Paul Ernst
Geschichten von deutscher Art
Paul Ernst

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Die Frau des Bahnwärters

Ich saß mit meinem Freunde auf dem Balkon vor meinem Arbeitszimmer. Im Garten unter uns begannen die Frühäpfel an den Bäumen zu schwellen, die Zweige der Stachelbeersträucher bogen sich schwer zur Erde; an den Stangen blühten lustig weiß und rot die hochgekletterten Bohnen.

Über der Balkontür nistete ein Rotschwänzchen. Die Jungen waren schon recht groß und drängten sich in dem Nest; fleißig flogen die Alten ab und zu; wenn sie ankamen, setzten sie sich erst auf den Dachrand uns gegenüber und sahen mißtrauisch zu uns, ob wir sie auch nicht beobachteten; wenn sie uns in unser Gespräch vertieft bemerkten, dann huschten sie eilig auf den Rand des Nestes; ein allgemeines Schreien der Jungen begann; das eine Junge wurde befriedigt, alle verstummten, und die Alte flog wieder davon, um neue Nahrung zu holen.

»Wie friedlich das alles ist,« sagte mein Freund; »und doch ist jede Raupe, jede Fliege, welche der Vogel den Kleinen bringt, ein lebendes Wesen gleich ihm; wir hören den Jubel der Jungen, sehen die liebevolle Ängstlichkeit der Alten; aber der Jammer des zerrissenen Insekts dringt nicht an unser Ohr, seine verzweifelten Windungen sehen wir nicht. Alle drei Minuten etwa kommt das Männchen oder Weibchen mit Beute; vom Morgen bis zum Abend suchen sie für die fünf Jungen, deren gelbe Schnäbel wir von unten auf dem Rande des Nestes liegen sehen; wie viele Leben fallen im Laufe eines Tages qualvoll diesen Tierchen zum Opfer; und wir glauben ein anmutiges, heiteres Bild zu sehen, wenn das Männchen dort ängstlich mit dem Schwanz wippend und einen dünnen Ton ausstoßend mit seiner Fliege im Schnabel auf der Dachrinnenecke sitzt.«

Ohne einen Übergang zu machen, und doch offenbar durch die Vögelchen veranlaßt, erzählte mein Freund mir nun folgende Geschichte.

»Wir haben oft darüber gesprochen, wie wenig bedeutend für unser eigentliches Leben die Moral ist, deren angebliche Gesetze gewöhnlich als so wichtig hingestellt werden; und wie die Lehren unserer Kirche in dem schwankenden, vieldeutigen und umfassenden Begriff der Sünde so sehr viel tiefer sind, wie dieser bürgerliche Moralglaube. Wir haben einmal von der Lehre über die Sünde wider den Heiligen Geist gesprochen, die uns so dunkel und schauerlich erschien. Ich habe nun einen Vorfall erlebt, bei dem mir klar geworden ist, wie wir uns für unsere heutigen Vorstellungen dieses fürchterliche Dogma deuten können.

Etwa eine Viertelstunde von meinem Gutshof, gerade wo die Strecke ziemlich stark bergab geht, liegt, wie du weißt, ein Bahnwärterhäuschen. Der Wärter hat eine Weiche zu besorgen, welche etwa zwanzig Schritte von dem Häuschen entfernt ist. Gleich nach Mittag kommen kurz hintereinander zwei Züge, ein gewöhnlicher Personenzug und ein Schnellzug. Der Mann muß den Personenzug vor seiner Tür stehend erwarten, der auf ein totes Gleis fährt, dann schnell die paar Schritte laufen und die Weiche umstellen für den Schnellzug; der Personenzug hält, bis der Schnellzug vorübergefahren ist; der Wärter stellt die Weiche wieder anders, läuft zu dem Personenzug, winkt, der Personenzug fährt zurück und kommt wieder auf das große Gleis, um hinter dem Schnellzug herzufahren. Wenn der Mann die Weiche nicht umstellt, so fährt der Schnellzug auf der abschüssigen Bahn mit aller Wucht auf den Personenzug, und Hunderte von Menschenleben werden vernichtet.

Die Leute in dem Wärterhäuschen, ein junges Ehepaar, hatten einen dreijährigen Knaben. Der Vater war ängstlich mit dem Kind und ließ es um die Zeit, wo die Züge kamen, nie vor das Haus. An einem Sonntag bettelte der Knabe, er wolle seine Fahne nehmen und auch vor dem Hause den Zug erwarten, wie der Vater. Auf das Zureden der Mutter erlaubte es der Mann; als der Personenzug langsam heranzog, stand er in seiner Gartentür, in der linken Hand die Fahne schulternd, mit der Rechten den anmutigen Knaben haltend, der mit der andern Hand die Fahne hielt wie der Vater. Aus dem Fenster sah, die Hand über die Augen gelegt, die Mutter dem heitern Bilde zu; Führer und Heizer des langsam rollenden Personenzuges nickten und riefen einen Gruß herüber; Reisende lachten und winkten dem Kinde zu, das ernst und fest wie ein Erwachsener mit der Fahne dastand.

