Paul Ernst
Geschichten von deutscher Art
Paul Ernst

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Italiäner

Ich saß mit einem Freunde zusammen und sprach mit ihm über die Art, wie die verschiedenen Völker sich zum Krieg stellen. Wir kamen zu dem Schluß, daß die Deutschen den Krieg am tiefsten erleben, indem sie ihn gleichzeitig am leichtesten ertragen; der Grund ist, daß der Deutsche wahrscheinlich das stärkste Verantwortungsgefühl hat und am wenigsten das Leben liebt.

Mein Freund dachte eine kleine Weile nach; dann strich er die Asche von seiner Zigarre und begann folgende Erzählung; ich bemerke vorher, daß er Arzt ist und den Feldzug in Tirol mitmacht.

»Wie Sie wissen, bin ich lange Zeit jedes Jahr für einige Wochen nach Rom gegangen. Ich hatte dort gute und liebenswürdige Wirtsleute gefunden, bei denen ich mich wohl fühlte. Es machte sich von selber, daß ich in nähere Beziehung zu den Leuten trat und endlich auch die Bekannten und Verwandten der Familie kennen lernte. Die Respektsperson unter den Verwandten war ein Hauptmann der Bersaglieri, der mir denn natürlich auch besonders vorgesetzt wurde.

Sie kennen ja die Italiäner auch. Es hat gar keinen Zweck, mit ihnen ein Gespräch auf unsere Art zu führen, denn sie haben keine Ahnung von uns. Aber das ist auch nicht nötig. denn sie gehen ja leicht genug aus sich heraus und führen das Gespräch auf ihre Art, und so erfährt man denn immer Dinge, die Einem merkwürdig sein können, weil man in andere Seelen, einen anders gebauten Verstand und eine uns fremde Willensart Einblick gewinnt. Mein Hauptmann war ein großer Politiker. Schon nach kurzer Zeit setzte er mir auseinander, daß Italien schon zweimal die Welt beherrscht habe: zuerst im Römischen Reich, dann im Papsttum. Nun stehe es vor der dritten Weltherrschaft. Es hätte keinen Zweck gehabt, ihm die Kindlichkeit seines Gedankengangs klar zu machen, und so widersprach ich ihm denn nicht.

In den Wochen, wo die Kriegsbegeisterung in Italien hoch ging, habe ich oft an meinen Hauptmann denken müssen. Wer nicht im italiänischen Volk gelebt hat, der kann es doch nicht verstehen; ich glaube, daß die Meisten bei uns es zu ernst genommen haben. Natürlich: ein Volk muß wissen, was es tut; es gibt keine Entschuldigung für die Handlungsweise der Italiäner, wenn man ihre Handlung überhaupt sittlich betrachtet; jedoch diese sittliche Betrachtung ist wohl für uns Deutsche möglich, aber nicht für die Italiäner. Ich habe mir immer gedacht, ob vielleicht ihre Sprache da nicht eine merkwürdige Rolle spielt. Wir haben ja jedenfalls oft den Eindruck, daß da, wo bei uns ein Gefühl oder ein Gedanke vorhanden ist, bei den Italiänern in einer uns unverständlichen Weise ein Wort eine schöpferische Bedeutung bekommen hat. Bei dem Hauptmann kam mir der Einfall, ob sie nicht in Lagen kommen können, wo das Wort versagt; und während wir uns in solchen Lagen durch Gedanken und Gefühle weiterhelfen können, dann gänzlich ratlos und stumpf werden.

Ich traf nämlich den Hauptmann vor einigen Wochen im Lazarett wieder. Er war mit einer schweren Verwundung, die er sich selber beigebracht hatte, von unsern Leuten gefangen genommen.

Der Truppenteil, zu dem er gehörte, war mit bei den Sturmangriffen auf unsere Stellungen – ich darf den Namen nicht nennen – verwendet. Sein Sohn, ein noch ganz junger Mensch, diente als Leutnant unter ihm. Sie haben ja von den fürchterlichen und sinnlosen Angriffen gehört, die nur zu erklären sind aus der Annahme völlig ratloser Verzweiflung der Heeresleitung und der Regierung. Unsre Leute liegen in sicherer Deckung, die für absehbare Zeit auch durch die stärkste Artillerievorbereitung nicht zerstört werden kann; vor ihnen dehnt sich einige hundert Meter tief eine gänzlich deckungslose Ebene, eine Schafweide, die am Rande durch ein Felsengeröll begrenzt wird. Sobald die Angreifer hinter dem äußersten Felsen vorstürzen, werden sie von unsern guten Schützen einzeln aufs Korn genommen, und bis jetzt sind die Italiäner noch nicht über die ersten fünfzig Meter vor diesem Felsengeröll hinausgekommen. Auf diesem Band von fünfzig Metern Breite sind schon Tausende der armen Italiäner gefallen.

Bei einem der Angriffe erhielt der Sohn des Hauptmanns einen Schuß und stürzte vornüber auf das Gesicht. Gleichzeitig fluteten die Angreifer zurück, so schnell wie möglich wieder Deckung hinter den äußersten Steinen suchend. Ein Mann aus der Kompagnie lief gebückt zu dem liegenden Leutnant und zog ihn am Bein hinter sich her, um ihn zu retten; einer von unsern Schützen hatte auf den Mann angelegt, aber dann tat er ihm leid, weil er doch seinem Herrn helfen wollte, und deshalb suchte er sich ein anderes Ziel. So gelang es dem Soldaten, seinen Leutnant in Sicherheit zu bringen. Der Vater umarmte ihn, küßte ihn; Sie wissen ja, wie so die Italiäner sind, ein Mann brachte ein Hoch auf den Retter aus, der Hauptmann weinte vor Rührung, der Mann auch; unsre Leute zerbrachen sich vergeblich den Kopf, was wohl der Grund für die Unruhe bei den Gegnern sein mochte. Gewöhnlich bargen die Italiäner in der Dunkelheit ihre Toten und Verwundeten, und unsere Leute hinderten sie nicht, aus Menschlichkeit; aber diese eigentümliche Unruhe hatte sie mißtrauisch gemacht, und so ließen sie in der Nacht keinen von den Feinden vor, um die Liegenden zu bergen.

