Paul Ernst
Geschichten von deutscher Art
Paul Ernst

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Der weiße Rosenbusch

Das Schlachtfeld von Jena ist eine Hochebene von mehreren Stunden Umfang, in welcher verstreut eine Anzahl runde Vertiefungen liegen, wohl in Urzeiten durch strudelnde Wasser entstanden. In diese Vertiefungen sind meistens die Dörfer und einzelnen Gehöfte gebaut, so daß die Bewohner mit einem begrenzten Blick aufwachsen, indessen der Wanderer, der oben auf der Ebene geht, von Häusern und Menschen nicht eher etwas sieht, bis er dicht vor einer solchen Vertiefung angekommen ist.

Am Vorabend der Schlacht, als der deutsche Heerführer die unheilvolle Bewegung vom Rande der Ebene rückwärts machte, ritt ein preußischer Leutnant mit seinem Burschen in eine dieser Vertiefungen hinab, in welcher ein einsames Bauerngehöft lag, versteckt unter düstern alten Kastanienbäumen. Um den Weg abzukürzen, der sich langsam wand, lenkten sie die Pferde quer über den Acker. Ein noch junger Mann, der hinter dem Pfluge ging, wickelte die Zügel um den Pflugsterz und trat ihnen entgegen, indem er grob ausrief, über seinen Acker gehe kein öffentlicher Weg. Der Offizier fragte: »Ihr seid der Bauer?«, und wie der andere bejahend antwortete, fuhr er fort: »Es gefällt mir, daß Ihr auf Eurem Recht besteht. Ihr werdet ein ordentlicher Mann sein. Führt uns zu Eurem Haus.« Der Bauer faßte in den Zügel des Pferdes, lenkte es auf die Straße, und indem der Bursche folgte, kamen die drei auf den Hof. Der Offizier stieg ab und trat vorauf in das Haus; der Bauer hinter ihm; nach einer Weile kam der Soldat, der die beiden Pferde am Ring der Torfahrt festgebunden hatte.

Nachdem der Bauer noch seine Frau hatte rufen müssen, welche eintrat, indem sie die Hände an der blauen Schürze abtrocknete, begann der Offizier:

»Morgen ist die Schlacht, und es kann Keiner wissen, wie es für ihn ausgeht. Durch einen Zufall habe ich mein Vermögen bei mir, tausend Louisdor in bar« – er setzte einen leinenen Sack auf den Tisch – »und wenn ich falle oder gefangen werde, so geht das Geld für meine Familie verloren. Ich habe Vertrauen zu Euch, daß ihr nicht die Hinterbliebenen eines Deutschen, der auch für Euch kämpft, um ihr bißchen Armut betrügen werdet. Hebt mir das Geld auf, so gut ihr könnt. Bleibe ich am Leben, so hole ich es selber wieder ab, falle ich, so könnt Ihr es meinem Burschen übergeben; kommt auch mein Bursche nicht, so bringt ihr es mit diesem Briefe nach Görlitz zu meiner Frau, sobald die Straßen wieder sicher sind.«

Nach diesen Worten schüttelte der Offizier dem jungen Bauern die Hand, grüßte artig gegen die Frau und verließ mit dem Burschen das Zimmer.

Der Bauer ging mit seiner Frau in den Keller, nahm von dem größten Sauerkrauttopf den Stein und die Brettchen herunter, mit denen der eingelegte Kohl beschwert war, schüttete den in einen leeren Topf, der für das Salzfleisch beim Schweineschlachten gebraucht wurde, verbarg den Beutel mit dem Gold unten in dem Sauerkrauttopf und füllte Kohl wieder auf. Nachdem er die Brettchen und den Stein wieder an ihre Stelle gelegt hatte, wies er die Frau an, den übrigen Sauerkohl mit in die Küche zu nehmen, und ging nach oben.

