersöhnchen erwarten könnte. Mein Mütterchen weckte mich jeden Morgen in der Frühe aus meinem weichen Bett. Im Eßzimmer stand schon mein blauer Plüschstuhl zurechtgerückt. Vor ihm auf dem gedeckten Tisch dampfte meine Schokolade. Und die von meiner guten Mutter aufgewärmten Brötchen vom vergangenen Abend warteten mit zwei halbweich gekochten Eiern schon auf ihren hungrigen Verzehrer, indes mein Vater, mattbeleuchtet von der einen Gasglocke, die meine Mutter angesteckt hatte, freundlich lächelnd meinem Frühstück zuschaute. Mit zwei Küssen meiner Mutter, einen auf jede Backe, verließ ich allmorgens in der Frühe das Zimmer und unser Haus und tat dann, schön gestärkt, tagaus, tagein meine militärischen Pflichten.

Da kam der Krieg, der dies alles vernichtet hat. Man machte mich sofort zum Unteroffizier. Das war die letzte Freude meiner Mutter und – meines Vaters, darf ich wohl sagen. Denn als ich zum Mittagessen mit den goldenen Litzen erschien, die mir so gut ständen, wie meine Mutter erklärte, da konnte sie sich nicht genug tun, von ihrem blauen Sofa zu dem Bild meines Vaters emporzublicken und ihm immer wieder zu versichern, welch ein heldenhafter Junge und vortrefflicher Soldat ich sei. Ich sah mir mit langen Blicken noch einmal das ganze Zimmer mit seiner behaglichen, friedlichen Einrichtung, in dem ich die meiste bisherige Zeit meines Lebens verbracht hatte, an. Der Raum, den ich bis auf die Ecke mit dem kleinen Mauseloch, das zur Küche führte, und dem Stück der Blumentapete über dem Kamin, das ein wenig angeschwärzt war, in- und auswendig kannte, hatte etwas tief Beruhigendes. Und die Tränen, die mir schon aus den Augen springen wollten, traten bei seinem Anblick wieder zurück. So gütig, so heimlich kam mir die ganze Welt noch in diesem Zimmer vor.

Am Abend ging es weg. Wie ich mich von meiner Mutter getrennt habe, weiß ich nicht mehr. Ich war schon so aufgeregt und unruhig, daß dies Erlebnis nicht mehr Platz fassen konnte in meiner Seele. Erst als es aus der Kaserne in Reih und Glied zum Bahnhof ging – ich bin Infanterist gewesen, das hab' ich wohl noch gar nicht gesagt, und das war doch das Allerwichtigste –, also erst mit den andern, die neben mir marschierten und in ein gleiches Schicksal gingen, nahm ich wieder die Außenwelt in mich auf. Wir sollten nach Belgien kommen, hieß es. Ich hatte nicht das mindeste Gefühl weder für noch gegen dieses Land. Ich kannte es kaum, nur von einem kurzen Ferienaufenthalt an der See, als Kind, an den ich mich wenig erinnern konnte. Oder doch höchstens als an etwas Schönes. Und nun ging es gegen Belgien, so sagte man allgemein. Also gut! Meinetwegen, dachte ich mir. Es blieb mir ja auch nichts anderes zu denken übrig. Bis Aachen fuhren wir in einen früheren Viehwagen zusammengepackt und vertrieben uns die lange langsame Fahrt mit Gröhlen von Kriegsliedern, mit Schweigen oder Schlafen und vor allem mit tausenderlei Mutmaßungen über den Krieg. Wir wurden nicht müde, sie in endlose Längen zu spinnen, und politisierten und strategierten den ganzen Feldzug im voraus zusammen.