Ein neuer Angriff war für den nächsten Morgen angesetzt. Wieder stürmte der Hauptmann mit seinen Leuten vor. Dicht neben ihm lief der Mann, der seinen Sohn gerettet hatte. Plötzlich rief er aus: ›Erbarmen, Herr Hauptmann!‹ Der Geruch der Leichen, welche den ganzen Tag in der glühenden Sonne gelegen hatten, lag über dem Anger. Der Hauptmann sah zur Seite und sah den Mann leichenblaß stehen, mit erhobenen Armen. ›Erbarmen, Herr Hauptmann!‹ schrie er noch einmal. Die andern Soldaten stutzten. Der Hauptmann schoß den Mann mit seinem Revolver nieder und stürmte weiter, indem er ›Vorwärts‹ rief. Die Leute folgten erschrocken; aber die Unsern schossen, der Leichengeruch wurde immer stärker; entsetzt wendeten sie sich und flohen. Der Hauptmann stand allein; er rief ›Feiglinge‹ und setzte den Revolver auf die eigene Brust.

Die Italiäner sahen wohl den Selbstmord ihres Offiziers, ihre Angst steigerte sich, sie liefen noch weiter zurück. Unsere Leute begannen die verwundeten Feinde zu sich herüber zu holen, ohne gestört zu werden. So kam der Hauptmann in unsre Gefangenschaft und in meine Behandlung, und dadurch erfuhren wir Alles, was drüben geschehen war.

Als der Hauptmann seiner Genesung entgegenging, sagte er einmal: ›So habe ich denn den Mann umsonst niedergeschossen,‹ und es schien so, als beschäftige er sich innerlich mit dieser Tat.

Ich dachte mir: wie würde ein Deutscher die Tat empfinden? Ich glaube nicht, daß Einer von uns hätte über sie fortkommen können. Der Offizier hat die Pflicht, einen Feigling unschädlich zu machen. Aber offenbar ging die Aufgabe überhaupt über die Fähigkeiten der Menschen, und der Mann war also kein Feigling; der Hauptmann sagte mir selber, er habe gewußt, daß unsere Stellung uneinnehmbar ist. Freilich mußte er gehorchen, wenn er den Befehl zum Angriff erhielt; aber ich, als Deutscher, hätte den Mann nicht niederschießen können.

Einmal erinnerte ich den Hauptmann an das Gespräch in Rom und an seinen Gedanken eines dritten Weltreiches der Italiäner. Er schüttelte den Kopf und sagte, wir seien zu stark.

Ich dachte mir: ein Deutscher würde sich sagen, daß er selber durch seinen törichten Gedanken mit schuld an dem Krieg gehabt habe; denn was die italiänische Regierung tat, das war nichts, als die Ausführung derartiger Gedanken, die im Volke leben. Nun ist das ganze Ergebnis ein grausiges Blutvergießen, Elend, Verarmung, Zerrüttung. Der Hauptmann hat ja gewiß nicht die äußere Verantwortung für die Kriegserklärung, aber er hat seinen Teil an der inneren Verantwortung. Ich weiß nicht, was ich tun würde, wenn ich eine solche Schuld fühlte, wenn durch eine solche Tat, wie das zwecklose Niederschießen des Mannes, der meinen Sohn gerettet hatte, meine geistige Schuld plötzlich fürchterlich sinnlich vor mir stände.

Wir schwiegen lange. Endlich sagte ich: »Das deutsche Volk würde nie einen Krieg führen, der ihm nicht aufgezwungen ist. Geschähe jemals etwas Anderes, dann wären wir feiger, wie je ein Volk war.«

Mein Freund schloß: »Ich suchte immer in dem Hauptmann nach einem Gefühl. Vielleicht war früher Etwas in ihm gewesen; jetzt war er ganz stumpf geworden. Auf die verschiedenste Weise wollte ich in seine Seele eindringen; aber er sagte Nichts, aus dem man Etwas entnehmen konnte. Ich brachte das Gespräch auf den erschossenen Mann. ›Oh, er war ja nur ein einfacher Bauer,‹ sagte er, ›er war gänzlich ungebildet.‹

Er hatte ganz ruhige Augen, als er das sagte. Sie kennen ja diese dunkeln, sanften Augen, die man oft bei Italiänern sieht, die so wenig ausdrücken, daß man an die Augen eines guten Tieres denken muß. Aber mochte meine Frage oder mein Ton ihn bewegt haben; ich spürte, wie irgend Etwas plötzlich in ihm rang, wie ungeformt Etwas in ihm entstand, das einem Schuldgefühl glich. Er sah mich ratlos an. ›Er war ja ein ganz ungebildeter Mensch,‹ wiederholte er.

›Weshalb haben Sie den Selbstmordversuch gemacht,‹ fragte ich unvermittelt. Er erschrak und sah mich wieder an. Dann dachte er nach, und zuletzt schüttelte er den Kopf, indem er zum drittenmal sagte: ›Er war ein ganz ungebildeter Mensch.‹ Das italiänische Wort klingt merkwürdiger: er sagte ›ignorante‹.«


 << zurück weiter >>