Paul Ernst
Geschichten von deutscher Art
Paul Ernst

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Ein Brief

Ein junges Mädchen aus einer vornehmen alten Familie, die in geringen Umständen lebte, hatte sich mit einem reichen jungen Mann verlobt, der wohl bürgerlicher Herkunft war, aber in der guten Gesellschaft gleichberechtigt verkehrte. Sie schrieb ihm folgenden Brief, durch welchen sie die Verlobung aufhob.

»Ich bitte Dich, was ich jetzt schreibe, mit ruhigem Gemüt zu lesen. Dieser Brief wird mir sehr schwer, und ich möchte, daß Du ihn in derselben Gesinnung läsest, in welcher er geschrieben ist.

Erinnere Dich an den Abend, da wir uns das erste Mal sahen. Es war in einer Gesellschaft bei meinem Oheim. Du wirst wohl heimlich über die Spießigkeit gelächelt haben, die mir damals noch nicht zum Bewußtsein gekommen war: die braven Familienzimmer ausgeräumt, der Lohndiener in leicht speckigem Frack, die üblichen Gänge doppelt armselig durch die damals schon drückenden Kriegsverhältnisse, und die Gesellschaft von Geheimräten. Jeder im Kopf überschlagend, was nun ihn die nächste Gesellschaft kosten werde. Wir saßen neben einander, meine gute Muhme hatte wohl gedacht, daß Du ein angenehmer Tischherr für mich sein könntest, denn ich galt als etwas Besonderes in der Familie; zuerst sprachst Du, wie die Herren immer sprechen, dann merktest Du aus meinen Antworten wohl, daß ich anders war, zuletzt weißt Du, sprachst Du über Goethes Pandora, die mir das liebste Werk von Goethe ist. Du bist der erste Mensch gewesen, mit dem ich über die Dinge sprechen konnte, die mir wichtig sind; plötzlich merkte ich, daß ich nicht eine wunderliche Törin bin, wie ich bis dahin immer geglaubt, damals schon gewann ich Dich lieb. Ich liebe Dich ja auch noch heute. Ja, das muß ich sagen, daß ich Dich liebe. Aber ich kann nicht Deine Frau werden.

Verzeih, Lieber, es ist mir eine Träne auf das Papier gefallen.

Durch Dich habe ich erfahren, daß es eine Welt giebt, in der ich leben könnte, denn in der Welt meiner Angehörigen könnte ich nicht leben. Weißt Du noch, wir sprachen einmal darüber; Du sagtest, ich wisse nicht, was völlige bürgerliche Rechtschaffenheit bedeutet, sie ist wie das Brot, sagtest Du, das man täglich ißt, das man für selbstverständlich hält; man denkt nicht, daß man nicht leben könnte, wenn man das Brot nicht hätte. Heute, wo wir unsern Brotlaib einteilen müssen und Jedem sein abgezirkeltes Maß geben, denke ich viel an Dein Wort, ich gebe oft meinem kleinen Bruder mein Stück heimlich ab. Aber nicht das will ich erzählen. Du hast ja nie über meine Angehörigen gelächelt, über die ängstliche Mutter mit ihren Gesprächen von Schneidern und Flicken, den sparsamen Vater, der Alles nur daraufhin ansah, ob es den Staat Etwas kostete; ich war Dir dankbar dafür, daß Du nie lächeltest. Damals dachte ich nur, das ist Deine Güte und innere Freiheit, daß Du so bist. Du sagtest mir noch einen andern Grund. Ich begriff ihn damals nicht. Heute begreife ich ihn, und weil ich ihn heute begreife, deshalb schreibe ich diesen Brief.

Lies meinen Brief, wie er geschrieben ist, ich flehe Dich an. Du siehst die Tränenspuren; ich habe ihn mehrmals abgeschrieben, immer wieder tropften meine Tränen auf das Papier; so habe ich sie denn gelassen, ich habe gedacht: vielleicht sieht er an den Tränen, wie ich ihn liebe.

Du sagtest mir: ›Ein Vorfahr von mir war Unteroffizier im preußischen Heer. Er machte die Schlacht bei Jena mit und hat die Regimentskasse gestohlen. Von ihm rührt der Wohlstand meiner Familie her.‹ Ich lachte und küßte Dich und sagte: ›Was kannst Du für Deinen Vorfahren, was kann ich für meine spießbürgerliche Familie!‹ Du wurdest traurig und sagtest: ›Deine Worte sind richtig, aber mein Gefühl ist: ich müßte meinen Reichtum fortwerfen, denn er ist unrecht gewonnenes Gut. Ich weiß, daß ich redlich handeln will, daß ich den Reichtum gebrauche, um frei zu sein und nützen zu können; aber ich kann mein Gefühl nicht bezwingen.‹ Ich habe Dich oft schwermütig gesehen, Lieber, Guter; ich dachte: Deine Schwermut sucht sich irgend eine Ursache, und da sie nichts Anderes findet, so sucht sie dieses Entlegenste.

