Paul Ernst
Geschichten von deutscher Art
Paul Ernst

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Ein Straßenvorgang

In einer Berliner Straße an einer Laterne wartete ein junges Mädchen aus den höheren Ständen. Sie war einfach gekleidet, war schlank und blond, sie sah mit ruhigen Augen auf das Gewimmel der Menschen, und wenn Einer der Vorübergehenden eine Bemerkung zu ihr machte, so war es, als ob sie nicht hörte.

Ein junger Mann in der Menge winkte ihr von Weitem zu; die Beiden begrüßten einander und gaben sich die Hand.

»Es schmerzt mich, daß ich dich dem aussetzen mußte, wie eine Verkäuferin ihren Geliebten zu erwarten«, sagte er unmutig. Sie erwiderte lächelnd: »Es ist nun einmal so; ich wollte nicht, daß meine Eltern erfahren, was wir uns noch zu sagen haben; sie können uns doch nicht helfen, und wir machen ihnen nur das Herz schwer.«

Die elektrischen Bahnen und Autos glitten eilig vorüber, die Menschen eilten mit vorwärts gerichteten Blicken. Die Beiden gingen nebeneinander. »Wir sind eine andere Rasse«, sagte der junge Mann. »Was haben wir mit diesen Leuten hier gemein? Als ich dich eben stehen sah – ja, wir sind eine andere Rasse. Nun ist es so weit, die Sklaven sind zur Herrschaft gekommen. Sie haben uns ausgeraubt. Wir hätten heiraten können, ich hätte meine Arbeiten machen können; nun gehe ich in die Fremde.«

»Ich möchte nicht, daß du solche Bitterkeit im Herzen hättest«, sagte sie, »deshalb wollte ich noch diese Zusammenkunft. Ich habe dich lieb und wäre dir eine gute Frau geworden, ich hätte meine Kinder lieb gehabt . . .«

Ein Mann kam von der entgegengesetzten Seite und drängte sich durch die Gehenden. Er stieß den jungen Mann grob an und schimpfte irgend Etwas.

»Zehn Jahre warte«, sagte der junge Mann. »Ich bin nicht dazu erzogen, Geld zu verdienen, und es ist für uns Deutsche jetzt schwer in der Fremde. Deshalb dauert es so lange. Aber dann komme ich und hole dich, oder vielleicht hat dann inzwischen der Pöbel sich selber zerstört, und wir können in Deutschland leben. Das möchte ich ja; es ist doch unser Vaterland.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin jetzt zweiundzwanzig Jahre alt, du hast eben so viel Jahre wie ich. In zehn Jahren bin ich ein altes Mädchen und du bist ein junger Mann. Ich will mich nicht an dich hängen. Das wäre für dich ein Unglück und für mich kein Glück. Wir wollen uns trennen; und ich will denken, daß es dir im Leben draußen gelingt, und daß du eine Frau findest, die dann für dich paßt, die dich lieb hat.« Ihr Mund zitterte leicht, sie unterdrückte Tränen.

»Glaube nicht, daß ich empfindsam bin«, sagte er. »Die Empfindsamkeit verlernt man heute. Aber wir gehören nun zusammen. Wenn ich nicht an dich denke, weshalb soll ich dann um Geld arbeiten? Was ich für mich allein brauche, das finde ich immer. Es ist für dich, denn wir können nicht wie Proletarier leben, ich will es nicht.«

»Ich will es auch nicht, wir sind nicht die Menschen danach«, erwiderte sie; »wenn wir die Menschen danach wären – die haben es wohl leichter wie wir. Aber das kommt ja auch nicht in Frage. Nur: ich will mich nicht an dich hängen. Heute sind wir zweiundzwanzig Jahre alt. Da gehören wir zusammen; ich fühle auch, daß ich dir gehöre. Aber in zehn Jahren bist du ein andrer Mensch« – sie beugte den Kopf, dann fuhr sie fort: »Ich bin es auch. Vielleicht bin ich es schon jetzt – trotzdem wir heute zusammengehören. Gehören wir zusammen? Wir wollen uns nichts vorlügen. Unsere Gesellschaft ist zu grunde gegangen, weil sie sich immer vorlog.« Sie lächelte. »Sieh, die neuen Reichen und die Proletarier, die lügen sich Nichts vor, die belügen nur die Andern. Wenn wir uns erst nicht mehr selber belügen, dann werden wir wieder herrschen.« – »Indem wir die Andern belügen«, sagte finster der junge Mann. Sie zuckte die Achseln: »Das Herrschen ist ein Handwerk. Wer herrschen will, der muß sein Handwerk verstehen. Unsere Eltern haben es nun wohl nicht verstanden.« Sie schwieg eine Weile. Dann fuhr sie fort: »Ich möchte nicht, daß du mich weiter mißverstehst. Was heißt das: die Andern belügen? Ich kann einem andern Menschen garnicht die Wahrheit sagen. Ich kann sie nur mir selber sagen. Kein Anderer weiß, was meine Worte bedeuten. Ist das Lüge? Es gibt nur die Selbstlüge. Alles andere, das man Lüge nennt, ist nur ein Sprechen in fremder Sprache. – Der Pöbel muß beherrscht werden, dazu mußt du seine Sprache sprechen.«

Da war eine Straßenecke, sie blieben stehen. Ein Schutzmann, mit unbewegtem Gesicht, hielt die Menschen zurück, gab den Wagen ein Zeichen zu fahren, und ließ dann die Fußgänger über den Damm gehen.