In der Nacht, während Napoleon seine Artillerie durch den steilen Hohlweg auf die Hochebene schaffte und Davoust seine Kolonnen von der anderen Seite nach oben führte, wachte der Bauer aus schweren Träumen um das Geld auf. Er faßte neben sich und fand das Lager seiner Frau leer. Langsam erhob er sich und zog sich an, dann ging er in den Keller hinunter. Da saß die Frau gekauert vor dem geleerten Topf und zählte die Goldstücke in ihren Schoß. Erschreckt schlug sie die Schürze über den Schatz, als der Mann hinter sie trat. Er sagte Nichts. Nach langem Schweigen sprach sie: »Ein schönes Stück Geld, wir könnten jedem Jungen einen Hof hinterlassen.« Er erwiderte: »Tu das Geld in den Topf. Wenn du als Zweites ein Mädchen gehabt hättest, dann brauchtest du nicht solche Gedanken zu haben.« Sie wischte sich mit dem Handrücken eine Träne ans den Augen, denn ihre Hände waren von dem Krautsaft besudelt, dann brachte sie Alles wieder an seine Stelle.

Kanonendonner kam, Gewehrfeuer, Fliehende und Verfolger; der Hafer wurde zertreten; Tote und Verwundete lagen; die Verwundeten wurden aufgehoben; in der Nacht streiften Viele auf dem Schlachtfelde umher, um den Toten die Kleider auszuziehen, auch nach Geld und Taschenuhren und Ringen zu suchen.

Am Abend des anderen Tages kam der Bursche, erschöpft und elend. Der Bauer setzte ihm ein Stück Speck, Brot und eine Flasche Schnaps vor. Der Soldat verlangte einen Arbeitsanzug des Bauern, er wollte das Geld nach Görlitz bringen. Der Bauer schüttelte den Kopf. Der Soldat, welcher ihn falsch verstand, sagte: »Es ist nicht Fahnenflucht; behalte ich die Uniform, so werde ich nur gefangen. Wenn ich das Geld abgeliefert habe, suche ich mein Regiment wieder auf. Ich bin ein ordentlicher Kerl, ich muß jetzt Unteroffizier werden.« Der Bauer erwiderte ruhig: »Ich bin für das Geld verantwortlich; die Wege sind mir jetzt nicht sicher genug; ich bringe das Geld selber nach Görlitz, wenn es mir an der Zeit scheint.« Der Soldat fluchte und trat auf den Bauern zu: »Hältst Du mich für einen Spitzbuben?« Der Bauer zuckte nur die Achseln und sagte: »Ich bin verantwortlich.« »Du Hund willst mir zu verstehen geben, ich will die Witwe meines Leutnants bestehlen?« schrie der Soldat und schlug ihm mit der geballten Faust ins Gesicht. Eine Spitzhacke stand dem Bauern zur Hand; er hatte einen neuen Stiel aus Hornbaumholz hineingefaßt statt des alten rotbuchenen, der gesprungen war. Er ergriff die Hacke und schlug den Soldaten auf den Kopf. Der Mann fiel um, ohne einen Laut zu sagen. Der Bauer kniete nieder, nahm den Kopf des Toten in die Hand. In der Tür stand die Frau, lautlos die Hände über sich zusammenschlagend. »Faß an!« rief er ihr zu. Sie trug den weichen Körper an den Füßen, er an der Brust; er wendete sich zu dem alten Brunnen, der nicht mehr gebraucht wurde, weil die Eltern durch den Genuß des Wassers erkrankt und gestorben waren, während er als Knecht auf einem anderen Hof gedient hatte. Er schob den Leichnam vornüber auf den Rand und stürzte ihn hinunter. Vom Bau im vorigen Jahre lagen noch Steine und Sand in der Hofecke; bis nach Mitternacht karrte er davon herbei und stürzte nach; indessen hatte die Frau, weinend und leise für sich mit zitternder Stimme ihre Unschuld beteuernd, die Blutspuren in der Stube ausgescheuert.

