Paul Ernst
Geschichten von deutscher Art
Paul Ernst

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Hölderlin

Ich war bei einem Freunde zu Besuch, der als sehr alter Mann still und zurückgezogen in einer Universitätsstadt lebt. Wir hatten von den Umwälzungen in Deutschland gesprochen, von den tiefen Veränderungen, die sie im Wesen des deutschen Volkes hervorbringen; und indem wir an Rußland dachten, wo das Volk in ganz ähnlicher Weise sich völlig verändert, hatten wir davon gesprochen, ob das wohl in der Art roher und junger Völker liege, daß ihr Wesen noch nicht feststehe, sondern unter äußern Einflüssen sich leicht wandle.

Ich stand am Fenster und sah auf die Straße. Da ging ein Pärchen vorüber, ein Student mit einem jungen Mädchen, wohl eine Studentin. Die Beiden waren in bloßem Kopf, mit Rucksäcken, der junge Mann in Kniehosen, das Mädchen in kurzem Lodenrock; sie trugen beide schwer mit Eisen beschlagene Schuhe; der junge Mann ging einen halben Schritt vorauf und das Mädchen folgte ihm hastig. Ich rief meinen Freund an das Fenster und zeigte ihm die Beiden. »Betrachten Sie die Züge des Mädchens«, sagte er; »sie sind unfroh, fast könnte man sagen, sorgenvoll; sie sind tief eingegraben; betrachten Sie die schlenkernden Bewegungen der Arme, den weiten Schritt, das nicht federnde Auftreten der Füße, die Haltung des Körpers, welche das Tragen einer Last anzudeuten scheint. Darf man sich wundern, daß die Gemeinheit überhand nimmt, wenn man sieht, wie weibliche Anmut, Zaghaftigkeit und Heiterkeit verschwinden?« Wir sprachen von den Anschauungen über Liebe, Freundschaft und Kameradschaft, die in manchen jugendlichen Kreisen herrschen, nicht in den schlechtesten, wo man vergessen hat, daß die Jungfräulichkeit etwas Heiliges ist, daß ein Mädchen sich einem Mann nur geben darf, wenn sie sich ihm für immer gibt, der Mann ein Mädchen nur begehren, wenn er an einen ewigen Bund denkt über das Grab hinaus, an Kinder und Kindeskinder; und wir kamen dann auf die letzten Ursachen dieser Erscheinungen, die in dem Entstehen des Proletariats liegen, einer Klasse, welcher alle Voraussetzungen der Freiheit und Menschenwürde fehlen, und die es verstanden hat, in steigendem Maße dem gesamten Volk ihr Wesen aufzuprägen im Namen eben von Freiheit und Menschenwürde. Die beiden jungen Leute waren längst mit schweren Schritten die Straße hinunter gegangen und bogen eben um eine Ecke. Mein Freund wies auf das Mädchen und sagte: »Das unglückliche Wesen glaubt freier zu sein wie ihre Mutter und Großmutter, dem Mann gleich zu sein, das Höchste erreichen zu können, der junge Mann glaubt treuherzig, daß er ihr Freund ist; die Beiden haben nichts erreicht, als daß sie den Lebenszweck des Proletariats zu dem ihrigen gemacht haben: jedes ein Mittel zu sein für die gemeinen Bedürfnisse des Andern und dadurch sich selber und den Andern zu zerstören.«

Wir schwiegen eine Weile, wir dachten in diesen Dingen dasselbe. Mein Freund hatte sich in seinen Lehnstuhl zurückgesetzt, der mir noch aus seinem väterlichen Hause vertraut war, dann erzählte er eine Geschichte aus seiner Jugend. Er hat über ein Menschenalter mehr wie ich, er hat noch die unerschütterte bürgerliche Zeit unseres Volkes mit Bewußtsein erlebt.

»Unser Heimatsort war ein Städtchen von etwa zehntausend Einwohnern. Die Leute ernährten sich vom Bergbau, der auf staatlichen Gruben betrieben wurde. Der weitaus größte Teil der Bewohner wurde deshalb durch die Bergleute gebildet. Außer ihnen gab es die nötigen Handwerker, dann einige Kaufleute. Landwirtschaft konnte nicht betrieben werden, weil die Gegend zu rauh war; aber rings um die Stadt lagen Wiesen, und ein Teil der Bergleute hatte ein kleines Häuschen, ein paar Morgen Wiese und eine Kuh oder zwei. Die obere gesellschaftliche Schicht wurde durch die höheren Beamten und übrigen Studierten gebildet; es waren die Bergverwaltung und obere Forstbehörde für einen größeren Bezirk am Ort, ein Landratsamt, ein Amtsgericht, eine höhere Schule; dazu kamen mehrere Ärzte. Die unteren Beamten waren früher viel weniger zahlreich wie heute, sie machten sich nicht besonders bemerkbar.

