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Die einzige Roheit

Man sprach wieder einmal von den Roheiten, die in dem letzten Kriege durch die Deutschen angerichtet sein sollten, und wie sie sich dadurch die Zuneigung der anderen Völker, die sie leider schon vorher wenig besessen, noch mehr verscherzt hätten.

Einer nach dem anderen erzählte als Gegenstück hierauf die bekannten rührenden Geschichten von dem deutschen Landwehrmann, der die kleinen Kinder im französischen Quartier auf seinen Armen wiegt, sein Kommißbrot mit den hungrigen Frauen teilt und zum Schluß unter allgemeinem Weinen von seinen Wirtsleuten Abschied nimmt, die ihm noch lange nachwinken und nachrufen: »Auf Wiedersehen im Frieden, mon frère! Man berichtete dagegen von hinterlistigen Anschlägen und niederträchtigen Greueltaten fremder Franktireure und wütender Weiber im Ausland und empörte sich über die Schamlosigkeit der anderen, die trotz ihrer Überzahl noch haufenweise rohe schwarze und gelbe Horden gegen Deutschland und die weiße Rasse zu Felde geführt hätten. »Dadurch allein war uns alles gegen sie erlaubt. Aber auch alles!« rief eine ältere Frau, die ihren Sohn im Krieg verloren hatte, aufgeregt dazwischen. Schließlich einigte man sich dahin, daß man dem deutschen Volk, was immer auch andere Nationen ihm vorwerfen könnten, sei es Knechtseligkeit, sei es Kleinigkeitskrämerei oder Gefühlsduselei, sei es Unvornehmheit oder Plumpheit, doch eine einzige Eigenschaft nicht als einen wichtigen Wesenszug nachsagen könnte, das sei die Grausamkeit. Dem widerspräche die ganze bisherige Geschichte des deutschen Volkes und Geistes wie auch der allgemeine Ruf, in dem der gutmütige, wenn nicht blöde »Michel« bei den Nationen Europas bislang gestanden hätte. Eher sei der Deutsche durch seine Langmut und Geduld, mit der er sich vieles gefallen lasse, und durch sein weiches Herz, mit dem er Politik und Geschäfte zu treiben suche, in der Welt bekannt. Er könne schon einmal wild drauflosstürmen, wenn ihn seine berühmte Wut gepackt hätte, aber etwas lange rachsüchtig nachzuhalten wie die Franzosen oder kalt und berechnend heimzuzahlen, wie die Engländer dies liebten, das liege gar nicht in seiner Art. Und Quälereien seien ihm im allgemeinen geradezu unmöglich.

»Und doch kann der Krieg auch unsereinen zu Grausamkeiten und Roheiten bringen!« warf da der Professor Serf ein, der der Unterhaltung bisher schweigend zugehört hatte. Es war dies ein gemütlicher dicker Mathematiklehrer – »Parallelepipedon« nannten ihn seine Schüler mit seinem Spitznamen –, von dem man sich am wenigsten einer solchen Anmerkung versehen hätte.

»Ja!« sagte er bestätigend und zwinkerte bei der Erinnerung gutmütig lachend mit seinen Augen: »Auch ich habe mir im Krieg einmal eine Roheit zuschulden kommen lassen. Meine einzige Roheit, soviel ich weiß.

Das war in einem kleinen französischen Dorf, dicht an der lothringischen Grenze noch. Ich war mit meiner Kompagnie in dem dortigen Schulhaus untergebracht worden. ›Dies Quartier paßt für Sie am besten. Wie angegossen!‹ scherzte mein Hauptmann, ein prachtvoller junger Kerl, längst gefallen indessen, der einstmals mein Schüler gewesen war. Ich glaube, er unterdrückte dabei ein ›Parallelepipedon‹ aus einem Rest von Ehrfurcht vor seinem alten Lehrer, den er jetzt unter seinem Kommando hatte.