In den folgenden Jahren kamen häufige Mißernten, so daß trotz der hohen Preise viele größere und kleinere Landwirte schlecht standen. Nach den Befreiungskriegen folgten dann die Jahre der niedrigen Preise, und mit ihnen eine schwere Notlage der Gutsbesitzer und auch der Bauern. In dieser ganzen Zeit, welche etwa ein Menschenalter währte, mußte mancher Besitzer um billigen Preis verkaufen und mit dem weißen Stabe von seiner Väter Hofe ziehen, und mancher schlaue Mann wurde reich, wenn er gerade bares Geld zur Verfügung hatte. Unser Bauer kaufte langsam Feld um Feld, Weide um Weide, wie sich die Gelegenheit bot; er kaufte auch um ein Billiges einen ganzen Hof; und als er starb, etwa in der zweiten Hälfte der Fünfzig, da besaß er mehr als ein mittelmäßiger Rittergutsbesitzer. Er hinterließ seine Witwe und die beiden Söhne, welche nun im Anfang der Dreißig standen. Kurz nach seinem Tode verlobten sie sich mit zwei Erbtöchtern, deren Väter in derselben Gegend begütert waren.

Es war ein neuer Pastor in die Gemeinde gekommen, in welche unser Hof eingepfarrt war. Als er mit seiner Frau die Witwe besuchte, da lud diese die Pastorsleute für den nächsten Sonntag zu einer Lustfahrt in ihrem leichten Wägelchen ein. Der älteste Sohn kutschierte und zeigte mit der Peitsche die Äcker, Felder, Weiden und Wiesen, welche ihnen selber gehörten oder ihren Schwiegereltern. Mehrere Stunden fuhren sie so, und der Frau wurde zum ersten Male die Größe ihres Besitzes klar. Sie rühmte ihren Reichtum gegen die Pastorin und sprach von ihrem verstorbenen Mann, wie er ein fleißiger Kirchengänger gewesen sei, und wie ihn die Regierung eigentlich hätte zum Amtsvorsteher wählen müssen, und da sprach sie vom Segen des Himmels; aber wie sie das Wort sprach, da tauchte die halbvergessene Erinnerung an das Verbrechen ihres Mannes in ihr auf, und sie verstummte plötzlich. Dann seufzte sie nach einer Weile und sagte, der älteste Sohn sei jähzornig, er gleiche ganz seinem Vater, und zuweilen habe sie Angst, daß Gott sie durch ihn strafen werde; dabei weinte sie einige Tränen. Der Sohn drehte sich um und gab ihr einen groben Verweis; verlegen lächelnd sprach sie zu den Pastorsleuten: »Er ist gut zu mir, er meint es nicht so böse, wie es klingt.« Der Sohn gab den Pferden einen Peitschenschlag, daß sie plötzlich stark anzogen.

Nun wurde in dieser Zeit ein alter Schäfer bettlägerig, der seit Langem für die Gemeinde gehütet hatte. Wie er merkte, daß es an das Letzte ging, ließ er den Pastor rufen, um ihm ein Geständnis zu machen und sein Gewissen zu erleichtern.

Damals, nach der Schlacht, als die Heere sich entfernt, hatte er seine Schafe, so viele ihm geblieben waren, auf die zerstampften Haferfelder geführt, wie auch die Gänse in den Hafer geschickt wurden, damit von der zerstörten Frucht, die selbst mit der Sichel nicht mehr geerntet werden konnte, wenigstens noch etwas genutzt wurde. An einem mit Schlehdorn bewachsenen Rain, mitten in den Dörnern, hatte er die Leiche eines preußischen Leutnants gefunden, welche in ihrem Versteck übersehen sein mochte. Von Habgier getrieben, untersuchte er die Kleider des Toten, aber er fand nur eine Brieftasche mit Briefen und Aufzeichnungen. Einen goldenen Trauring wagte er nicht abzuziehen, denn die Hände waren schon etwas angeschwollen. In seiner Angst ging er die folgende Nacht mit Hacke und Schaufel an die Stelle und begrub den Leichnam; dann betete er über dem Grabe. In seinem Garten hatte er einen großen weißen Rosenbusch; von diesem hackte er einen kräftigen Trieb heraus und pflanzte ihn in die lockere Erde des Grabes, nachdem er in der Umgebung die Schlehen vernichtet hatte.