Während die letzten Wagen rollten, hörte die Frau in der Küche ihre Kaffeemilch überkochen; sie eilte vom Fenster, rückte ihre Milch ab und streute Salz auf die Herdplatte. Inzwischen hatte der Mann die Hand des Knaben losgelassen, rief der Frau zu, daß sie kommen solle, um ihn zu halten, und lief zu seiner Weiche. Im Laufen sah er sich, getrieben durch irgendeine Angst, indessen schon der Rauch des Schnellzuges vor ihm aufqualmte, einen Augenblick um; da sah er, wie das Kind hinter einem bunten Schmetterling gerade in den Gleisen des Schnellzuges lief. Er rief aus Kräften nach seiner Frau und lief dann weiter zu der Weiche; wie er niederdrückte, sah er sich wieder um; die Frau hatte das Rufen nicht gehört, das Kind lief weiter. Nun rief er dem Kind zu, schrie in seiner Angst; das Kind erschrak, blieb stehen und wußte nicht, was es tun sollte; die Mutter stürzte aus dem Hause; da rasselte schon die Lokomotive klirrend über die Weiche.

Man hat dem Mann nachher eine Anerkennung zuteil werden lassen. Ich finde das falsch, denn er hatte ja nichts getan, wie seine Pflicht. Es gehört mit zu den bürgerlichen Empfindsamkeiten unserer Zeit, daß man eine solche Selbstverständlichkeit für etwas Besonderes hält. Ich will ja nicht sagen, daß jeder Mann so gehandelt hätte wie dieser, der sein Kind zum Opfer brachte; aber wer nicht so handelte, der hätte sich einer Pflichtvergessenheit schuldig gemacht.

Für den Bahnwärter war das Stellen dieser Weiche sein Lebenszweck und sein Lebensgrund. Er durfte nur leben, weil man ganz sicher war, dieser Mann wird unter allen Umständen die Weiche stellen. Hätte er einmal einen Menschen ermordet, so wäre er ein Mörder gewesen, natürlich. Aber Gott kann einem Mörder vergeben. Hätte er aber, um sein Kind zu retten, die Weiche nicht gestellt, so hätte er eine Sünde begangen, die Gott nicht vergeben kann, denn er hätte gegen den Grund gefrevelt, der ihm das Leben erlaubt. Das wäre die Sünde gegen den Heiligen Geist gewesen.«

Ich versuchte, eine Einwendung zu machen. Er schnitt meine Worte mit einer Handbewegung ab und fuhr fort:

»Ich weiß, du willst mir sagen, daß meine Deutung nicht mit der üblichen Erklärung der Lehre übereinstimmt, welche von einem Sichverhärten gegen die Wirkung der göttlichen Gnade auf uns spricht. Aber man faßt da den Begriff der göttlichen Gnade zu eng.«

Ich sah in sein Gesicht, als er die folgenden Worte sprach: »Ein jeder von uns lebt, darf leben, nur durch eine besondere göttliche Gnade. Glücklich der Mensch, der weiß, daß er eine Weiche zu stellen hat, damit ihm die Gnade zuteil wird, der nicht zweifeln muß, ob er die Gnade nicht mißbraucht.« Sein Gesicht war fahl geworden, die Augen schienen tief gesunken zu sein.

Nach einer Pause fuhr er fort.

»Bis jetzt ist meine Geschichte ja nicht sehr neu. Ähnliches ist schon oft vorgekommen. Aber nun folgt das Merkwürdige.

Der Mann wurde also wegen seiner Tat belobt und von allen Leuten gepriesen. Ob ihm diese Anerkennungen nicht schmerzlich oder peinvoll gewesen sind, kann ich nicht sagen. Er war ein stiller Mann, der nicht aus sich herausging.

Aber nach einigen Wochen kam die Frau zu mir. Sie verlangte meinen Rat. Ich kann ihren Gedankengang nicht wiedergeben; das ist aber auch nicht nötig. Es kam Alles darauf hinaus, daß sie nicht mehr mit dem Mann zusammenleben könne, der vor seinen Augen das Kind habe überfahren lassen, ohne ihm zu helfen, und daß sie sich von ihm scheiden lassen wolle.

Ich versuchte auf die Frau zu wirken; ich sagte ihr: ›Er hat doch seine Pflicht getan.‹ Die Frau schüttelte den Kopf, zupfte an ihrem Schürzenzipfel und sah dann still zur Erde. Endlich sagte sie: ›Ich kann ja schon nicht an einem Tische mit ihm sitzen. Wenn er kommt, so stehe ich auf. Ich habe keinen Haß gegen ihn; aber ich kann nicht.‹

Es wurde mir plötzlich klar: was diese Frau trieb, von ihrem Mann zu gehen, das war Dasselbe, was den Mann getrieben hatte, seine Pflicht zu tun. Es wäre eine Sünde wider den Heiligen Geist gewesen, wenn sie bei ihm geblieben wäre. Und so ging sie denn von ihm.

Was mit dem Mann werden soll, weiß ich nicht. Er ist ja doch noch ein junger Mensch. Vielleicht fängt er an zu trinken; ich weiß keinen anderen Ausweg für ihn; denn ich glaube nicht, daß er genug Klarheit hat, um an Gott zu glauben. Ja, wenn er an Gott glauben könnte, so wäre ihm geholfen.

Die Rotschwänzchen fliegen ab und zu und bringen Würmer, Raupen, Käfer und allerhand andere Tiere für ihre Jungen. Wenn wir schwach sind, dann denken wir wohl: das Schicksal dieses Bahnwärters hat keinen anderen Sinn, wie das Schicksal dieser Tierchen, die von den jungen Vögeln verzehrt werden. Aber wenn wir ganz unserer mächtig sind, dann wissen wir: das ist falsch. Es hat doch einen Sinn, daß der Mann seine Pflicht tut, daß die Frau von ihm gehen mußte. Sie haben beide recht gehandelt.«

»Die Frau hat sicher unmoralisch gehandelt,« sagte ich; »dennoch glaube auch ich, daß sie im Rechte war.«


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