Paul Ernst
Geschichten von deutscher Art
Paul Ernst

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Die Bergstiefel

In einer hannoverschen Kleinstadt war in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts eine Familie Meyer hochangesehen. Was in der Familie geschah, das wurde von allen Leuten in der Stadt besprochen. Es geschah niemals Etwas in ihr, das die Mißbilligung der Mitbürger herausgefordert hätte, denn alle ihre Glieder wußten, daß sie unter strenger Beobachtung der Bürger standen. Es wurden ihnen aber auch freiwillig Achtung und Ehrerbietung gezollt.

Ein junges Mädchen aus der Familie namens Anna ging eines Tages durch die Straßen, die mit Katzenköpfen gepflastert waren. Sie machte einen falschen Tritt, ihr Fuß knickte ein mit einem heftigen Schmerz, und sie fiel zu Boden.

Das geschah vor dem Haus eines Schusters namens Bosch. Es gab in der Stadt zwei Schuster, von denen der eine die feinere Kundschaft hatte und der andre die kleinen Leute. Bosch hatte die geringere Kundschaft, er arbeitete also nicht für die Familie Meyer und wußte auch, daß er das nicht zu beanspruchen hatte.

Die Frau des Meisters war gerade in der guten Stube, in welcher den Kunden angemessen wurde, wo auf dem runden Sofatisch in einer Schale für die Besuchskarten die Kärtchen mit den Schuhknöpfen lagen. Sie begoß gerade ihre Blumen im Fenster. Als sie Anna stürzen sah, eilte sie aus dem Haus, hob das junge Mädchen auf und führte die Hinkende in ihre gute Stube zu dem Sofa, das mit einem grauleinenen Bezug versehen war, um den kostbaren roten Plüsch vor der Sonne zu schützen. Der Meister kam aus der Werkstatt, die dahinter lag; er hatte die Brille auf der Nase, einen Schuh, an dem er gerade gearbeitet, in der Hand. Er kniete nieder und befühlte den schmerzenden Fuß. »Es ist Nichts gebrochen, Fräulein Meyer«, sagte er. »Sie haben sich nur die Sehne verdehnt, aber das tut weh. Ja, das kommt von den Katzenköpfen! Heutzutage ist die Welt fortgeschritten, da macht man andere Pflaster, aber die Alten, die haben das nun nicht besser gewußt.«

Die Frau war inzwischen in den Keller gegangen. Dort lag dem Ehepaar eine Flasche Rotwein, die einmal vor Jahren gekauft war nach einer Krankheit der Meisterin zur Stärkung, jeden Vormittag ein Schnapsgläschen. Sie hatte aber die Flasche nicht angebrochen, weil sie auch ohne das Mittel sich wieder erholte. Diese Flasche nahm sie vom Gestell herab, brachte sie heraus, entkorkte sie, goß ein Weinglas voll, stellte Flasche und Glas auf ein Präsentierbrett und trug das in die Stube, es steif vor sich hinhaltend. Sie sagte: »Da bringe ich Ihnen ein Glas Wein, Fräulein Meyer, das müssen Sie auf den Schreck trinken, zur Stärkung.«

Anna wurde sehr verlegen, denn sie wußte ja, daß diese Flasche Wein in irgend einer Weise eine Kostbarkeit der guten alten Leute war. Aber nun war die Flasche aufgezogen; und wenn sie den Trunk verweigert hätte, so wäre das eine bittere Kränkung gewesen. So machte sie den Beiden denn Vorwürfe über die Umstände, und die Beiden wiesen die mit strahlendem Gesicht zurück, dann ergriff sie das Glas und trank ihnen zu, die andächtig vor ihr standen. Der Meister verbeugte sich und lüftete das Käppchen, die Meisterin machte einen zierlichen Knicks. Anna trank nur einen Schluck und setzte dann das Glas neben sich.