Wir werden ja heute einer höheren Gesellschaft von der Art, wie sie für diese Kleinstadt geschildert ist, sehr zweifelnd gegenüber stehen. Die Studierten sind heute gesellschaftlich gesunken, an ihre Stelle sind die Fabrikanten und Kaufleute jeder Art getreten, bei denen nicht mehr die Persönlichkeit das Ausschlaggebende ist, sondern der Reichtum. Damals waren die Menschen natürlich nicht an sich klüger wie heute; aber in einer solchen Gesellschaft waren doch eben die Voraussetzungen der höheren Bildung gegeben, sie lebte einfach und in natürlichen Verhältnissen, die Einzelnen stellten nicht falsche Ansprüche an das Leben und hatten dadurch Zeit, sich mit Geistigem zu beschäftigen. Die untern Schichten merkten, daß die höheren persönliche Eigenschaften hatten, die ihnen abgingen, und erkannten deshalb willig ihre Überlegenheit an. Es gab also keinen Neid und Haß der Unteren, dadurch auch nicht Mißtrauen und Furcht der Oberen.

Man konnte die obere Schicht aus etwa fünfundzwanzig Familien berechnen. Zählte man die Kinder mit, rechnete man die unverheirateten jungen Männer mit ein, so konnte man etwa anderthalb hundert Menschen annehmen, die sich und ihre Verhältnisse gegenseitig genau kannten und unter einander mehr oder weniger befreundet waren. Was das bedeutete, das macht man sich heute nicht mehr klar. Damals wurden die Beamten noch nicht auf weite Strecken versetzt, sie blieben in ihrer Heimat; und so gingen denn die Beziehungen nicht bloß zu den augenblicklich Lebenden, sondern es war ein weites Gespinst von Beziehungen vorhanden, daß über die Zeiten zurückreichte, zu Eltern, Großeltern und Urgroßeltern. Man nannte in unserm Staat eine Familie, die schon seit Generationen, so weit man sich entsinnen konnte, zu der herrschenden Klasse gehörte, eine ›hübsche Familie‹. Die ›hübschen Familien‹, das war also eine Aristokratie, die sich ganz natürlich gebildet hatte, wie auch unter den Handwerkern und Bergleuten eine Aristokratie war. Vielleicht das letzte Überbleibsel dieser Gesellschaftsverfassung vor der Revolution war der Offizierskörper; denn der Lehrkörper an unsern Universitäten ist ja schon längst zersetzt.«

Als mein Freund seine Geschichte beginnen wollte, da unterbrach er sich plötzlich und sagte: »Was will ich eigentlich erzählen? Es ist ja Nichts, das geschehen ist, wenigstens Nichts, das ich erzählen kann; aber vielleicht glückt es mir, die Worte zu finden, welche einen Eindruck von dem erzeugen können, was vorging, von den Menschen, von Gesinnungen, die nun unwiederbringlich verloren sind.

Es kam ein junger Gerichtsassessor in das Städtchen namens Schlözer. Er stammte aus einer hübschen Familie. Sein Vater war Landrichter, sein älterer Bruder war Arzt, sein Großvater war Kreisarzt gewesen.« Mein Freund wollte ihn schildern, er wurde ungeduldig und sagte: »Nun, damals sah man gut aus in unsern Kreisen und hatte anständige Formen. Schlözer las viel und brachte eine schöne Bibliothek mit. Es lebten mehrere junge Mädchen in dem gesellschaftlichen Kreis, welche in dem Alter waren, daß sie an Verlobung und Ehe denken konnten; zwei von ihnen waren schon verlobt, von dreien wußte man, daß junge Männer des Kreises sich um sie bewarben; nur ein Mädchen war frei, das einzige Kind des Landrats, ein Fräulein von Oppen.

Die Familie von Oppen hing mit Familien zusammen, die in der romantischen Zeit für unser Schrifttum bedeutend gewesen waren; der Landrat hatte eine große Bibliothek, die, von Vater und Großvater geerbt, sorgfältig gepflegt und vermehrt wurde; er bewahrte alte Briefsammlungen und Tagebücher auf; am Abend versammelte sich die Familie um den runden Tisch, die Frauen hatten eine weibliche Arbeit, der Vater las aus einem Dichter vor. Er hatte eine Vorliebe für die italienische Dichtung, er las italienisch, ebenso wie Frau und Tochter; damals konnte man noch nicht so einfach nach Italien reisen, die drei Leute waren nie in dem Lande gewesen, dessen Dichter sie so verehrten, aber sie hatten viele Bilder von Städten und Kunstwerken gesehen und wußten sich vorzustellen, was ihnen so lieb und teuer war.

