Paul Ernst
Geschichten von deutscher Art
Paul Ernst

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Ein Muttermörder

Ich habe einmal einer Hinrichtung beigewohnt. Wir waren im Gefängnishof versammelt, der von allen vier Seiten mit Mauern umgeben ist aus roten Ziegelsteinen; die kleinen vergitterten Fenster, welche ja immer dicht unter der Decke der Zellen angebracht sind, damit die Gefangenen nicht ins Freie sehen können, geben den Mauern etwas Totes, schlimmer noch, als wenn gar keine Fenster wären. Das Gerüst für den Scharfrichter war in einer Ecke errichtet; der Scharfrichter und zwei Gehilfen standen oben und warteten. Unten waren wir fünf Personen: zwei Richter, ein ganz junger Referendar, ich als Staatsanwalt und der Gefängnisdirektor. Ein Richter hatte sich krank gemeldet. Wir standen in der entgegengesetzten Ecke des Hofes; es war kalt, der Boden war zwar schneefrei, aber an einigen Stellen war eine leichte Eiskruste auf den Steinen.

Aus den vier Ecken neigte sich der Boden nach der Mitte zu, wo sich in einem Sandstein ein rundes Loch befand; das Regenwasser floß hier in den Kanal hinunter. Es fiel mir ein, wenn von dem Gerüst Blut herabfließe, so werde es auch durch diese Öffnung in den Kanal rinnen. Ich wollte lächeln über die kindische Idee, da wurde mir plötzlich klar, daß ja ein Mensch hingerichtet werden solle.

Die Tür öffnete sich, der Verurteilte kam heraus, im bloßen Kopf, mit rasiertem Nacken und ohne Kragen, die Hände auf den Rücken gebunden. Neben ihm ging auf der einen Seite ein Wärter in Uniform, auf der andern Seite der Gefängnisgeistliche, welcher laut betete. Der Angeklagte sah flüchtig nach uns hin und grüßte durch ein Kopfnicken; das Gebet des Geistlichen stockte, wir zogen verlegen unsere Zylinderhüte. Tiefer als alles andere, das nachher kam, wirkte auf mich diese alberne Verlegenheit des Grüßens, die Niemand erwartet hatte. Ich fühlte, daß der Geistliche sein Gebet gedankenlos sprach. Plötzlich zog der rasierte Nacken alle meine Aufmerksamkeit auf sich.

Der Verbrecher ging mit raschen und großen Schritten zum Gerüst, seine beiden Begleiter mußten fast laufen. Vor der Treppe blieb er plötzlich stehen, die Gehilfen kamen herunter und ergriffen ihn. Ich zog das unterschriebene Urteil aus der Brusttasche und winkte dem Scharfrichter mit einem Blick zu; der Verbrecher fing den Blick auf, welchen der Scharfrichter zurücksendete. Plötzlich fing er an zu schreien: »Mutter, Mutter. sie wollen mich morden, hilf mir, Mutter.« Uns Allen zitterten die Kniee; der junge Referendar, totenblaß, flüsterte: »Er hat ja seine Mutter ermordet.« Sinnlos erwiderte ich flüsternd: »Das weiß ich ja.« Das Geschrei des Mannes verstummte irgendwie, plötzlich hörten wir ganz laut die Stimme des Geistlichen, der in seiner Angst sein Gebet laut rief: »Und so gehe ich denn, ich armer sündiger Mensch, und ich hoffe auf das Blut meines Herrn und Heilands« . . . »Mutter, Mu–«, jammerte der Verurteilte, indem er laut zähneklappernd kein Wort mehr bildete, sondern in hohem Ton gleichmäßig schrie; er war festgebunden, das Beil fiel mit dumpfem Schlage nieder.

Ich hatte die Todesstrafe für den Hingerichteten beantragt, und ich war vor meinem Gewissen durchaus im Recht, denn der Mensch war der verabscheuungswürdigste Verbrecher gewesen, der zuerst, bei einem Einbruchsdiebstahl überrascht, einen Mord begangen und dann aus bloßer Wut noch seine eigene Mutter getötet hatte. Aber als er in seiner Verzweiflung schrie, nach der von ihm ermordeten Mutter, da spürte ich plötzlich im Herzen: er ist ich.

Ich kann Nichts weiter sagen, als das: ich spürte, er ist ich.