Von Aachen aus marschierten wir. Auf Lüttich zu, hieß der Befehl. Ich weiß nicht mehr viel von diesen Tagen zu erzählen. Es ging immer weiter. Wir mußten uns durch die rasende Landbevölkerung hindurchbeißen, die in den Städtchen und Dörfern vor Lüttich hauste. Mir war es von Tag zu Tag immer wie ein Wunder, daß ich noch lebte. Und ich ging wie im Traume durch den Kugelregen, der uns hier weniger, dort stärker umsauste. Es war wirklich wie ein Marsch durch ein Schlackerwetter, das bald heftig, bald dünn über uns rieselte. Anders kann ich es nicht beschreiben. Da, eines Abends, kurz vor dem Biwakieren, traf mich ein Schuß von hinten oben in das rechte Schulterblatt. Wie die meisten, merkte ich zuerst nichts in der Betäubung des Kämpfens und Schlachtens, die mich ergriffen hatte. Erst als mir der rechte Arm, der die Flinte hielt, schwach wurde, fragte ich einen meiner Hintermänner, ob ich etwa getroffen wäre und blutete. »Schulterschuß!« sagte er und drang kampfbereit neben mir weiter vor. Ich wankte noch ein paar Schritte weiter und lehnte mich mit der verletzten Schulter an einen Baum. Es dämmerte schon, und in meinem Schwächegefühl kreiste die ganze graue Gegend um mich herum. Eine Sanitätskolonne kam heran. »Können Sie noch gehen?« rief mir irgendeine Stimme zu. »Nein! Kaum mehr!« sagte ich und wäre im gleichen Augenblick zusammengefallen, wenn man mich nicht gehalten und auf eine Tragsänfte gelegt hätte. Ich wurde einige Meter zurückgeschleppt, wobei ich auf meiner Bahre schwebend das wohlige Gefühl hatte: »Endlich, endlich kannst du dich einmal wieder ausruhen.«

Man trug mich auf einen kleinen Platz vor der Kirche, die man zusammengeschossen hatte. Ein paar gotische Verzierungen ihres Turmes lagen hier wie unaufgeräumte Klötze meines Kinderbaukastens nach dem Spielen auf dem Teppich bei meiner Mutter herum. Ein Stabsarzt, ein dicker alter Herr, ließ mich hochheben. »Ungefährlich!« sagte er nach einem kurzen Blick.. »Bringt ihn in das Haus der beiden Damen! und macht ihm einen Notverband! Ich komme sogleich nachsehen!« Die Lazarettdiener hoben die Bahre hoch. »Ist es nicht tödlich?« fragte ich noch einmal, und meine Lippen zitterten. »Nein! Durchaus nicht! Seien Sie ganz außer Sorge!« sagte der Arzt und schob die Träger ungeduldig beiseite, weil drei neue Sänften mit Verwundeten kamen. Man trug mich in eine schmale Straße neben der zerstörten Kirche auf ein zweistöckiges alleinstehendes Haus zu. Von meiner Bahre aus sah ich oben auf seinem Dach die weiße Fahne mit dem roten Kreuz in der grauen Abendluft flattern. Sie kam mir übermäßig groß vor und schien mir gar nicht so freundlich entgegenzuwinken, wie sie es sonst tat, diese Flagge des Erbarmens. Ja, sie schien mir nur wie eine Freibeuterfahne hier aufgesteckt, unter deren Schutz man tückisch plündern und meucheln konnte. Aber das bilde ich mir vielleicht hinterher erst ein. Als wir vor die Türe kamen, wurde sie nach innen aufgezogen. Dann hörte ich aus dem Grau des Hausflurs eine mir im tiefsten unangenehme Damenstimme in übertrieben süßlichem Tone gebrochen oder besser affektiert deutsch sprechen: »Wir abben bereits vier ier bei uns aufkenommen. Abber aus Liebbe zu unserm Errn Jesus Christus und der allerselligsten Jungfrau wollen wir auch diessen noch zu uns nemen. Aber mehr get niesch!«

Man trug mich durch den Flur in das Haus hinein. Links war eine Tür offen, und ich sah in ein kleines, schon erleuchtetes Wohnzimmer. Ein Sofa, ich meine sogar, es wäre blau gewesen, stand darin. Und über ihm hing seltsamerweise ganz wie bei uns zu Hause in einem schwarzen Ovalrahmen das Bildnis eines Mannes. Aber er hatte kein gütiges und liebes Gesicht wie mein Vater. Er trug irgendeine fremdländische Uniform und sah mich aus zwei stechenden Augen, die über einem rohen, struppigen Schnurrbart funkelten, drohend und feindselig an, daß es mir auf meiner Bahre die Kehle vor Angst zuschnürte.