In der Querstraße stand ein Herr in Zylinder und Pelz, kurzbeinig und fett, auf der Bordschwelle und wollte in sein Auto steigen. Ein andrer Herr hielt ihn flehend zurück. Der Herr im Zylinder machte eine abwehrende Handbewegung. »Es giebt kein Baargeld. Ich biete achtzig, Sie können das Geld heute haben. Wenn Ihnen ein Andrer mehr giebt, gut. Das ist mein letztes Wort.« Er stieg ein.

Der Wagen ratterte, puffte und ruckte an.

Zwei jugendliche Arbeitslose standen neben dem Schutzmann, einer bot dem andern eine Zigarette an; der entzündete sie bei dem Ersten. Sie hatten fahle Gesichter, verlebte und höhnische Mienen, und ihre Kleidung war zerlumpt.

Der Zweite spuckte aus, dann sagte er: »Die Arbeitslosenunterstützung langt gerade für die Zigaretten, was ist das für ein Schwindel!«

Die Wagen überquerten den Damm, der Schutzmann hielt die Fußgänger zurück. »Ach was!« sagte der erste Arbeitslose, »auch noch stehen, bis es gefällig ist!« Die Beiden liefen zwischen den Wagen durch nach der andern Seite zu. Aber da wurde der eine von dem Auto gefaßt, er lag unter ihm, und das Auto fuhr über ihn fort. Ein entsetzlicher Schrei, noch andre Leute schrieen, plötzlich hielten alle Wagen, die Menschen stürzten auf die Unglücksstelle zu.

Der Mann lag langgestreckt auf dem Rücken mit geschlossenen Augen. Zwei blutige Striemen gingen ihm quer über das Gesicht. Ein Mann faßte ihn unter die Arme, rief andern zu, mit zu tragen, da stöhnte der Verwundete, öffnete die Augen, der Mann legte ihn sanft zurück. Ein Herr kniete zu ihm nieder, knöpfte ihm die Jacke auf; es war kein Hemd darunter; er fühlte leise; das Gesicht des Verwundeten verzog sich. Der Arzt stand auf: »Lassen Sie ihn, in ein paar Minuten ist es vorbei.«

Wie Alle im Kreis, die Köpfe vorgestreckt, um den Sterbenden standen, dem blutiger Schaum aus dem Mund kam, der Herr aus dem Auto in Zylinder und Pelz, blaß zitternd mit beteuernden Bewegungen auf den Schutzmann einsprach, der keine Miene verzog, da drängte sich das junge Mädchen vor. Sie kniete zu dem Sterbenden und bettete sein Haupt in ihren Schooß. Der schlug wieder die Augen auf und stöhnte. Sie nahm seine Arme und legte ihm die Hände zusammen. Sie sagte: »Ich will Ihnen helfen. Wenn Sie können, sprechen Sie mir nach.«

Dann begann sie: »Vater unser, der du bist im Himmel . . .« Der Sterbende verzog die Lippen, seine Zähne kamen zum Vorschein. Sein Genosse machte ein höhnisches Gesicht, die Andern sahen neugierig auf das kniende Mädchen. Die sprach ruhig weiter: »Geheiligt werde dein Name.« Ihr Geliebter hatte den Hut abgezogen, hielt ihn in der Hand und betete. Zögernd zog Dieser und Jener von den Umstehenden den Hut ab; der Herr aus dem Auto wendete sich von dem Schutzmann weg, sah zerstreut auf das Mädchen und den Sterbenden, mechanisch nahm er den Zylinder in die Hand. »Dein Reich komme,« sagte das Mädchen in die lautlose Stille. Da machte der Sterbende eine Anstrengung, sein Kiefer bewegte sich: ». . . Eich omme . . .« sagte er. »Dein Wille geschehe, wie im Himmel, also auch auf Erden,« fuhr sie langsam, leise und eindringlich fort, und der Sterbende mühte sich: »I, e, e . . .« Da standen alle Leute und beteten mit, und auch der Genosse des Verunglückten nahm die Mütze vom Kopf, widerwillig und trotzig. er hielt sie in der rechten Hand, die niederhing; sein linkes Bein war vorgestellt; er wechselte das Bein; er sah frech in die Luft, und dann blickte er nieder zur Erde. »Unser täglich Brot gieb uns heute.« Der Sterbende lallte, der Andere straffte sich. »Und vergieb uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern.« Unruhig blickte der Reiche um sich, er wollte sprechen; der Arbeitslose wollte auflachen, aber es kam ihm nur ein heiserer Ton aus der Kehle; der Sterbende lallte mit Anstrengung, er hatte seine Augen auf das Mädchen geheftet. Nun begannen seine Augen zu brechen. Das Mädchen aber fuhr fort: »Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Übel. Denn dein ist das Reich, und die Herrlichkeit, in Ewigkeit, Amen.« Sie beugte sich über den Kopf in ihrem Schooß; einen Augenblick scheute sie zurück, dann küßte sie ihn auf die Stirn; sie drückte die Augen zu, dann legte sie den Kopf leise auf den Boden, stand auf und trat zu dem Geliebten. Die Beiden gingen fort.


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