Ich will seine ganze Geschichte erzählen, um zu zeigen, wie dieser Mensch doch in Nichts irgendeine Beziehung zu einem Manne haben kann, wie ich bin: dennoch habe ich damals gefühlt: er ist ich; und wenn ich mich jetzt recht erinnere, mir alles wieder vor mein Auge stelle, dann fühle ich wieder: er ist ich.

Seine Mutter war eine ehrenhafte und rührige Frau, die Witwe eines Subalternbeamten, welcher starb, als das einzige Kind eben sein sechstes Jahr erreicht hatte. Auch der Vater soll ein ordentlicher Mann gewesen sein. Sie war von jener Art von Frauen aus dem niederen Mittelstande, welche beständig zu klagen haben, sich an Kleinigkeiten festhalten und jedes Hauptziel vergessen, und ihr ganzes Leben in beständiger Tätigkeit aufbrauchen, die fast erfolglos bleibt, weil sie nicht zweckmäßig geleitet ist. Sie gab dem Jungen früh Geld in die Hand und schalt ihn, wenn er es ausgab; sie strickte für einen wucherischen Unternehmer Strümpfe und bekam für ihre Handarbeit nicht mehr, wie für Maschinenarbeit bezahlt wurde, aber sie glaubte sich doch im Vorteil, weil sie immer gleich drei Dutzend Paare ablieferte und dann ein größeres Geldstück bekam, indessen sie das Garn im kleinen einkaufte; sie scheuerte täglich die einzige Stube und mußte den größten Teil der Zeit mit ihrem Sohn in der Küche zubringen; sie wohnte der Billigkeit wegen in einer verrufenen Gegend der Stadt, ließ den Jungen viel auf die Straße und strafte ihn, wenn er gegen ihr Verbot schlechte Bekanntschaften geschlossen hatte.

Im Nebenhaus wohnte ein unverheiratetes altes Dämchen, die ihren Haushalt allein besorgte; sie galt für reich und geizig. Wie das bei diesen Leuten geht, hatte sie seit lange eine Bekanntschaft mit der Witwe, indem die Beiden auf der Straße zusammenstanden und sich Klatschgeschichten erzählten oder auch sich unter irgendeinem Vorwand besuchten, etwa wenn eine der anderen einen armseligen Leckerbissen brachte oder irgendein Haushaltsgerät von ihr borgte.

Der Sohn wurde zu einem Schlachter in die Lehre gegeben; nachdem er entlassen, war er bei verschiedenen Meistern des Städtchens nach einander als Geselle; zuletzt hatte er sich einige Wochen lang untätig bei seiner Mutter aufgehalten.

An einem Vormittag hatte die Nachbarin von der Mutter ein Waffeleisen geliehen; sie trug es Mittags zurück und brachte zwei selbstgebackene Waffeln mit; sie erzählte, daß sie mit der Post in die Nachbarstadt fahren wolle, wo ihre verheiratete Schwester wohnte; am nächsten Tag wolle sie wieder zurückkehren, und damit, wenn etwa in der Zwischenzeit Feuer ausbreche, ihre Wohnung zugänglich sei, bat sie die Witwe, den Vorderschlüssel zu ihrer Wohnung aufzuheben. Die Witwe nahm den Schlüssel und legte ihn ins Fensterbrett; die Nachbarin ging, ihr Paketchen mit Waffeln unterm Arm, welche sie den Kindern ihrer Schwester mitbringen wollte.

Es war Spätherbst, und gegen acht Uhr war es schon dunkel. Der Sohn nahm am Abend heimlich den Schlüssel, ging über die Straße, sah sich um, ob er beobachtet werde, und trat schnell in das Nebenhaus. Das alte Fräulein wohnte zur ebenen Erde; er schloß die Tür auf, ging leise in die verlassene Wohnung und schloß wieder hinter sich zu. Er wußte, daß das Geld in der oberen Kommodenschublade lag, die nicht richtig einschnappte; indem er sein Schlachtermesser in die Ritze zwischen der Platte und dem Auszug schob, suchte er die lahme Zunge des Schlosses niederzudrücken, um die Kommode ohne Aufwendung von Gewalt zu öffnen, deren Spuren später sichtbar wären. Das Messer glitt einige Male ab; er lockerte vorsichtig die Platte an beiden Seiten in den Verzapfungen und versuchte von neuem, und zuletzt konnte er die Schublade an den beiden Griffen aufziehen. Es war inzwischen völlig dunkel in dem Zimmer geworden; er durfte aber kein Licht anzünden, da man ihn dann von der Straße her gesehen hätte. So suchte er denn tastend zwischen der Leibwäsche; er fand einige Hefte, die er für Sparkassebücher hielt; in dem einen lagen Blätter, die sich wie Papiergeld anfaßten; endlich traf er auf einen perlengestickten Tabaksbeutel, welcher Metallgeld enthielt. Er nahm das Papier und den Beutel zu sich, brachte den Inhalt des Auszuges ruhig wieder in Ordnung, so gut es im Finstern gehen wollte, schob ihn zurück und ließ das Schloß einschnappen. Dann steckte er sein Messer wieder in die Bluse und sah durch die Fensterscheiben auf die dunkle Straße; auf der Straße zeigte sich Niemand, auch im Haus war Alles ruhig. Eben wollte er leise den Schlüssel wieder umdrehen und aus dem Haus schleichen.