»Kommen Sie! Kommen Sie!« rief die Damenstimme etwas aufgeregt, wie mir schien. Sie ertönte von hinten her, und jetzt sah ich die Frau, die so widerlich sprach, zum erstenmal bei Licht. Sie stand in der weißen Tracht einer Krankenpflegerin unter einer Gaskronenlampe im hinteren Zimmer und lächelte mir unter einer weißen Kopfhaube scheußlich liebenswürdig entgegen. Rings um sie standen an den Wänden des Zimmers fünf weiße Betten. Vier Verwundete lagen schon dort: zwei Schwerverwundete, die so schwach waren, daß sie nicht mehr schreien, nur noch röcheln konnten, und zwei leichte Fälle, von denen der eine Blessierte leise in seine Kissen wimmerte, während der andere sich etwas vorphantasierte. Ein junger Stabsarzt stand bei ihm und sprach ihm gut zu. Dann wandte er sich zu mir und legte mir, nachdem er mich entkleidet hatte, einen Verband um. »Sie haben Glück gehabt!« sagte er, »es ist ein leichter Streifschuß. Vielleicht bekommen Sie etwas Fieber heute nacht. Aber in acht Tagen sind Sie wieder quietschvergnügt!«

Ich versuchte sein Lächeln zu erwidern. Aber es gelang mir nicht. Man hatte mich in das fünfte Bett, das am nächsten zum Flur stand, gelegt. Am Fußende meines Lagers führte eine Tür in das Wohnzimmer des Hauses, in das ich soeben vom Korridor einen Blick geworfen hatte. Jetzt wurde sie geöffnet. Mit einem Tablett, auf dem eine Wasserflasche, Zitronen und Gläser waren, trat eine zweite Krankenschwester ins Zimmer. Sie war mir von vornherein fast noch unangenehmer als die erste, trotzdem sie nichts sagte und die Unterhaltung ganz ihrer Amtsschwester überließ. Sie war eine hagere eckige Person, bei der mir noch unangenehm auffiel, daß sie ihr offenbar geschminktes Gesicht möglichst tief unter ihr weißes Kopftuch versteckte. Sie nickte dem jungen Arzt kurz zu und ging dann zu dem leise wimmernden Verwundeten, um ihm eine Limonade zu reichen. Der junge Arzt half ihr noch dabei. Dann empfahl er sich, nachdem er nochmals an jedes unserer Betten herangetreten war und uns betrachtet hatte, von den beiden Damen, da andere Verwundete seiner Hilfe und Pflege bedurften. Ich hörte, wie er draußen im Hausflur mit dem älteren Stabsarzt zusammentraf und ihn völlig über uns beruhigte. »Nach den beiden Amputationen, die Sie vorgenommen haben, und nach den Verbänden, die ich angelegt habe, ist hier vorläufig nichts mehr zu machen!« hörte ich ihn sagen. Und dann gingen die beiden zusammen fort ins Lazarett. In unserem Krankenzimmer war es stiller geworden, da der Leichtverwundete nach dem Zitronenwasser, das man ihm gereicht, zu wimmern aufgehört hatte und zu schlummern schien. Nur der andere, der sich etwas vorphantasierte, lallte noch zuweilen ein paar Sätze wie: »I, da bist du ja, mein Kleinchen! Hast du mir das Essen mitgebracht?«

