Paul Ernst
Geschichten von deutscher Art
Paul Ernst

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Gewissensbisse

In einer kleinen Stadt Deutschlands lebte in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts ein Student der Theologie, wir wollen ihn Wilhelm nennen.

Die Entfremdung des protestantischen Volkes von der Kirche hatte schon begonnen, aber in der entlegenen Gegend von Wilhelms Heimat war doch immer noch ein gewisses Gemeindeleben vorhanden. In dem Städtchen war die wichtigste Persönlichkeit ein Fabrikbesitzer, wir wollen ihn Claus nennen. Der Mann hatte eine sehr gute Bildung und war sehr kirchlich: ein ernster, strenger Mann von damals etwa fünfzig Jahren, verwitwet. Sein Sohn, ein tüchtiger, kluger und liebenswürdiger Jüngling, war im Geschäft mit tätig; seine Tochter war in glücklicher Ehe an einen Universitätsgelehrten verheiratet.

An einem Ostersonntag verließ Claus mit Wilhelm zugleich die Kirche. »Sie wollen ja nun auch Pastor werden«, sagte Claus. »Glauben Sie denn, daß der Pastor, den wir eben hörten, weiß, was die Auferstehung des Herrn bedeutet?«

Wilhelm erwiderte wohl etwas, das seine Verwunderung über die Frage ausdrückte. Claus sagte: »Ja, Sie sind ja nun ein junger Mann, Sie haben noch nichts erlebt, Sie können das auch nicht wissen.« Er forderte den Andern auf, ihn zu einer bestimmten Stunde zu besuchen. Er sagte: »Ich muß zu Jemandem sprechen. So will ich denn Ihnen das sagen, was ich mitzuteilen habe. Einen Beichtiger muß der Mensch haben. Und Sie sind ein junger Mann von Ehre, bei Ihnen wird das Geheimnis gut aufgehoben sein.«

Der Fabrikbesitzer empfing den Studenten in seinem Kontor, einem schmucklosen Raum, in dem nur das Schreibpult, der Geldschrank und ein Tisch mit zwei Stühlen waren. Auf dem Tisch stand eine Flasche Wasser mit zwei Gläsern. Claus begann unvermittelt zu erzählen.

»Ich habe als junger Mann unter schwierigsten Verhältnissen angefangen. Damals besuchte mich ein Besitzer einer sehr großen Unternehmung in geschäftlichen Angelegenheiten. Ich zeigte ihm meine Anlage; dabei fiel ihm auf, daß ich eine große Menge Bruch auf einer Halde liegen hatte. Er fragte mich: »Weshalb verwerten Sie ihn nicht? Sie selber haben ja in Ihrem Betrieb nicht die Maschinen dazu, aber Sie können ihn doch verkaufen. Ich selber kaufe öfters Bruch ein, durchschnittlich zu 300 Mark den Waggon.« Ich erwiderte, ich habe keinen Abnehmer gefunden. Nun erinnere ich mich genau, noch heute weiß ich es, daß ich ihm den Vorrat für 300 Mark den Waggon loco seiner Fabrik verkauft habe. Aber ich habe nichts Schriftliches abgemacht, das wäre mir peinlich gewesen.

Nun, ich schicke dem Mann seine Ware zu. Ich weiß es noch heute, etwa siebenhundert Mark Unkosten hatte ich. Er schreibt mir einen erstaunten Brief, er habe keine Verwendung, es müsse da ein Irrtum vorliegen, die Waggons seien auf seinen Gleisanschluß geschoben, und er müsse mir die Ware zur Verfügung stellen.

Das sind so Geschäftskniffe. Davon wußte ich damals noch nichts. Kurz und gut, es kamen noch Prozeßkosten dazu, ich war meinen Bruch los und hatte noch einen Barverlust von etwa neunhundert Mark. Der Andere hatte natürlich Verwendung, er bekam die Ware fast umsonst.

Der Verlust war in meinen damaligen Verhältnissen ein schwerer Schlag für mich. Ich wurde fast tiefsinnig. Ich hatte eben geheiratet, meine Frau hatte ich sehr lieb, ich mochte ihr Nichts von meinen Sorgen sagen.

Ich war hoch versichert. Wie das so geht, mein Lager war zur Zeit sehr klein; wenn ich abbrannte, so machte ich ein gutes Geschäft. Ich war an einem Sonntagnachmittag allein in der Fabrik, da machte ich mir das klar.