›Jedenfalls brauch' ich mich nicht erst an die Schulstubenluft zu gewöhnen!‹ sagte ich lächelnd und marschierte mit meinen Leuten dahin ab. Es war eine ganz kleine Volksschule. Hatte nur zwei Klassenzimmer zu ebener Erde. Ein Kind aus der Nachbarschaft, dem der Lehrer die Schlüssel übergeben hatte, wie es erzählte, schloß uns die beiden Räume auf. In dem etwas größeren brachte ich meine Leute unter, die es sich gleich auf den Bänken und dem Fußboden bequem machten. Wir waren in den letzten Tagen gelaufen wie der schnellfüßige Achilleus, als er die langsame Schildkröte einholen wollte, was ihm bekanntlich nie gelungen ist: Eine Spiegelfechterei, mit der mein alter Kollege Zeno den menschlichen Verstand bis auf den heutigen Tag genarrt hat.

Nachdem ich meine Leute, so gut es ging, versorgt hatte, begab ich mich mit meinem Burschen in das kleinere Schulzimmer. Es war offenbar für die älteren Kinder bestimmt, wie ich gleich sachkundig an den höheren Bänken feststellte. An den grauen Wänden hingen ein paar Landkarten und bunte Anschauungsbilder von Tieren und Pflanzen. Auch die Abbildung eines Muskelmenschen befand sich darunter. Die Tür, durch die wir gekommen waren, war von zwei Gipsköpfen eingerahmt. Zur Linken stand Voltaire, zur Rechten Rousseau. Einträchtiglich wie nie in ihrem Leben bildeten die beiden großen Stammväter der Revolution das Stirnstück zum Eingang in diesen Raum, in dem die französische Jugend für das Leben herangebildet wurde.

Ich trat an das halboffene Fenster, um mich über die Lage des Zimmers zu unterrichten. Da fiel mein Blick auf die große schwarze Schultafel, die im besten Licht dastand. Quer über diese Tafel war in großen schönen, weit sichtbaren Buchstaben mit Kreide geschrieben: › Les Allemands sont sales, ignobles, rudes, rapaces, sanguinaires et infâmes.‹ Ich stutzte über den hübschen Empfang, der uns mit diesen Worten bereitet war. Zugleich aber ergriff mich, als ich das freche und höhnische Grinsen des Jungen sah, der uns aufgeschlossen und herumgeführt und augenscheinlich auf diesen Augenblick seiner Genugtuung gewartet hatte, eine große Wut. ›Hör' auf zu lachen!‹ schrie ich den Bengel an. ›Wer hat dies hier geschrieben?‹ Augenblicklich verschwand das gemeine Lächeln von seinem Mund. ›Der Herr Lehrer!‹ gab er kurz zur Antwort.

›Wo ist der saubere Herr Lehrer?‹

›Ich weiß nicht, wo er ist!‹

›Du wirst ihn sofort holen!‹

›Wenn ich doch nicht weiß, wo er ist.‹

›Das werden wir dir schon beibringen, ihn zu finden.‹

›Darauf bin ich neugierig.‹

›Unverschämter Junge, du weißt doch, wo dein Lehrer jetzt ist!‹

In diesem Augenblick tauchte draußen vor dem Fenster das bleiche bärtige Gesicht eines Mannes auf, der augenscheinlich aus dem Keller unter der Schule hervorgeklettert war.

›Komm hierher, Adolphe!‹ rief er auf französisch. ›Du brauchst dich nicht examinieren zu lassen.‹ Der Junge verschwand schnell wie eine Eidechse von meiner Seite.