Die beiden Krankenschwestern waren ins Zimmer nebenan gegangen, wo sie aufgeregt zusammen tuschelten. Aber da sie ziemlich leise sprachen, verstand ich keinen Satz und kaum nur hier und da ein Wort. Das Bild über dem Sofa starrte drohend und böse zu mir herüber. Und es kam mir fast vor, als wenn es seine gefährlichen Augen gerollt hätte. Ab und zu trat die eine der Schwestern, welche die Honneurs machte, durch die Türe zu uns herein und fragte mit der süßlichsten Stimme katzenfreundlich: » Etes-vous à votre aise?« Sie sprach es so geziert aus wie unser französischer Sprachlehrer, wenn er es besonders gut machen wollte. Ich höre es noch in den Ohren, dieses abscheuliche » aise«. Es klang, wie wenn man Messer schmirgelt, und verursachte mir fast Übelkeit.

Zwei Stunden später, als es schon in die Nacht ging, kam noch ein Besuch zu uns. Es war unser Leutnant, ein ganz blutjunger Mensch wie ich, der sich selbst nochmals persönlich erkundigen wollte, ob wir gut untergekommen wären. Er prüfte jede Lagerstätte genau, ohne die Schlafenden oder Bewußtlosen zu stören. Um dem Verwundeten, der noch immer leise vor sich hinredete, eine kleine Freude zu machen, schenkte er ihm sein Messer, sein »vorletztes«, wie er scherzend sagte. Mir wollte er durchaus etwas Schokolade aufzwingen, die er bei sich trug. And da ich keinen Hunger hatte, legte er sie auf den Nachttisch neben meinem Bett für den Fall, daß ich über Nacht welchen bekommen könnte. »Auf Wiedersehen!« sagte er dann: »Morgen in der Frühe werden Sie nach Deutschland zurücktransportiert. Wir biwakieren hier draußen in der Nähe. Ich will ein wenig schlafen gehen. Ich bin müde zum Umfallen.«

Ein plötzliches Unbehagen vor diesem Raum mit den fünf aufgeschlagenen weißen Betten schien ihn zu überkommen. »Die Leute sind doch hier in Sicherheit?« sagte er, dies Hinterzimmer noch einmal mit seinen todmüden Augen überblickend. Er zuckte mit den Schultern dabei von dem Schauer, der ihn durchfuhr. »Abber, kewieß, parfaitement! Monsieur le colonel!« erwiderte die Krankenschwester, die etwas ungeduldig neben ihm stand, mit ihrer süßlichsten Stimme. Er schien noch einen Augenblick zu zögern und nachzusinnen, als plötzlich eine Kuckucksuhr nebenan rief: »Kukruh! Kukruh!«

»Oeren Sie! Wie im Schosse der Familie sind Ihre Leute ier!« schmeichelte sie sich zu dem behaglichen Schlagen der Kuckucksuhr in seine Ohren ein. Die Uhr beruhigte ihn offenbar.

»Schön!« sagte er. »Also! Auf Wiedersehen morgen früh! Kameraden!« Er stolperte fast zur Tür hinaus durch den Korridor, so erschöpft war er.

Das war das letzte Menschliche, was ich vernommen habe. Von nun an begann jene Vorhölle, in der ich noch immer schwebe und flattere. Was mir zunächst nach seinem Weggehen auffiel, war dies, daß es noch eine andere Türe in diesem Zimmer gab. Sie war bisher durch einen häßlichen gewöhnlichen Kleiderschrank aus schlechtem braungestrichenen Holz versteckt worden, den die beiden Krankenschwestern nun von der Wand abrückten. Dahinter zeigte sich eine, niedrige unsaubere Glastüre, die zum Hof hinausführte. Die zuvorkommende, überfreundliche der beiden drückte sie nun auf:

»Es wird doch nicht hinten auch noch ein Posten stehen?« hörte ich sie zu der andern sagen. Sie sprachen wallonisch zusammen, ein häßliches halb französisch, halb Deutsch, von dem ich schon da und dort auf dem Vormarsch ein paar Brocken aufgeschnappt hatte. »Ein mißtrauisches, blödes Pack, diese Preußen!«