Ich hatte vor Kurzem elektrisches Licht legen lassen. Plötzlich war es mir wie eine Ahnung: »geh auf den Boden, sieh nach, es ist etwas nicht in Ordnung.« Ich bezwang mich, ich ging nicht auf den Boden. Ich sagte mir, das weiß ich noch heute: »die Menschen, das ist alles eine Spitzbubenbande. Wenn ich abbrenne, weshalb soll ich das Geschäft nicht machen? Weshalb soll ich der Versicherungsgesellschaft Etwas schenken? Mir hat auch noch Niemand Etwas geschenkt.«

Noch heute weiß ich: ich habe noch nie so tief geschlafen, wie diese Nacht. Meine Frau rüttelte mich, der Pförtner stand vor dem Bett; sie riefen: »Die Fabrik brennt.«

Nun machte Claus eine lange Pause. Dann schluckte er und fuhr fort:

»Also mein Bodenmeister schlief in der Fabrik mit seiner Familie. Er hatte die Mansardenwohnung. Er war jung verheiratet, wie ich, und hatte einen kleinen Sohn. Als ich aus dem Hans trat, hörte ich schon die Feuerwehr anrasseln. Die Flammen schlugen um das Dach und spitzten sich hoch. Der Bodenmeister stand mit seiner Frau am Fenster, die Frau hatte das Kind im Arm. Ich rief ihm zu, er ließ einen Bindfaden nieder, an den band ich ein Drahtseil, das ich da liegen hatte. Er zog es hoch und befestigte es am Fenster, dann ließ er sich nieder. Die Frau stand oben am Fenster, und wagte nicht, herauszusteigen, der Mann sah seine blutig zerrissenen Hände an. Es war höchste Eile nötig, so kletterte ich selber hoch, nahm die Frau mit dem Kind in den Arm und ließ mich mit den Beiden am Seil auf die Erde zurück. Nun, und dann . . . dann ist das Kind gestorben. Es hatte sich in der Nacht eine heftige Erkältung geholt.

Meine Versicherung bekam ich ausbezahlt, auf den Heller. Ich habe dann Glück gehabt mit meinem Geschäft; Sie wissen, ich bin heute ein reicher Mann. Aber das Gewissen hat mir keine Ruhe gelassen, seitdem.

Sehen Sie, der Bodenmeister sagt, ich habe seine Frau gerettet. Gut. Seine Frau hat wieder ein Kind bekommen, wieder einen Jungen. Ich habe ihn studieren lassen, er ist jetzt Privatdozent, ich habe ihm meine Tochter zur Frau gegeben.

Sehen Sie, was mich so bedrückt, das ist, daß man so furchtbar einsam ist. Ich habe ein Verbrechen begangen. Dafür muß ich meine Strafe haben, das ist mein Recht. Mein Recht muß ich haben. Aber wenn ich zum Staatsanwalt gehe – das hat doch keinen Zweck! Er sagt mir: »Sie haben ja Nichts begangen, wir können da nicht einschreiten, was wollen Sie? Und zum Pastor – ja glauben Sie denn, daß er weiß, was die Auferstehung des Herrn bedeutet?«

Wilhelm verstand nicht, in welchem Zusammenhang die Lehre von der Auferstehung Christi mit dem Geschehnis stehen sollte, welches Claus erzählte. Aber er wagte nicht, zu fragen. Die Verzweiflung des Andern hatte ihn tief erregt.

Es war, als ob der Andere die Gedanken Wilhelms spüre. Er sagte: »Wenn mir mein Recht nicht wird, dann ist Christus für mich nicht auferstanden. Das muß man verstehen, daß Christus auferstanden ist. Das ist ja doch nicht so eine Geschichte, die vor fast zweitausend Jahren in Jerusalem geschehen ist, daß ein Rabbi unschuldig gekreuzigt wurde und dann von den Toten auferstand. Was geht mich das an? Es werden viele Menschen unschuldig gekreuzigt, täglich, stündlich.«

Claus fuhr fort: »Was soll ich tun? Ich habe gedacht: ich bin Mitglied der Synode. Ich stehe in einer Sitzung auf und sage: »So und so, ich bin ein Brandstifter und ein Kindsmörder.« Was geschieht? Die Leute halten mich für verrückt.