›Warten Sie, mein Herr!‹ setzte der Kerl draußen in einem ziemlich reinen Deutsch hinzu: ›Ich bin der Lehrer selbst. Ich werde sofort bei Ihnen sein.‹

Mein Bursche hinter mir räusperte sich, indem er auf die dick auf die Tafel gemalten Worte stierte. Er merkte wohl, daß der Satz, der da angeschrieben war, für uns nicht schmeichelhaft sein mußte. Schließlich getraute er sich zu fragen: ›Verzeihung, Herr Oberleutnant! Was heißt das dort?‹ ›Das heißt, Schmitz, daß Sie und ich Dreckfinken, Lumpen, Rüpel, Diebe, Mordbrenner und Schweinehunde sind.‹

›Das ist eine Gemeinheit, Herr Oberleutnant!‹ platzte es als Antwort aus ihm heraus.

Der Mann von draußen erschien jetzt in der Tür zwischen Voltaire und Rousseau, die in Gips oben zu seinen Häupten standen. Es war ein langer schlacksiger Kerl mit einem schwarzen Hippenbart und der hohlen Brust, die diejenigen von uns Lehrern haben, die den Mangel an Sauerstoff in den Schulzimmern nicht durch tüchtiges Spazierengehen im Freien wieder ausgleichen. Was mich am meisten an seinem Habitus verdroß, war, daß er in baumwollenen Hemdärmeln herankam, die noch dazu bunt gewürfelt waren.

›Ist das Ihr Sohn, der uns aufgeschlossen hat?‹ begann ich das Zwiegespräch.

›Jawohl! Mein Sohn und mein Schüler!‹ sagte er frech auftrumpfend.

›Er spricht nicht sehr für Ihre Erziehung. Er lügt wie gedruckt. Oder besser wie geschrieben!‹ fügte ich hinzu und zeigte auf die Schultafel.

Der Kerl zuckte mit den Achseln und lachte jetzt ebenso frech und höhnisch wie sein Junge vorhin, so daß sie plötzlich einander ähnlich sahen. Ich muß gestehen, daß mich ein derartiges Lachen immer unangenehm berührt. Aber in dieser Lage erregte es mich, ohne daß ich es selbst merkte, nach und nach bis aufs äußerste.

›Das ist eine schöne Erziehung, die Sie den Kindern angedeihen lassen! Schämen Sie sich nicht, derartige verlogene Gemeinheiten in die weichen jungen Gemüter zu senken und solchen Haß von Mensch zu Mensch auszusäen? Und das im zwanzigsten Jahrhundert! Und das gegen Leute, deren Sprache Sie sprechen und verstehen, deren Wesen Sie also kennen müssen!‹

Er zuckte wie vorhin mit den Achseln und blieb ganz ruhig, je aufgeregter ich sprach und wurde.

›Das sind Ansichtssachen!‹ gab er dann kalt zur Antwort. ›Sie können mir nicht befehlen, wie ich die französische Jugend zu unterrichten habe.‹

›Nein! Leider nein! Und Ihnen und Ihresgleichen werden wir es zu verdanken haben, wenn in fünfzig Jahren wieder ein solch grausamer Krieg unsere beiden Völker dezimieren wird. Aber solang wir in Ihrem Lande zu weilen das Vergnügen haben, verbiete ich mir solchen Unfug. Eine nette Ehrenpforte für unsereinen! Ich danke für das Willkommen, das Sie dort hingemalt haben! Sie werden es auf der Stelle auslöschen!‹

›Meinetwegen!‹ sagte, er mit Absicht ganz leise, während ich in meinem gerechten Zorn ihn zuletzt fast angeschrien hatte. Er kramte scheinbar in dem Kästchen herum, das für Schwamm und Kreide unten an der Tafel hing. ›Es ist kein Schwamm mehr da‹, bemerkte er in gleichgültigstem Ton. ›Man braucht ihn vermutlich für andere Zwecke. Ihre Leute scheinen sich in Frankreich endlich einmal waschen zu wollen‹, fügte er hinzu, wobei er wieder in sein freches, höhnisches Grinsen kam.