Fräulein von Oppen war damals etwa zwanzigjährig, eine schlanke Blondine mit feinem Gesicht, guten und großen blauen Augen und starkem aschblonden Haar.

Assessor Schlözer machte seine Besuche in den Familien, er wurde freundlich aufgenommen, man erkundigte sich nach den Angehörigen, alte Herren erzählten aus der Universitätszeit, wo sie mit dem Vater des jungen Mannes zusammen gewesen waren; die Frauen wußten bald, daß er noch nicht weiblich gefesselt war; es war augenscheinlich, daß er nach seinem ganzen Wesen zu Fräulein von Oppen paßte, und wenn auch in dem Kreise nicht gerade erzählt wurde, daß die Beiden sich demnächst verloben würden, so wurde doch darüber gesprochen, daß eine solche Verlobung wahrscheinlich und natürlich sei, und daß Jeder die beiden wohlgeratenen jungen Personen einander gönnte.

Die Deutschen haben es ja nie zu einer gesellschaftlichen Form, einem Übereinkommen gebracht. Damals, auf dem Höhepunkt des Bürgertums, hatte sich so Etwas herausgebildet, aus dem sich ein Übereinkommen vielleicht hätte entwickeln können, wenn es natürlicher gewesen, wenn die Idee, welche das Bürgertum beseelte, weiter getragen hätte. Man hatte das, was man die »Geselligkeit« nannte: jede Familie gab einmal oder auch zweimal im Jahre eine Gesellschaft, in der man zunächst ein bescheidenes Festmahl genoß und dann die Älteren sich zu Spiel und Unterhaltung setzten, indessen für die Jüngeren das größte Zimmer zum Tanz ausgeräumt wurde; man veranstaltete gemeinsame Ausflüge im Sommer, Schlittenfahrten im Winter; dazu kamen noch gelegentliche Einzelbesuche der Familien unter einander oder der jungen Herrn in Familien, denen sie nahe standen. Es war herkömmlich, daß Verlobungen bei den größeren Veranstaltungen geschahen: bei Gesellschaften, wo das Paar neben einander saß, bei Schlittenfahrten und Ausflügen, wo der junge Mann sein Mädchen führte.

Ein solcher Zustand hat als Voraussetzung allgemeine Harmlosigkeit und guten Sinn, ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und Gemeinschaft, wie es in einer großen Familie sein mag; und in Wahrheit bildeten ja die »hübschen Familien« auch eine einzige Großfamilie, zu der die untern Schichten in irgend welchen menschlichen Beziehungen standen.

So nahm denn nun auch hier die ganze Stadt Anteil an den beiden jungen Leuten, die für einander bestimmt schienen. Bei jeder Gesellschaft wurden sie zusammengesetzt, bei Ausflügen wurde es immer so eingerichtet, daß sie zu einander kamen. Man freute sich des stattlichen und vornehmen Paares. Nicht eine Anspielung wurde gehört; aber man fand es selbstverständlich, daß die Beiden sich immer fanden.

Wir verfälschen die Geschehnisse immer, wenn wir sie uns begrifflich klar zu machen suchen. Was nennen wir Liebe? Die beiden jungen Leute liebten sich. Sie hatten sich gefunden in einem Gespräch über die Verse am Anfang des Paradiso:

Perchè appressando se al suo disire
Nostro intelletto si profonda tanto,
Che retro la memoria non può ire.

Sie wußten, daß das, was diese Verse von der Seligkeit sagten, auf ihren Zustand paßte. Was kann von einem solchen Zustand einem Andern mitgeteilt werden? Nichts, denn er ist nur zu erleben, zu erleben von Menschen, welche die höchste seelische Spannung haben – von der freilich die unglücklichen Menschen heute nichts mehr ahnen. Stellen wir uns vor, wie der Schlitten vor dem Haus der Geliebten hält, der Jüngling die Treppe hinaufsteigt, die Tür öffnet; die Jungfrau, welche ihn erwartet, kommt ihm entgegen mit dem Muff, in Pelzjäckchen und Pelzmütze, mit leuchtenden Augen; die Beiden gehen nebeneinander die Treppe hinunter, der Jüngling reicht dem Mädchen die Hand, sie gibt ihm drei Finger und springt in den Schlitten, dann springt er nach, ordnet Pelze und Tücher, knüpft die Decke zu, der Kutscher hinter ihnen treibt die Pferde an, und klingelnd fliegt das Gespann auf der glatten Bahn fort, trifft sich mit andern Gespannen, und bald fliegt die lange Reihe im Freien weiter und weiter. Ängstlich drückt sich das Mädchen zur Seite, um den Nachbar nicht allzu sehr zu berühren, scheu hält der Jüngling sich auf seinem Platz. Stellen wir uns dieses Bild vor und denken wir an das andere Bild des Mädchens, das wahrscheinlich nicht mehr Jungfrau ist, die in schweren Schuhen und mit hängenden Schultern einen halben Schritt hinter dem jungen Mann herschreitet: dann sehen wir die Unmöglichkeit ein, das Andere klar zu machen.