Oder ist das auch nur Feigheit von mir, daß ich das nicht tue?

Aber nun habe ich doch auch meine Kinder. Gute Kinder. Wenn ich nun auftrete und sage, was ich getan habe, dann fällt ein Fleck auf sie, dann wissen das alle Leute und zeigen auf sie; wie sollen sie dann leben? Mein Sohn ist ein stolzer Mensch, und meine Tochter, ja, es war ja doch das Brüderchen ihres Mannes, das ich ermordet habe!«

Claus sah Wilhelm fragend ins Gesicht; Wilhelm schwieg. Claus sagte: »Ich erzählte Ihnen ja das nicht, damit Sie mir einen Rat geben sollen. Das können Sie gar nicht. Nur: ich muß einem Menschen beichten. Und Sie sind ein unschuldiger Mensch. Sie verstehen mich, zu Ihnen kann ich sprechen.«

Er fuhr fort: »Es geschieht täglich und stündlich Unrecht in der Welt. Ja, die Welt könnte ohne das Unrecht nicht bestehen, das geschieht. Und vielleicht spüren das manche Menschen gar nicht; wenn sie Unrecht tun – ich weiß das nicht, denn Niemand kann in der Andern Seele schauen. Aber in mir, in mir brennt das Gericht.

Ich habe mir Etwas ausgedacht. Für meine Kinder ist gesorgt. Mein Sohn kann die Fabrik selbständig führen. Ich will heimlich die Stadt verlassen und nach Amerika gehen. Dort will ich harte Arbeit tun, die ich nicht gewohnt bin, Handarbeit. Ich lebe ganz dürftig. Alles Geld, das ich erübrige, schicke ich an den Bodenmeister. Ich richte mir das so ein, daß es ist, als wenn ich vom Gericht zu Zuchthaus verurteilt bin. Ihnen vertraue ich an, wo ich wohne. Sie sollen mir Nachricht geben von hier, denn ich will doch wissen, wie es meinen Kindern geht, das weiß ein Zuchthäusler doch auch.«

Claus verschwand plötzlich aus der Stadt. Niemand wußte, was geschehen war; man nahm schließlich irgend einen Unglücksfall an.

Der Bodenmeister bekam aus Amerika eine Geldsendung von einem Unbekannten. Nach einiger Zeit kam eine neue Sendung. Zuletzt erhielt er jeden Monat an einem bestimmten Tag eine Summe.

Der Mann besprach sich mit seiner Frau, mit dem Sohn; er schrieb an die aufgegebene Anschrift des Unbekannten, aber er bekam keine Antwort. In dem Städtchen wurde über die sonderbaren Geldsendungen gesprochen, allmählich gewöhnte man sich an den Zustand.

Die Frau des Bodenmeisters sagte zu ihrem Mann, ihr Sohn sei nun doch ein Universitätsgelehrter, da schicke es sich nicht für sie, daß sie nur eine Stube und Küche habe; sie müsse nun auch eine gute Stube einrichten, wenn etwa einmal Besuch komme, daß man den hineinführen könne; und das Geld sei ja da. Dann klagte sie ihrem Mann, daß sie älter werde und der Arbeit nicht mehr so recht verstehen könne; sie müsse sich ein Mädchen nehmen, das ihr bei der Hausarbeit helfe, wie es andere Leute ihres Standes auch haben.

Der Student war inzwischen älter geworden. Er hatte keine Pfarrstelle gesucht, denn es schien ihm nicht möglich zu sein, Seelsorge zu üben; er war nun Lehrer an dem Gymnasium des Orts. Er schrieb pünktlich jedes Vierteljahr an Claus einen Brief, in welchem er über das Ergehen seiner Kinder und Enkel berichtete. So schrieb er auch über die Wirkungen des Geldes bei dem Bodenmeister.

Claus schrieb zurück: Solche Wirkungen habe er erwartet. Aber er sei nicht verantwortlich für sie. Der Wille des Menschen sei frei, und so beginne mit jedem Menschen eine neue Kette von Ursachen. Was die Leute mit dem Geld machten, das er schicke, ob sie sich vielleicht Bedürfnisse angewöhnten, die sie später nicht mehr befriedigen könnten, das sei nicht seine Sache. Ihm komme es nur auf seine eigene Seele an.


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