»Ja, den Wein hätten Sie trinken sollen, Meister Bosch«, sagte sie. »Das ist ein guter Wein.« – »Es ist eine große Ehre für mich«, sagte der Meister, indem er wieder das Käppchen lüftete, »wenn Sie den Wein loben. Aber den hat nun meine Frau für das Fräulein Meyer aus dem Keller geholt, und was meine Frau tut, das ist auch richtig.«

»Aber Sie stehen ja immer in Ihrer eigenen Stube«, sagte Anna. »Ich sitze hier vor Ihnen, ich junge Person. Aber Sie müssen sich auch setzen.«

»Wenn es das Fräulein Meyer erlaubt, dann setzen wir uns«, sagte die Meisterin, und die Beiden setzten sich, und dann wurde erzählt von allerhand Geschehnissen.

Nach einer Weile fühlte sich Anna im Stande, wieder zu gehen. Aber Meister Bosch ließ es sich nicht nehmen, sie zu begleiten. Die Frau mußte ihm aus dem Kleiderschrank den schwarzen Sonntagsanzug und den Zylinder holen, aus der Kommode ein gestärktes Hemd mit Kragen und Binde, dann ging er die Treppe hoch in die Schlafkammer und zog sich um, und kam wieder herunter, Anna mußte seinen Arm nehmen, und so geleitete er sie nach Hause.

Sie wollte, daß er mit ins Besuchszimmer kam, ihre Mutter, die im Flur erschien, forderte ihn auf; aber er weigerte sich. »Dahin gehöre ich nicht«, sagte er; »das ist nicht meines Standes. Fräulein Meyer hat uns Ehre erwiesen, wir danken ihr vielmals.« Mit diesen Worten zog er seinen Zylinder und ging.

Nun wurde in der Familie besprochen, in welcher Weise man sich dem Meister Bosch erkenntlich zeigen konnte. Das war sehr schwer. Es ging nicht an, daß man ihm ein Geschenk machte, das hätte er zurückgewiesen. Man konnte ihm auch nicht die Kundschaft zuwenden, denn damit hätte man den andern Schuster gekränkt, auch wäre ihm selber das peinlich gewesen. Da kam Anna auf einen Gedanken. Sie sollte mit einer befreundeten Familie in einigen Monaten eine Reise nach Tirol machen. Dazu brauchte sie Bergstiefel. Sie schlug vor, diese Bergstiefel bei Meister Bosch zu bestellen, denn die waren etwas Außergewöhnliches, das nicht an sich dem andern Meister zukam, und ein solcher Auftrag auf Etwas, davon man in dem Städtchen bislang noch nicht gehört, erschien zugleich als eine Ehrung für den Meister. Der Vater hatte Bedenken, ob Bosch auch einer solchen neuen Aufgabe werde gewachsen sein. Aber die Tochter beschwichtigte ihn und sagte, sie wolle ja doch gar keine gefährlichen Wanderungen und Klettereien machen, es seien nur ein Paar derbe Stiefel mit Nägeln, welche sie brauche, im Grunde nichts Andres, als was der Meister auch sonst herstelle für seine Kunden.

So wurde denn Meister Bosch nun zum Maßnehmen bestellt. Er kam am Sonntag im schwarzen Anzug, er nahm Maß mit Band und Schieber, vermerkte sich die Zahlen in seinem Notizbuch, und ging dann wieder.

Meister Bosch hatte die Bergstiefel zu einem bestimmten Tag versprochen. Sie kamen nicht. Anna suchte ihn in seiner Werkstatt auf, er entschuldigte sich und wies auf einen Haufen schadhafter Schuhe, die er flicken mußte. Noch mehrmals besuchte ihn Anna, um zu mahnen. »Er traut sich nicht an die Stiefel«, sagte ihr Vater, »du hast dem guten Mann zum Dank für seine Freundlichkeit eine große Sorge aufgehängt.«

Mit einem Male wurde erzählt: »Meister Bosch hat einen Gesellen eingestellt.« Seit Jahrzehnten arbeitete er in dem Stäbchen, er hatte nie einen Gesellen gehabt. Es war die höchste Zeit, in zwei Tagen mußte Anna reisen. Sie besuchte den Meister, um an ihre Bergstiefel zu mahnen; da sah sie den Gesellen dem Meister gegenüber sitzen, einen struppigen Kerl mit wildem Blick. Mit Stolz zeigte der Meister das Oberteil des einen Stiefels, das auf den Leisten genagelt war, indessen der Geselle den andern im Knieriemen hatte. »Die Stiefel werden fertig«, sagte der Meister. »Ich halte mein Wort. Ich weiß, mit welchem Zug Fräulein Meyer fährt. Wenn man in das Gebirge reist, so muß man Bergstiefel haben.«

Noch eine Stunde vor Abgang des Zuges waren die Stiefel nicht da. Das ausgeschickte Mädchen kam ohne sie zurück. Aber es bestellte, daß der Meister sie an den Zug bringen werde.