Damals lebte noch eine Sitte, die von den derberen Altvorderen übernommen war: das Schlittenrecht. Auf der Heimfahrt durfte der Herr seiner Dame einen Kuß rauben. Die Gesellschaft war zu einem entfernten Forsthaus gefahren; die Försterin hatte Kaffee gekocht, die Frauen und Mädchen hatten Kuchen mitgebracht, man hatte gegessen und getrunken, dann hatte man getanzt nach den Klängen eines alten Spinetts; auch die Försterin hatte es sich gefallen lassen müssen, mit umgedreht zu werden. Der Mond stand klar am Himmel, die Straße war hell, als man abfuhr. Die Reihe der Schlitten war nicht mehr geschlossen. Jeder war gefahren, wie die Herrschaften eingestiegen waren, so befanden sich denn unsere Beiden allein; hinter ihnen stand der Kutscher; auch er war mit in der unschuldigen Verschwörung der Stadt, gutmütig sagte er: »Das Schlittenrecht, Herr Assessor, ich sage es keinem wieder.« Lachend beugte sich der junge Mann über die Geliebte: da sah er in ihren Augen zwei große Tränen stehen, die Lippen zitterten, und sie blickte ihn flehend an. Er schreckte zurück, dann sagte er: »Ich bitte um Entschuldigung.« Sie drückte ihm unter der Decke dankbar die Hand.

Die Bäume standen im Rauhreif. Die Zweige waren tausendfach verästelt sichtbar, an jedem kleinsten Zweigstück waren die Eiskristalle angeschlossen. Der Schnee knirschte unter den Hufen der Rosse, es klirrte und rauschte in den Ästen, die abgestimmten Schellen der Pferde klangen. Ich habe nie wieder eine solche Winternacht erlebt.«

Unvermutet schloß mein alter Freund seine Erzählung mit dem Ich, und plötzlich wurde es mir klar, daß er mir unter fremdem Namen seine eigene Liebesgeschichte erzählt hatte. Er war unverheiratet. Ich fragte ihn: »Und hat Fräulein von Oppen später einen andern Mann geheiratet?« Er schüttelte den Kopf. »Ich habe sie kürzlich besucht, sie lebt noch in dem Städtchen. Das Städtchen ist noch das alte, aber die Menschen haben sich verändert.«

»Was ist das, was da geschehen ist?« fragte im Selbstgespräch mein alter Freund. »Wenn man meine Jahre erreicht hat, dann lebt man nicht mehr persönlich, man empfindet sein Leben als Gleichnis, wie man alles als Gleichnis empfindet, man ordnet es auch ein in die allgemeine Bewegung der Menschheit und weiß: magst du noch so unbedeutend sein, es hat sich doch in deinem Leben deine Zeit geäußert, wie sie sich in jedem Stuhl äußerte, den damals ein Tischler machte, in jeder Handschrift, die damals ein Mensch sich bildete.

Mir wurde es klar, als ich die Gedichte las, die heute erst, während des Krieges, aus Hölderlins Nachlaß herausgegeben wurden. Erst heute können wir Hölderlin verstehen.«

Mein Freund griff den Band aus dem Bücherbrett und las:

»Denn sie, sie selbst, die älter denn die Zeiten
Und über die Götter des Abends und Orients ist,
Die Natur ist jetzt mit Waffenklang erwacht,
Und hoch vom Äther bis zum Abgrund nieder
Nach festem Gesetz, wie einst, aus heiligem Chaos gezeugt,
Fühlt neu die Begeisterung sich,
Die Allerschaffende wieder.

Ja, für Hölderlin war die Natur erwacht; aber nur für ihn allein, für keinen Deutschen sonst:

Drum, wenn zu schlafen sie scheint zu Zeiten des Jahrs
Am Himmel oder unter den Pflanzen oder den Völkern,
So trauert der Dichter Angesicht auch,
Sie scheinen allein zu sein, doch ahnen sie immer.

Sie scheinen allein zu sein, dachte Hölderlin: er war allein. Wäre er nicht allein gewesen, wir hätten uns gefunden; aber in uns fühlte nicht neu die Begeisterung sich. Was waren wir denn? Wir waren arme, kleine Menschen, welche den Dichter brauchen, um zu leben; wir hatten den Dichter nicht.«

»Es sei richtig, was Sie sagen«, erwiderte ich. »Aber was haben die Menschen von heute?«


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