Inzwischen hatte das alte Fräulein bei ihrer Schwester nicht die erhoffte freundliche Aufnahme gefunden; ihr Schwager war ein Trunkenbold, welcher zuweilen, in der Hoffnung der Erbschaft, die allergrößte Freundlichkeit gegen sie zeigte und ein anderes Mal wieder grob und beleidigend war. Wie sie in die Stube trat, sagte er zu ihr: »Du willst dich wohl wieder einmal umsonst satt essen?« Die Schwester weinte, nahm sie beim Arm und führte sie aus der Stube und erzählte ihr, er sei betrunken nach Hause gekommen, und weil er sich geschämt vor ihr, denn er habe ihr wohl angesehen, daß sie geweint, so habe er sie geschlagen. Jetzt suche er nur eine Gelegenheit, um seine Roheit fortzusetzen; deshalb bitte sie, die Schwester möge sie für diesmal nicht besuchen. Das alte Fräulein gab ihr das Paket mit den Waffeln für die Kinder, küßte sie und ging fort, und traf auch noch den Postwagen, welcher zurückfuhr. So kam es, daß sie gegen ihre Absicht noch an demselben Abend wieder heimkehrte. Wie sie in der Straße war, sah sie in die Höhe nach dem Fenster ihrer Nachbarin und erblickte es dunkel; sie dachte sich, daß die Witwe schon schlafen gegangen sei, da es schon fast neun Uhr war, und um sie nicht zu stören, wollte sie ihren Schlüssel nicht abholen, sondern zog den Schlüssel zur Hintertür aus der Tasche, schloß auf und ging in ihre Wohnung. Nun trat sie gerade in ihre Stube, wie der Dieb eben im Begriff war, die Vordertür wieder zu öffnen und aus dem Hause zu gehen.

Als die Beiden sich gegenüber standen, waren sie gleichmäßig erschrocken. Dann fing das alte Fräulein an zu schreien. Der Bursche stürzte sich auf sie, drückte ihr die Kehle zu, sie wehrte sich, fiel, er stürzte über ihr hin, ertastete das Schlächtermesser, das neben ihn gefallen war, und ermordete sie. Dann ging er vorsichtig aus der Tür, schloß wieder zu, ging zu seiner Mutter hinauf und legte den Schlüssel an seine Stelle.

Die Mutter saß im Dunkeln und weinte. Sie hatte den Schlüssel vermißt und vermutete, daß ihr Sohn ihn genommen hatte. Nun hörte sie, wie er ihn wieder in die Fensterbank legte. »Wenn ich das gewußt hätte, dann hätte ich dich lieber abgewürgt, wie du geboren warst«, sagte sie. »Kein Licht da,« antwortete er, »ich will noch essen.« »Ich habe kein Geld für Öl, ich habe einen ungeratenen Sohn«, sagte sie. Dann schob sie ihm im Finstern den Teller mit den zwei Waffeln zu, welche die Ermordete am Mittag gebracht hatte. Der Bursche griff in der Dunkelheit zu, da fühlte er die Waffeln. »Was hast du?« fragte die Mutter. Er fürchtete, sich zu verraten, erwiderte nichts und aß die Waffeln.

»Da habe ich mir das Gericht gegessen«, sagte er später beim Verhör. Der Richter machte ihn aufmerksam, daß das eine Redewendung aus dem Katechismus sei über die, welche unwürdig das heilige Abendmahl genießen. »Da habe ich mir das Gericht gegessen«, wiederholte er störrisch.

Die Mutter ging in ihre Schlafkammer, er stieg die Leiter hoch auf den Boden, wo er im Heu schlief. Er schlief gleich ein, wie er war, in seinem blutbefleckten Anzug.

