Paul Ernst
Geschichten von deutscher Art
Paul Ernst

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Der Wald

In einer Gemarkung im nördlichen Deutschland hatte eine Familie Hermann ihren Bauernhof. Die Familie hatte seit undenklichen Zeiten hier gesessen und war immer die angesehenste gewesen. Vielleicht hatten die Vorfahren in der heidnischen und altchristlichen Zeit schon das Amt der Billunge bekleidet, wie die Vorfahren der sächsischen Kaiser, vielleicht floß in den Adern der Hermanns dasselbe Blut, das in den Adern der Heinriche und Ottonen geflossen war; es wäre nach der Lage ihres Hofes nicht unmöglich gewesen, denn er lag ganz in der Nähe eines der Orte, wo nach der Sage Heinrichs Vogelherd gestanden hatte.

Die Familie der Hermanns war in den langen Jahrhunderten die gleiche geblieben: sie wohnte in dem alten strohgedeckten Haus mit den Pferdeköpfen, in dessen Mitte die große Diele sich befand; die Knechte und Mägde aßen noch mit an dem gescheuerten Tisch, und vor dem Essen betete der Hausvater das Tischgebet; vielleicht hatte der Vorfahr noch ebenso zu Thor gebetet, wie heute der Nachkomme zu dem christlichen Gott, an den die Knechte schon nicht mehr glaubten, weil sie die sozialdemokratische Zeitung lasen. Die alte Bauernfamilie war die gleiche geblieben, aber die ganze übrige Welt hatte sich verändert.

Zu dem Hof gehörte ein sehr schöner Eichenwald. Wenn in den Jahrhunderten einmal ein Stamm gebraucht wurde, dann war er sorgfältig ausgesucht, zur rechten Zeit geschlagen, auf den Hof gebracht und bearbeitet; es ward auch wohl an die Nachbarn einmal ein Stamm verkauft. Immer wurde dann ein neues Bäumchen angepflanzt und mit Dornen geschützt. Die Gegend war eben; der Wald lag innerhalb der Felder, nach allen Seiten geradlinig abgegrenzt. Die äußersten Bäume hatten ihre Zweige bis unten hin behalten, im Innern hatten sich die Bäume gereinigt und erhoben sich schlank aus dem dichten Unterholz. Vielhundertjährige Eichen standen da, und von der ältesten wurde erzählt, daß sie noch aus der Heidenzeit stamme, und daß die Hermanns noch unter ihr geopfert haben. Ihr Schaft war noch kerngesund, die Äste breiteten sich weit aus, und es war, als ob die übrigen Bäume des Waldes aus Ehrfurcht vor ihr zurückgetreten waren. Der Baum war in der ganzen Gegend berühmt; wenn man den Wald von weitem sah, so konnte man ihn unterscheiden, denn er erhob sich hoch über die andern Bäume.

In der Erntezeit ruhten die Schnitter unter den Bäumen des Waldrandes, und die Alten erzählten den Jungen alte Sagen, von einer Schlacht, welche hier stattgefunden, daß die Vorfahren sich mit dem Vieh im Walde versteckt, daß Räuber hier Menschen geschlachtet haben – wirre Überbleibsel aus den ältesten Zeiten, denn die Schlacht, welche im Dreißigjährigen oder gar Siebenjährigen Krieg gewesen sein sollte, mußte gewesen sein, als die Leute noch mit Bogen und Pfeil schossen; man fand viele eiserne und sogar steinerne Pfeilspitzen beim Pflügen der Felder; und die Geschichten von Räubern gingen vielleicht auf urtümliche Menschenopfer zurück.

Im Sommer weidete das Vieh des Hermannschen Hofes im Walde, in früheren Jahrhunderten wohl von einem Sohn des Hauses gehütet, heute von einem Knecht; seit undenklichen Zeiten hatten die Frauen, welche in ihrer Jugend auf dem Hof gedient, das Recht, täglich für zwei Ziegen Futter in ihm zu holen. Im Herbst nahm der Bauer die Flinte und schoß ein Reh oder auch zwei.

Im vorigen Jahrhundert waren die großen Umwälzungen in der Landwirtschaft gekommen; die Brache wurde abgeschafft, es wurde Klee gebaut, man fütterte im Stall; dann kam die Zuckerrübe, der Körnerbau ging zurück, der künstliche Dünger kam, die guten Arbeiter zogen fort in die Stadt, es wurden polnische Arbeiter angenommen, die nur für Monate blieben. Man denkt wohl gewöhnlich, daß da, wo seit so langen Zeiten in natürlichen Verhältnissen und in guter Zucht dasselbe Geschlecht gesessen hat, sich ein besonders knorriges Menschentum entwickeln müsse. Aber es ist, als wenn eine allzu lange Ruhe und Sicherheit für ein Geschlecht auf die Dauer auch nicht gut ist; die Menschen werden zu fein, und es bildet sich eine Vornehmheit bei ihnen, welche bewirkt, daß sie in der Gemeinheit des Lebens nicht widerstandsfähig genug sind. Man muß wohl ein Volk immer im Ganzen betrachten. Da ist alles nötig: Roheit der jungen Kraft, Gemeinheit der untersten Schicht, Vornehmheit des alten Geschlechts; es heben sich Geschlechter und sinken; was für das Geschlecht ein Unglück ist, das ist für das Volk notwendig. Aus der Roheit entwickelt sich Vornehmheit und Gemeinheit, aus der Vornehmheit entsteht oft Gemeinheit, aus der Gemeinheit kann vielleicht wieder Roheit werden, wenn harte Verhältnisse erziehend wirken; oder sie füllt die Plätze aus, welche in einem Volk für die notwendig Untergehenden bestimmt sind.