Und wirklich, als Anna im Abteil saß und der Schaffner eben die Tür zuschlagen wollte, erschien Meister Bosch, er winkte von weitem dem Schaffner zu, der hielt einen Augenblick an, und indem der Zug sich schon langsam in Bewegung setzte, schob er die Stiefel noch in das Abteil, wünschte glückliche Reise, und die Tür wurde zugeworfen von dem nebenher laufenden Schaffner.

Anna nahm die Stiefel auf und betrachtete sie. Sie waren schön gearbeitet, und waren fest, das Leder der Sohle war geglättet und blank geschwärzt, die Schnürsenkel waren in einer zierlichen Schleife zusammen gebunden. Sie hob ihren Koffer aus dem Netz, schloß ihn auf und packte die neuen Stiefel ein.

Nach der Verabredung traf sie sich mit den Freunden. Man fuhr nach München, wo man sich zwei Tage aufhielt, die Merkwürdigkeiten zu besehen, wie die Museen, das Siegestor, die Bavaria und das Hofbräuhaus, dann fuhr man weiter nach Tirol.

Am ersten Morgen zog Anna ihre Bergstiefel an. Sie drückten. Aber sie sagte sich, daß die Stiefel sich erst an den Fuß gewöhnen müssen. So ging sie mit den Freunden einen weiten Weg, den man als ersten geplant.

Es stellte sich bald ein heftiger Schmerz heraus; aber sie mochte den Freunden das Vergnügen nicht verderben, so bezwang sie sich und sagte Nichts. Man war fast den ganzen Tag unterwegs, die letzten Stunden war es Anna beständig, als solle sie ohnmächtig werden. Aber man kam doch glücklich in den Gasthof zurück, ohne daß die Freunde Etwas gemerkt hatten. Anna stieg sofort zu ihrem Zimmer hinauf und zog mit großer Anstrengung die Stiefel von den geschwollenen Füßen; als sie sich vom Stuhl erheben wollte, sank sie mit einem leichten Aufschrei wieder zurück, sie konnte nicht auftreten.

Der Arzt mußte kommen, er stellte fest, daß sie sich durch die unpassenden Stiefel ein Fußleiden zugezogen hatte, das nur durch Schonung behoben werden konnte. Sie mußte die ganzen vier Wochen des Aufenthalts im Bett liegen.

Nach ihrer Rückkehr besuchte sie den Meister Bosch, um die Rechnung für die Stiefel zu verlangen und zu bezahlen. Der Geselle war nicht mehr da, Meister Bosch begrüßte sie mit strahlendem Gesicht, er rief: »Das sind gute Stiefel, nicht wahr? Auf so einer Reise, da ist gutes Schuhwerk die Hauptsache, sonst kann man sich die ganze teure Reise verderben.« Er hatte die Rechnung schon geschrieben; sie war sehr bescheiden.

Anna nickte ihm freundlich zu. »Da haben Sie recht, Meister, es ist ein schönes Paar Stiefel.«

Meister Bosch rieb sich die Hände. »Da habe ich also Ehre eingelegt,« sagte er. »Das ist gut. Das gibt mir Zuversicht. Da sind also die Herrschaften nicht betrogen. Sie werden ja nur gebraucht, wenn es Etwas gilt; da kann Fräulein Meyer sie noch haben, wenn ich schon lange tot bin, und wenn einmal die fremden Herrschaften nach den Stiefeln fragen, dann sagt Fräulein Meyer: die hat noch der Meister Bosch gemacht.«


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