Die Brieftasche legte er zu Hause ins Schapp; und obwohl sie ihm gar nichts nützen konnte, lieferte er sie doch nicht beim Amtsvorsteher ab; er erzählte auch Niemandem von der Geschichte, weil er wohl wußte, daß er eine verbrecherische Absicht gehabt hatte bei der Durchsuchung des Gefallenen. So waren die Jahre vergangen, und er hatte die in Papier gewickelte Brieftasche immer an ihrer Stelle liegen lassen. Nun, auf dem Totenbette, wurde die Angst seines Gewissens größer wie die Furcht vor einer Strafe oder Beschämung, und er erzählte dem jungen Pastor alles, indem er ihm die Brieftasche übergab. Sie war aus violettem Leder, trug auf silbernem Schild ein Wappen und wurde durch ein nunmehr verrostetes stählernes Schloß zusammengehalten, das nicht durch einen Schlüssel zu öffnen war, sondern durch das Verschieben eines kleines Stiftes, welcher als Dorn des Schlüsselloches erschien. Der Pastor übergab die Tasche nebst einer Darstellung der Erzählung dem Amtsgericht; hier stellte man Nachforschungen an und fand bald die überlebende Witwe des vor dreißig Jahren Gefallenen; sie bewohnte zwei kleine Zimmer in demselben Hause in Görlitz, wo sie mit ihrem Gatten eine große Wohnung inne gehabt hatte.

Die Frau des Gefallenen hatte damals einen Brief erhalten, der am Tage vor der Schlacht geschrieben war. In diesem drückte der Offizier seine starken Befürchtungen über den Ausgang der Schlacht und des Krieges überhaupt aus. Um seine Familie für den Fall seines Todes sicherzustellen, hatte er einen umstrittenen Erbschaftsanspruch verkauft, den nach seinem Ableben eine alleinstehende Frau schwerlich hätte durchsetzen können, besonders in den schwierigen Zeiten, die er voraussah. Die bare Summe in Gold, welche nach menschlicher Berechnung unter diesen Verhältnissen den Wert seines Vermögens am besten darzustellen schien, hatte er einige Tage vorher erhalten; er mochte sie keinem Bankhaus anvertrauen, scheute sich auch, einen Boten mit ihr in die Heimat zu schicken, und so schrieb er ihr denn, er werde das Geld während der Schlacht einem zuverlässigen Mann zur Aufbewahrung übergeben, der es ihr bringen werde, wenn er selber fallen sollte.

Seit diesem Brief hatte die Frau keine Nachricht wieder von ihrem Gatten erhalten, dem sie kaum fünf Monate vorher angetraut war. Sie saß am Fenster ihres kleinen Stübchens, wo auf der Kommode alte Tassen und gravierte Glasbecher standen, und wo die sorgsam geschonten Stühle aus der guten Stube von den Eltern ihres Gatten an der Wand aufgereiht waren; sie nähte und stickte die Wäsche für das Kind, welches sie erwartete; und als nach der Schlacht alle Nachrichten ausblieben und der Name ihres Gatten unter den Vermißten angegeben war, da zog sie ein schwarzes Kleid an, das sie schon im Schrank hängen hatte, und häufige Tränen verdunkelten ihre Augen, daß sie oft aufhören mußte zu nähen, und mancher Tränentropfen fiel von ihren schönen Wimpern auf die kleinen Hemdchen des Säuglings.