Die andere war auf einen Stuhl geklettert. Sie pfiff gleichgültig einen Gassenhauer zwischen ihren Zähnen. Dann nahm sie die weiße Glocke vom Gas herunter, bei deren Anblick meine Gedanken immer an die zu meinem Frühstück im Winter gemütlich leuchtende Gasglocke in unserm Wohnzimmer zurückgeflogen waren. Eine blaue zackige Flamme stach nun hart in den Raum und wehte in der Zugluft hin und her, die durch die geöffnete Hoftüre hereinkam. Und – wie drück' ich mein Entsetzen darüber aus! – beim grellen Gaslicht kam mir die Krankenschwester, die dort auf dem Stuhl stand, plötzlich wie ein Mann vor, ein hagerer pöbelhafter Kerl, der sich die rasierten schwarzen Bartspuren mit billiger Schminke übermalt hatte. Das Kleid hing wie ein schlecht passendes Theaterkostüm um ihn herum. Jetzt erklärte ich mir auch seine Schweigsamkeit, seine eckigen Bewegungen und sein Verstecken unter dem weißen Kopftuch, das er schon etwas zurückgeschoben hatte.

Ich wollte aufschreien. Aber dieser krampfhafte Zustand, in dem ich seitdem liege, verschloß mir den Mund. »Du träumst! Du träumst ja schon im Fieberzustand!« sagte ich mir immer vor. And in der Tat, alles lag wie ein gräßlicher Traum über mir, aus dem ich erst erwachte, als – – Aber langsam, laßt es mich auserzählen!

Der Kerl schraubte jetzt die Gasflamme kleiner. Dann stieg er von dem Stuhl herab und steckte die weiße Glocke in einen Koffer, den er vom Schrank herunterholte. Die katzenfreundliche Krankenschwester war vom Hof, wo sie indes Umschau gehalten hatte, wieder hereingekommen. »Es ist keiner dahinten!« meldete sie. »Aber warum hast du es denn so finster gemacht? Man muß doch Licht haben bei der Arbeit«, keifte sie ihn an, und ihre süßliche Stimme wurde schartig wie ein zerhacktes Messer.

»Licht genug!« sagte der Kerl, der jetzt hier einen Spiegel und da ein Bild von den Wänden herunterholte und alles zusammen in seinen Koffer packte, so daß der Raum um mich herum immer kahler wurde. Jetzt ging er nebenan hin und räumte offenbar dort die Stube aus. Warum schrie ich nicht? Warum sprang ich nicht auf, so gut ich es konnte. Ich weiß es nicht. Ich war wie betäubt und gelähmt von dem Gaslicht und den Bewegungen dieses widerwärtigen Mannweibes.

Es mag auch von der Müdigkeit gekommen sein, die wie Blei in mich gegossen war und mich ab und zu vor Freude über die Ruhe, die ich in diesem Bett gefunden, wollüstig einnicken ließ. Jetzt kam der Kerl zurück, die Kuckucksuhr in seiner Hand haltend, daß die Gewichte herunterbaumelten. »Ein guter Einfall von dir, das alte Dings von deiner Urgroßmutter aufzuhängen, das muß ich schon sagen!« bemerkte das Weib zu ihm, und ihre Stimme wurde ordentlich wieder süßlich. »Kukruh! Kukruh!« machte er die Uhr nach, und dann sie selbst kopierend: »Wie im Schosse der Familie! Ha, ha!«

Er knipste das Kofferschloß zu. Dies war offenbar das letzte, was er einzupacken hatte. Aber sie stieß ihn in die Seite: »Schafskopf! Wir haben doch die Bettücher vergessen. Meinst du, die Säue sollten sie noch weiter vollbluten?« Und nun fingen sie an, soweit es ging, die weißen Tücher aus den Betten und von den Kissen abzuziehen, ohne die Schlafenden aufzuwecken. Häßlicher grau-blau-karierter Kattun kam jetzt unter den weißen Tüchern zum Vorschein und quälte die Augen mit seiner Gewöhnlichkeit. Das ganze Zimmer wurde plötzlich so roh und erbärmlich und häßlich wie ein Armenmassenquartier. »Kuck einmal,« sagte der Kerl zu ihr, als sie an mein Bett traten, »wie unheimlich. Der schläft wie ein Hase mit offenen Augen!«