Ich möchte Dir nicht mitteilen, wie wir jetzt leben, aber ich muß es tun, damit Du mich verstehst. Mein Vater spricht nie über die neuen Verhältnisse; er hat einen Vorgesetzten bekommen, der früher Zigarettenarbeiter war. Einmal nur entfuhr ihm eine Bemerkung: ›Nun ist die Korruption auch in meinem Amt.‹ An einem Abend hörte ich zufällig eine sorgenvolle Beratung der Eltern; die Mutter wollte ein Pfund Butter kaufen, es sollte aber fünfzig Mark kosten. Sie sagte zu dem Vater: ›Was soll denn geschehen, wenn du krank wirst?‹ Er antwortete: ›Ich will nicht schwelgen.‹ Sie sprach von uns Geschwistern; du weißt, mein kleiner Bruder hat ein sonderbares Augenleiden bekommen, der Arzt erklärt es durch die Unterernährung und fürchtet, daß er blind wird, wenn wir ihn nicht besser nähren können; der Vater gab nach und erlaubte der Mutter, den Kauf zu machen. Ich glaube, wenn wir nicht wären, dann hätte er schon längst zur Pistole gegriffen.

Nun muß ich Dir sagen, daß ich meine Eltern früher nicht verstanden habe. In dieser Zeit lernt man sehr viel, überall neben uns werden die Menschen gemein. Ich habe jetzt Ehrfurcht vor meinen Eltern. Was ich Dir sagen will, das klingt wohl töricht romantisch, aber es ist mir Ernst. Ich habe mir schon gedacht, mit den Geschwistern zu sprechen und zu den Eltern zu gehen und zu sagen: ›Wir wollen alle zusammen sterben, wir können so nicht leben, wie die Menschen heute sind.‹

Verstehst Du nun, daß ich heute das ganz anders auffassen muß, was Du mir von Deinem Vorfahren erzählt hast? Gestern bei Tisch berichtete die Mutter von einer neuen Betrügerei. Sie hatte für zwölf Mark eine Büchse gekauft, welche ein Pfund Bohnen und Fleisch enthalten sollte, sie hatte sich ausgedacht, daß der Vater und meine beiden Brüder die Büchse zu Mittag essen sollten; als sie in der Küche den Deckel aufschneidet, findet sie nur weiße Bohnen in der Büchse, fast die Hälfte Wasser, und ganz hart. Sie weinte bei Tische, als sie das erzählte. Der Vater sagte: ›Der Mann wird reich, der diese Büchsen herstellt. So bildet sich die neue Aristokratie. Nach zwei, drei Geschlechtern heiraten diese Leute in unsere Familien hinein – wenn es sich ihnen noch lohnt.‹

Verzeih, Liebster, mir war, als ob der Blitz vor mir niederschlug; Du kannst nichts für Deinen Vorfahren, aber ich mußte an ihn denken, und dann an Dich. Ich muß Dir ja schreiben, Du bist ja der edelste Mensch, den ich je getroffen, Du verstehst mich, nicht wahr? Ich kann nicht Deine Frau werden.

Ich weiß, daß Jemand mir sagen kann: ›Wenn Du die rechte Liebe hättest, dann müßtest Du darüber hinwegkommen.‹ Ich habe mich gefragt, ob er recht hätte. Sieh, ich könnte mich Dir ganz opfern, wenn es nötig wäre. Aber es ist nicht möglich, daß meine Kinder Deinen Vorfahren haben. Du verstehst mich, nicht wahr? Ich kann ja nicht anders, ich würde Dich ja zerstören, wenn ich mich zwänge.

Ich glaube nicht, daß ich diese fürchterliche Zeit überlebe, meine Angehörigen werden auch sterben. Wir sind zu erschöpft; es wird einmal eine heftige Grippe kommen, der werden wir zum Opfer fallen. Für Dich möchte ich, daß Du wirken und nützen könntest, denn irgend welche gute Menschen müssen doch übrig bleiben, damit unser Volk einmal wieder gut wird; und dann möchte ich, daß Du später glücklich würdest. Du bist schwermütig, ich bin nicht leicht genug für Dich, ich bin selber schwer; Du müßtest eine ganz heitere Frau haben. Du wirst mich ja nicht so ganz schnell vergessen, nicht wahr? Auch später wirst Du ja wohl noch an mich denken? Aber wenn eine Weile vorübergegangen ist, dann findest Du vielleicht eine Frau, die besser für Dich paßt wie ich. Deinen Ring schicke ich Dir zurück; aber ich bitte Dich, meinen Ring zu behalten. Ich bin Dir für immer anverlobt, aber Du bist frei.

In Liebe Deine . . . . . . .«


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