Dann wurde das kleine Mädchen geboren und füllte die stillen Wände mit seinem Geschrei, und die kleinen Sorgen um das Kind verdeckten den großen Kummer; das Kindchen wuchs heran, und die Erhebung gegen die französischen Unterdrücker bereitete sich vor; die arme Mutter gab ihren goldenen Trauring her für das Vaterland und tauschte einen eisernen Ring ein; das war das einzige Stück aus kostbarem Metall gewesen, das sie noch gehabt hatte, alles andere Entbehrliche hatte sie gleich nach der Geburt verkauft, damit der Erlös das kleine Kapital vergrößere, das sie noch besaß; dann schnitt sie ihr schönes blondes Haar ab und verkaufte es und brachte das Geld zu der Sammelstelle; und wie dann die Heere ins Feld zogen und die Schlachten geschlagen wurden, da zupften ihre und des Kindes Hände unermüdlich Charpie, die sonst allerhand feine Stickarbeiten machten für ein mäßiges Geld.

Wie die Tochter zur schlanken Jungfrau heranwuchs und sie selber gebückter wurde, da kam eine neue Heiterkeit in ihr Gesicht und über die feinen Furchen ihrer Stirn. Der Sohn eines alten Regimentskameraden ihres Gatten, ein tüchtiger junger Offizier, reichte dem Mädchen die Hand; bald kamen Kinder, welche lustig und lärmend die Treppe zu dem stillen Stübchen der lächelnden Großmutter hinauftollten; und so verfloß ein Menschenalter nach dem schweren Schlag, welcher die Frau getroffen hatte.

Als sie dann vom Amtsgericht in Jena das Paket erhielt mit dem Geständnis des Schäfers und der alten Brieftasche, welche sie einst als Braut dem Verstorbenen geschenkt, da wurde sie so erschüttert, daß sie tagelang das Bett hüten mußte. Wie sie sich gefaßt hatte, da eröffnete sie Alles ihren Kindern und fragte sie um Rat, was sie tun sollte, denn sie fühlte den heißen Wunsch, wenigstens das Grab ihres Gatten zu besuchen, welches in der Aussage des Schäfers genau bezeichnet war. Die Brieftasche enthielt ihre fünf letzten Briefe, eine Locke ihres Haares und zwei eingeheftete Pergamentblätter, auf welche man damals flüchtige Aufzeichnungen mit Bleistift machte, die man mit Brotrinde leicht abwischen konnte, wenn man sie nicht mehr brauchte. Die meisten Aufzeichnungen, welche ja nur das Gedächtnis des Besitzers entlasten sollten, bestanden aus unverständlich abgekürzten Worten und aus Zahlen; die letzte Niederschrift war eine Adresse – die Adresse des Bauern, welchem der Leutnant das Geld übergeben hatte; unter dem Namen stand vermerkt in Zahlen: tausend, und dahinter das damals übliche Zeichen für Louisdor.

Nachdem der Sohn diese Niederschrift lange betrachtet, erklärte er der alten Dame, er werde sie auf ihrer Reise, welche er durchaus natürlich und gerechtfertigt finde, ohnehin begleiten; und dabei wolle er mit ihr Nachforschungen nach dem Mann anstellen, dessen Namen hier aufgeschrieben sei; denn er halte es nicht für unmöglich, daß der Verstorbene damals diesem sein Vermögen anvertraut habe.

Wie die Dame sich erholt und der Offizier Urlaub erhalten hatte, reisten dergestalt die Beiden nach Jena und zogen auf dem Amtsgericht alle Erkundigungen ein. Der Schäfer war inzwischen gestorben, indessen hätte er auch Wesentliches nicht mehr bekunden können. Der Amtsrichter, dem der Offizier seine weitere Vermutung mitteilte, erkannte sofort die aufgezeichnete Adresse, denn der Name des wohlhabenden Bauern war durch allerhand Kaufhandlungen dem Gerichte vertraut; und er wußte gleich zu berichten, daß allerdings allgemein aufgefallen war, wie der Mann ohne sichtbare Ursachen zu so großem Wohlstand gelangt sei. Die Angelegenheit bewegte ihn so, daß er die beiden bat, ihn und seinen Sekretär mitzunehmen, und zuerst die Witwe des Bauern aufzusuchen, ehe sie zu dem Grabe führen, damit man vielleicht aus der Überraschten eher ein Geständnis ziehe; gesetzlich sei freilich wegen der Verjährung Nichts mehr zu machen.