Im Hause der Ermordeten wohnten zwei Arbeiter aus der Zuckerfabrik, die Nachtschicht hatten und um zwei Uhr gehen mußten. Die beiden Männer machten sich ihre Laternen zurecht und gingen die Treppe hinunter. Da sahen sie die Hintertür zu der Wohnung der Ermordeten offen stehen; der Eine von den Arbeitern sagte: »Die Alte erwartet ihren Schatz«; der Andere ging auf den Spaß ein und sprach: »Wir wollen an ihr Bett gehen, sie muß einen Schnaps ausgeben.« Sie traten in die Küche, auch die Tür zur Stube war geöffnet. Plötzlich wurde den Beiden unheimlich zu mute; der Eine sagte: »Ich gehe nicht weiter«; der Andere erklärte: »Hier ist Etwas geschehen, wenn wir heimlich fortgehen, so fällt der Verdacht auf uns.« So traten sie in die Stube und fanden die Tote.

Sie weckten gleich die andern Leute im Hause, ein Mann lief zum Bürgermeister, in den andern Häusern erwachten die Leute. Auch die Mutter hörte das Geräusch auf der Straße, das Sprechen und Schreien; sie sah aus dem Fenster, da wurde ihr das Geschehene zugerufen.

»Das ist mein Sohn nicht gewesen, das tut er nicht«, schrie sie in ihrem unbedachten Entsetzen aus dem Fenster nieder. »Das ist der Mörder,« rief der eine Arbeiter, »sie verrät sich selbst.« Das Haus war schon geöffnet, die beiden Arbeiter mit den Laternen gingen hinein und gingen die Treppe hoch. Eben kam der Bursche die Leiter herunter, auch er war durch das Geräusch wach geworden. »Halt ihn fest!« schrie der zweite Arbeiter; der erste schlang von hinten seine Arme um ihn, der auf der Leiter stehend unbehilflich war. Die anderen Menschen drängten nach; es wurde geschrien: »Er ist ja voll Blut!« »Stricke her.« Die Mutter, im Unterrock und Nachtjacke, rief immer: »Er ist es nicht gewesen, das tut er nicht, sein Vater ist Beamter gewesen.« Der Bursche schleuderte den Mann von sich, der ihn von hinten umfaßt hatte, indem er seine Arme aus einander spannte. Dann stellte er sich mit dem Rücken gegen die Wand und zog sein Schlachtermesser aus der Bluse, indem er brüllte: »Wer will sechs Zoll Eisen in den Wanst?« Alle wichen zurück, nur die Mutter stand vor ihm, sie sah die blutigen Hände, das blutige Gesicht, die blutigen Kleidungsstücke, das lange Messer, die rollenden Augen; ihr Unterkiefer klappte nieder, sie konnte keinen Laut von sich geben. Plötzlich kam sie ihm in die Augen. »Du hast mich verraten, du Aas!« brüllte er, stürzte sich auf die Mutter und stieß ihr das Messer in die Brust; sie fiel, durch die Wucht des ungeschickten Stoßes wurde er mitgerissen, stolperte und stürzte gleichfalls. Ein Mann hatte eine Wagenrunge in der Hand, mit der schlug er ihm auf den Kopf, daß er ohnmächtig wurde. Indem kamen Schutzleute, man hob ihn auf, er taumelte noch von dem furchtbaren Schlag; dann legte man ihm Handschellen an.

Bei der Gerichtsverhandlung wurde von der Verteidigung natürlich auch die Frage der Zurechnungsfähigkeit aufgeworfen. Daß ein Mensch, der solche Verbrechen begeht und sie noch dazu so sinnlos ausführt, nicht normal ist, das ist ja doch klar; aber mit solchen Erwägungen kommt man nicht weiter. Zum Glück war ein mutiger Sachverständiger berufen, der sein Gutachten auf völlige Zurechnungsfähigkeit abgab. Ich hatte ein langes Gespräch mit diesem Gelehrten über meine Empfindung: »Er ist ich.« Er antwortete mir: »Ich habe dieselbe Empfindung, und ich glaube, jeder ehrliche Mensch muß zugeben, daß er sie hat. Wir kennen Nichts von uns. Unsere Wissenschaft in diesen Dingen ist leere Scholastik. Was haben wir Beide, die wir gute Menschen sind, mit diesem Burschen gemein? Scheinbar nichts, und in Wirklichkeit alles.«


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