Auf dem Hermannschen Hofe wehrte man sich gegen jede Neuerung, solange es ging.

Als der letzte Besitzer den Hof übernahm, ein kinderloser Fünfzigjähriger, da waren die Umstände sehr viel schlechter geworden, wie sie gewesen. Nicht dadurch, daß sie an sich zurückgegangen wären, aber dadurch, daß die Umstände der andern so viel besser geworden waren. Knechte und Mägde waren nicht mehr zu halten, denn die Kost sagte ihnen nicht mehr zu, welche doch für die Familie gut genug sein mußte, die Arbeit war ihnen zu viel, welche doch von dem Bauern und der Bäuerin geleistet wurde.

Ein Nachbar besuchte den Bauern und sprach mit ihm über Alles. Er hielt ihm vor, daß er keine Erben hatte, daß er sich nutzlos quälte und sorgte, ohne doch von seiner Arbeit und Sorge Freude zu haben. Dann schlug er ihm vor, er solle den Wald verkaufen und die Äcker um einen billigen Preis an wohlhabende Nachbarn verpachten, mit denen er keinen Ärger hatte; von den Zinsen für die Kaufsumme und von den Pachten konnte er mehr als behaglich leben; Einiges konnte er auch für sich zurückbehalten, das er zu seinem Vergnügen bearbeitete, ohne auf fremde Menschen angewiesen zu sein. Dem Bauern kamen die Tränen, als der Freund so sprach; er antwortete: »Ich habe ja auch schon daran gedacht, aber ich habe mich geschämt, das zu tun; wozu bin ich denn auf der Welt, wenn ich mich nicht mehr nützlich machen kann?« Aber der andere erwiderte ihm, daß er so nicht denken dürfe, daß die Menschen verschiedene Gaben von Gott erhalten haben, und daß ihm niemand einen Vorwurf machen werde, denn jeder wisse, daß auf dem Hermannshof immer Ehrenmänner gesessen haben.

Der Mann bedachte sich mit seiner Frau den Rat lange hin und her; sie wußten Beide, daß er gut war, und so beschlossen sie denn endlich mit schwerem Herzen, ihn zu befolgen.

Es kam ein Holzhändler, welcher den Wald kaufte; der Förster hatte einen Überschlag gemacht, welches der Preis war, den er bringen mußte, und nach einigem Handeln zahlte der Händler auch diesen Preis, bei dem er immerhin genug verdiente. Dann reiste er wieder ab und erklärte, daß er zum Winter kommen werde, um die Abholzung zu leiten.

Bäume, deren Holz für Möbel, für den Hausbau und für ähnliche Zwecke benutzt werden soll, müssen geschlagen werden, wenn sie ganz saftleer sind, da das Holz später sonst reißt und leicht wurmstichig wird. Es ist eine alte Bauernregel, daß der Saft am zehnten Januar anfängt zu steigen.

Der Bauer wartete auf die Ankunft des Händlers den ganzen Dezember, er wartete den Januar; endlich, im Anfang Februar, kam der Mann, er brachte eine Anzahl Arbeiter mit, nahm noch andere an, und sprach davon, daß er in zwei Wochen den Wald gelegt haben werde.

Der Bauer ging mit ihm in den Wald, wo überall die Axt klang, das Stürzen der gefällten Bäume, das Prasseln der Äste. Er sagte ihm, es sei zu spät zum Fällen, der Saft stehe schon in den Bäumen. Der Händler zuckte die Achseln, er hatte nicht eher kommen können. Der Bauer fuhr fort, das Holz werde reißen. Der Händler lachte und sagte, darauf seien die Tischler schon eingerichtet, das Holz werde heutzutage alles gesperrt, dann reiße es nicht; und wenn es soweit sei, daß der Wurm hineinkomme, dann lebe er schon längst von seinen Zinsen; er mache es wie der Bauer, wenn er genug habe, dann höre er auf und lasse andere Leute auch ein Geschäft machen. Er habe im vorigen Jahr einen Kiefernwald in Russisch-Polen gekauft, da habe im Februar noch der Vogel auf dem Zweige gepfiffen, und im August habe der Polier schon seine Rede vom Gerüst gehalten.

Dem Bauern stieg das Blut zu Kopf. Er sagte: »Die Kiefernbalken sind in zehn Jahren verstockt, wenn da einer mit dem Messer sticht, dann fährt er bis zum Heft hinein.« Der Händler erwiderte: »In zehn Jahren ist so ein Haus schon in der fünften Hand.«

Die Beiden standen vor der uralten Eiche. Der Bauer sah langsam an ihr hoch und nieder, sah wieder hoch und nieder; indessen redete der Holzhändler gesprächig, dieser Baum sei ein Prachtstück, für den habe er eine besondere Verwendung, das sei ein Stück für einen Millionär. Der Bauer wendete ihm den Rücken und ging.

Er ging nach Hause und stieg die drei Stufen zur Wohnstube hoch. Hier nahm er aus dem Tischkasten das Rasiermesser, prüfte es auf dem Handballen, dann schritt er in die Schlafkammer; der hochgewachsene Mann mußte sich bücken, als er über die Schwelle trat. In der Kammer legte er sich auf das breite eheliche Bett, schloß die Augen, führte das Messer zum Hals und schnitt entschlossen zu.


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