So nahmen sie also einen Wagen in ihrem Gasthof; der Sekretär stieg zu dem Kutscher auf den Bock, der Amtsrichter setzte sich zu den Herrschaften, und in kaum zwei Stunden fuhr man in den Bauernhof ein.

Die Witwe wie die beiden Söhne waren auf dem Hof. Der älteste Bruder hatte eben Gras eingefahren; die Sense steckte noch in der Fuhre fest, die Pferde waren schon abgeschirrt; der jüngere Bruder war auf dem Boden und maß Korn ab. Die Witwe führte die Fremden in die Stube, die Brüder folgten, gespannt auf die Ursache des Besuches.

Der Amtsrichter fragte die Frau, nachdem der Sekretär sich mit Aktenpapier und Schreibzeug am Tische niedergelassen hatte: »Ist der Bursche des preußischen Leutnants, der Ihnen die tausend Louisdor zur Aufbewahrung übergab, nach der Schlacht wieder bei Ihnen gewesen?«

Der Frau schwindelte vor Schreck, und unbesonnen erwiderte sie, was sie in ihrer Angst während der ersten Jahre immer leise vor sich hingesagt hatte: »Es kann ihn Niemand haben kommen sehen.«

»Ihr habt ihn im Keller begraben?«

»Im Brunnen«, sagte sie, noch immer bestürzt.

»Was, Ihr habt also doch einen Menschen gemordet?« schrie der jüngere Bruder; denn der plötzliche Reichtum des Vaters hatte seinerzeit allerhand Gerüchte erzeugt, und wie das so geht, waren die nicht weit von der Wahrheit entfernt, und von Kindheit an hatten sie den Brüdern in die Ohren geklungen.

Die Frau erhob sich. »Ja, was ist denn das? Was wollen denn die Herrschaften?« kam es über ihre bebenden Lippen, die vergeblich Festigkeit zu zeigen suchten.

»Schwatze nicht, Mutter, wenn Du etwas weißt,« sagte finster der ältere Sohn.

»Schweigen Sie!« donnerte ihn der Amtsrichter an.

»Die Alte ist halb blödsinnig, sie hätte schon längst unter Kuratel gemußt,« antwortete der Sohn.

Der Amtsrichter wies die Beiden aus dem Zimmer, um die zusammengesunkene Frau unbeeinflußt verhören zu können.

Draußen auf dem Hof standen sich die Brüder gegenüber.

»Ich will Nichts von dem Sündengeld«, sagte der Jüngere.

»Willst du vielleicht Knecht bei mir spielen?«, antwortete der Andere.

»Ich gehe nach Amerika, wo mich Keiner kennt.«

Rasend vor Wut ergriff der Andere die Sense und hieb auf den Jüngeren ein; mit einem furchtbaren Aufschrei stürzte der zu Boden. Der Andere ließ die Sense fallen und wischte sich über die Stirn; der Bruder verdrehte die Augen; er hatte ihn ermordet.

Die Knechte waren auf dem Felde. Nur die Kuhmagd stürzte aus dem Stall; aus dem Haus kamen die Fremden, die zitternde Mutter geführt von dem Amtsrichter. Wie sie vor dem Lebenden stand und ihn verständnislos ansah, sagte der: »Da wird das Blut bezahlt.« Dann ging er ruhig durch die starr stehenden Menschen zur Stalltür und schritt mit festen Tritten die Bodentreppe hinauf; als man sich über Alles klar wurde und ihm nachfolgte, war es zu spät; er hatte sich an einer Dachlatte erhängt.

Die Mutter erlangte ihre Besinnung nicht wieder.