Diese unverschämte Bemerkung, die ewige törichte Anspielung der Franzosen auf die Unsauberkeit der Deutschen, die sie offenbar aus früheren Jahrhunderten herleiten müssen, denn heutzutage sind sie in allem, was die Reinlichkeit betrifft, weit hinter uns zurück, die empörte mich vollends.

›Was unterstehen Sie sich!‹ brüllte ich ihn zur Ordnung: ›Sie scheinen den Ernst Ihrer Lage nicht zu begreifen!‹

›Also gut!‹ sagte er und zuckte wieder mit den Achseln vor Ungeduld. Er wandte sich stumm mit dem Rücken an die Tafel und wollte mit ihm, retrospektive mit seiner unehrerbietigen Verlängerung die von ihm hingeschriebene Beschimpfung auswischen. Die Geringschätzung, die in dieser Bewegung lag, die er noch mit seinem unverschämtesten anzüglichen Lächeln begleitete, wirkte auf mich wie der bekannte letzte Tropfen, der ein Gefäß zum Überlaufen bringt.

›Halt!‹ rufe ich. ›Zurück von der Tafel!‹

›Was wollen Sie denn eigentlich? Es geht ja nicht anders‹, bemerkt er und grinst wieder vor sich hin.

›Doch!‹ sage ich. ›Es geht noch anders!‹ Und zu meinem Burschen gewandt, frage ich ihn: ›Haben Sie Ihren Revolver bei sich, Schmitz?‹

Mein Bursche legt die Hände an die Hosennaht und steht stramm vor mir und vor sich selbst: ›Zu Befehl, Herr Oberleutnant.‹

›So geben Sie acht. Dieser Herr hier,‹ ich deutete wütend mit dem Kopf auf meinen französischen Kollegen, der an der Tafel stand und neugierig frech auf das hörte, was ich ausgeheckt hatte, dieser Herr da wird jetzt vor Ihren Augen das ablecken, was er da an die Tafel geschrieben hat. Bis zum letzten Buchstaben, hören Sie! Wenn er sich weigern sollte, haben Sie ihn sofort niederzuschießen. Verstanden?‹

›Zu Befehl, Herr Oberleutnant!‹ bestätigte der Bursche, und ich sah seine Augen vor Befriedigung dabei blitzen.

›Aber mein Err, mein Err – –!‹ stammelte der lange bleiche, schlacksige Kerl an der Tafel.

›Ruhig‹, schnitt ich jeden weiteren Vorwurf ab. ›Ich komme in fünf Minuten zurück. Dann ist der Fall, so oder so, erledigt, Schmitz. Verstehen Sie?‹

›Zu Befehl, Herr Oberleutnant!‹

Ich wandte mich zum Gehen. Von der Tür aus sah ich noch mit einem Seitenblick, wie mein Missetäter mit seiner Zunge einen Buchstaben nach dem andern von den Schmähungen, die er dort gegen uns ausgestoßen hatte, ableckte und wieder in sich zurückschluckte. Sein Bart wackelte dabei hin und her, so daß er völlig einer weidenden Ziege glich. Von ihm wegschauend, blieben meine Augen an den Gipsköpfen von Voltaire und Rousseau hängen, die wie die beiden Schutzpatrone der französischen Jugend über der Klassentür wachten.

›Verzeihen Sie, meine Herren!‹ sagte ich und grüßte militärisch wie zu zwei Vorgesetzten hinauf, ›daß ich Sie zu Augenzeugen dieses unwürdigen Schauspiels machen muß! Aber Sie dürfen mir alle beide auf den Kopf fallen, wenn diese Lektion dort nicht verdient ist!‹

Sie taten es nicht. Sie schwiegen miteinander und ließen mich ruhig hinausgehen, indes der Übeltäter an der Menschheit abgestraft wurde.

Das ist meine einzige Roheit im Kriege gewesen. – Soviel ich weiß!« fügte Parallelepipedon vorsichtigerweise hinzu.


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