Ich rührte mich nicht. Ich glotzte alle diesem zu wie ein Toter, der ich wohl schon war. »Was mögen sie noch weiter vorhaben?« dachte ich nur immer bei mir. Und das hielt mich am Leben und Träumen fort. Sie hatten die weißen Bettücher in den Koffer gepackt oder zu einem dicken Bündel zusammengerollt. Der Kerl rückte den Stuhl wieder unter die Gasflamme. »Was machst du denn da?« kreischte sie ihn an. »Ist es dir noch nicht finster genug?«

»Ich muß Tabak unter der Nase haben bei solch einer Arbeit,« sagte er und steckte sich eine Zigarette an, die er aus seinem Ärmel hervorholte. Das Kopftuch war ihm beim Packen ganz heruntergerutscht, und er stand da mit seinen schwarzen, glatt pomadisierten Haaren und den geschminkten Backen, in dieser Weibertracht häßlich wie irgendein fremdes Untier anzuschauen.

»So mach' doch schnell!« flüsterte sie. »Der Kerl da fängt wieder an, sich herumzuwälzen.« Sie meinte den Leichtverwundeten, der, beseligt über das Taschenmesser, das ihm der Leutnant geschenkt hatte, eingeschlummert, aber nun wieder ins Reden und Phantasieren kam. »Ja, ja, ja, ja!« lallte er. »Und Magdeburg ist doch die schönste Stadt im Deutschen Reich!«

»Vorwärts! Mach' fix!« trieb sie den Kerl jetzt an, der an die Hoftüre gegangen war. Ich sah, wie er sich dort nach irgendwas bückte, was da versteckt sein mußte.

»Nur ruhig Blut!« sagte er zurückkommend, und es zitterte in seiner Stimme. »Ich werd' schon früh genug mit ihnen fertig werden. Wofür bin ich denn Barbier gewesen, eh' diese Schufte mir das Geschäft zerschossen.«

Er wandte sich an das Bett des Leichtverwundeten, der wieder allerlei vor sich hinredete. Und plötzlich schnitt er ihm mit einem Brotmesser, das er von der Hoftür geholt hatte und unter dem linken Ärmel eingeklemmt hielt, blitzschnell mit einem Zug die Gurgel ab.

Ich hörte den Sterbenden röcheln. Aber ich brachte keinen Ton hervor. Wie in einer Hypnose, einem künstlichen Schlaf, lag ich auf meinem Bett und starrte das Entsetzlichste an, das auf Erden vor sich gegangen ist. Mein Ichgefühl hatte dabei, wie bei den Scharmützeln und Schlachten, die ich in den Tagen vorher mitgemacht, völlig ausgesetzt. Und ich erlebte dies alles eigentlich schon nicht mehr. Ich beschaute es ohne Bewußtsein und begriff und empfand es nicht.

Der Kerl machte seine schauerliche Runde weiter. Er näherte sich den beiden Schwerverwundeten und schlachtete sie in der gleichen Weise wie den noch Röchelnden ab. Aber man hörte von den beiden nicht mehr, wie sie starben. Sie waren wohl schon zu matt und zu weit hinübergelangt in das Reich des Schweigens, um noch einen irdischen Laut von sich geben zu können. Ein warmer Dunst von dem Blut, das aus den Körpern hinaus strömte, zog durch den Raum wie durch eine Schlächterei. Er mischte sich in meiner Nase mit dem süßlich parfümierten Rauch der Zigarette, die sich dieser Menschenmetzger zu seiner Abdeckerarbeit angesteckt hatte. Das Blut sickerte in die Betten hinein, die es wie Schwämme aufsogen. Hin und wieder, wenn sie sich übervoll gesaugt hatten, tropften die roten Tropfen auf den Boden nieder.