Nach den Erinnerungen alter Leute fand man später im Hof die Stelle, wo der Brunnen gestanden hatte; man räumte ihn aus und traf unten Knochen, Zeugfetzen, Uniformknöpfe und Schuhe des ermordeten Soldaten.

Die alte Dame war von dem Schrecklichen so mitgenommen, daß sie wieder eine Woche das Bett hüten mußte; sie wurde von ihrem Schwiegersohn gepflegt. In der Stadt hatte sich das Gerücht von ihrer Geschichte verbreitet und allgemeine Rührung erzeugt; der Bürgermeister ließ vor dem Gasthaus, in dem sie lag, Stroh auf die Straße legen, damit sie nicht durch das Wagengeräusch gestört werde; Blumen und Früchte wurden von Unbekannten geschickt, und viele Bürger erkundigten sich täglich in eigener Person bei dem Wirt nach ihrem Befinden.

Sobald sie sich etwas kräftiger fühlte, verlangte sie, das Grab ihres Gatten endlich zu besuchen. Der Arzt meinte, daß bei der Herzkranken ein Versagen oder Aufschieben ihres Wunsches ebenso gefährlich sein könne, wie seine allzufrühe Befriedigung, und so gab er seine Erlaubnis, daß sie mit ihrem Sohne schon jetzt die Fahrt unternahm.

Jener Schößling der weißen Rose, welche in Thüringen so häufig auf den Kirchhöfen gepflanzt wird, daß man sie auch Kirchhofsrose nennt, hatte sich in den langen Jahren zu einem sehr großen Busch entwickelt von einer solchen Schönheit, daß er in der ganzen Gegend bekannt war. Der Wagen war auf der Landstraße gefahren bis zu der Stelle, wo sich der schmale Feldweg abzweigte, welcher zu dem Raine führte und dann an ihm entlang lief. Das Feld war jetzt mit Gerste bestanden, die eben begann, gelb zu werden; auf dem geringen Boden war sie nicht sehr üppig gekommen; aber Kornblumen und Mohnrosen machten das Feld freundlich und heiter. Der Rosenbusch stand in seiner schönsten Blüte; viele Hunderte von kleinen weißen Rosen waren halb oder ganz aufgebrochen an den oberen Enden der langen, gebogenen Ruten; die Dame war müde, der Offizier setzte sie sorgsam auf einen breiten Stein, der gerade unter dem Busche lag. Ein Hänflingsnest mit Jungen war mitten in den dornigen Zweigen; der alte Vogel, mit einem Körnchen im Schnabel, saß eine Weile ängstlich wartend wenige Schritte von ihnen auf einem kleinen dürren Stecken; als er sah, daß er sich nicht fürchten mußte, flog er eilig zum Nest, und das Geschrei der bittenden Jungen erscholl.

Unbeweglich und still standen die Gerstenähren, schon leise sich neigend, harrten die Kornblumen und hingen die leuchtenden Mohnrosen. Eine Lerche, welche im Felde nistete, flog wie ein Pfeil schmetternd in die Höhe.

Die Dame sagte ganz leise: »Hier ruht es sich schön«; dann wurde sie plötzlich dem Sohn, welcher sie aufrecht sitzend hielt, schwer im Arm; eine heitere Ruhe war in ihrem gütigen Gesicht; ein Herzschlag hatte sie getroffen.

Man begrub sie unter dem weißen Rosenbusch, neben ihrem Gatten, welcher ihr vor dreißig Jahren vorangegangen war; ein niedriger Stein, welcher zwei verschlungene Hände aufweist, wurde zu Beider Erinnerung gesetzt.

Noch heute blüht der Rosenbusch über dem Grabstein; eine verworrene Erinnerung, daß zwei treu Liebende hier begraben liegen, die nach langen Jahren vereinigt wurden, hat sich im Volk erhalten, und es ist ein Glaube der Liebenden geworden, daß sie zu dem Grabe gehen und Jeder eine Rose brechen und im Gesangbuch aufheben muß, denn so lange die vertrocknete Rose dauert, so lange dauert auch ihre Liebe.


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