Das Scheusal machte sich jetzt an den Vierten heran, dem er soeben noch unter der Larve der Krankenschwester die Zitronenlimonade gereicht hatte. Er zog den Kopf, den der fest Schlafende in das Bett und irgendwelche Träume vergraben hatte, hervor. »Wasser! Wasser!« flüsterte der halb Erwachende, noch ganz befangen vom Schlummer. »Nein, Blut! Blut!« keuchte sein Schlächter und schnitt ihm mit dem rauchenden Messer tief in den Hals hinein.

»Was ist das?« hatte ich ihn noch sprechen gehört, und dann verröchelte er gleich den andern und rieselte sein Blut in das Bett hinein. Der Fleischer schien müde geworden zu sein von dem Schlachten, das er angerichtet. Er wischte sich mit dem Rücken seiner Mörderfaust über die Stirne. Aber auch dort war seine Hand schon mit Blut bedeckt, das er sich nun wie ein rotes Kainszeichen von Schläfe zu Schläfe schmierte.

»Pfui Teufel!« sagte er und spuckte aus. »Dies verdammte viele Blut! Ich hab's satt. Man macht sich ganz voll damit.«

»Bist du verrückt!« zischelte das Weib ihn an, das, immer neben ihm stehend, dem ganzen Vorgang mit wollüstig verkniffenen Augen zugeschaut hatte. »Du mußt doch das Hähnchen da noch abstechen, den Schokoladenjungen!« Sie wies auf mein Bett und den Nachttisch neben mir, auf dem noch die Liebesgabe des Leutnants ungegessen lag. Der Kerl trocknete schon das triefende Messer an seiner Weiberschürze ab, die er offenbar gleich abbinden wollte. »Ach was!« meinte er. »Ich hab's satt. Vier Mann genügen. Ich hab's satt.«

»So!« fuhr sie in diesen Ausruf, den er noch ein paarmal wiederholte. »Du hast es satt? Pfui! Schäm' dich! Bist du ein Belgier?«

»Ja!« schrie er sie heftig an, wie aufgerüttelt durch das, was er getan hatte: »Ja! Ja! Siehst du! Ich bin ein Belgier und ein Franktireur dazu. Ich will es dir beweisen, damit du mich diese Nacht endlich an dich heranläßt. Komm her, mein Freundchen! Was glotzt du denn noch immer mit deinen Augen? Hast doch kein Eintrittsgeld hier bezahlt? Warte! Du mußt mit den andern weg. Einsteigen! Verstanden!«

Ich sah, wie er das Messer wieder fester packte. Ich sah, wie er sich meinem Bette nahte. Ich sah, wie er seinen Arm zum Schneiden in der Mitte krümmte. Und da erst schrie ich auf vor Todesangst, schrie meine ganze Furcht, meinen ganzen Ekel vor dieser Erde aus mir heraus, bis meine Stimme im fieberheiß fließenden Blute erstickte und wegschwamm. Seitdem fliege ich, fliege endlos dahin durch einen endlosen Raum. Niemand hält mich an, soll mich anhalten. Meine Haare sträuben sich vor Entsetzen bei dem Gedanken, ich müßte jemals wieder in diese oder eine ihr irgendwie ähnliche Welt kommen. Ich sage weg von ihr, immer weiter, immer ferner.

Nur dies eine will ich noch hinter mich werfen: den Tag und Ort, an dem mir dies geschehen ist, was mich auf ewig vor jeder Art menschlichen Lebens zurückbeben läßt:

Es war in einem kleinen Städtchen vor Lüttich, mitten im Herzen des zivilisierten und kultivierten Europa, in der Nacht vom 3. zum 4. August des Jahres 19l4 nach Christi Geburt.


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