Paul Ernst
Geschichten von deutscher Art
Paul Ernst

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Die Lieder im Schützengraben

Während der Kämpfe in Polen lag einmal eine deutsche Abteilung den Russen so lange gegenüber, daß beide Teile gewisse feste Ordnungen angenommen hatten.

Das Feld war rechtzeitig bestellt gewesen, und nun zog sich eine weite schwankende Ebene goldgelben Roggens hin, in dem Mohnrosen und Kornblumen rot und blau blühten. Die Gräben lagen sich auf einer leichten Anhöhe gegenüber und schnitten dunkle Linien in den Boden; zwischen und hinter ihnen war der Boden verwüstet: inmitten von zertretenen und zerstampften Äckern, Spuren von Rädern und Hufen, aufgeworfenen Schollen, leeren Blechbüchsen und verlorenen Uniformstücken von Toten oder Verwundeten, die hier gelegen, erhob sich vielleicht einmal noch ein Büschel Halme, breit wie eine Hand, hatte sich eine umgeknickte Kornblume wieder nach oben gerichtet und blühte mit halb zerstörter Krone; aber in weiterer Entfernung standen die Felder fast unberührt, nur schmale Gänge liefen in dem Korn, wo ein einzelner Mann gehen konnte, dem dann die Halme um die Beine schlugen.

Den ganzen Tag lagen sich die feindlichen Krieger gegenüber; die einen lagen und saßen gebückt in den niedrigen, brettergedeckten Höhlen, indessen die andern standen und durch sorgfältig verdeckte Löcher in dem Wall der aufgeworfenen Erde nach dem Gegner lugten. Lange war es oft ruhig; dann fiel ein Schuß, andere Schüsse folgten, von der Gegenseite kam Antwort, dann schwächte sich das Feuer wieder ab, und in den Gräben war nur die langsame Stimme eines Erzählers zu hören, oder ein schnelleres Gespräch Mehrerer, Ausrufe, die beim Spiel geschehen, oder Geräusch einer Arbeit wie Sägen oder Hacken.

Gegen Sonnenuntergang fand meistens ein verstärktes Schießen statt; aber wie nach einer stillschweigenden Verabredung verstummte das, wenn Feierabend war; dann dachten die Leute auf beiden Seiten wohl an ihre Heimat und wie sie mit der Sense auf dem Rücken, durchschwitzt und müde auf dem rasenbewachsenen Wege dorfwärts gingen mit schweren und schleppenden Schritten, indessen der abendliche Rauch aus den Schornsteinen der Häuser zwischen den Obstbäumen zum dunkelnden Himmel stieg. Wenn dann die Stille eingetreten war, die nach dem vorherigen Getöse der Schüsse sehr tief erschien, dann hörte man nach einer Weile fern im Feld das Schrillen einer Grille; eine andere Grille antwortete, eine dritte machte sich bemerkbar; und bald war die Luft erfüllt von dem seltsamen, wie liebestollen Musizieren vieler solcher Tierchen.

Schon seit langer Zeit waren die Deutschen gewohnt, daß dann aus dem russischen Graben die wunderschöne, klagend singende Stimme eines jungen Mannes erklang. Die Stimme sang russische Volkslieder; eine nach der anderen hoben sich die schwermütigen Weisen, tönten über die still lauschenden Deutschen hin, breiteten sich über das weite Kornfeld, wo aus der Entfernung die Grillen eifersüchtig die menschlichen Klänge überschallen wollten. Unterdessen sammelte sich die Dunkelheit in der Ebene und stieg langsam nach oben, wunderlich erschien die Linie des Grabens gegenüber, eine lauwarme Nacht begann sich zu heben nach der sengenden Hitze des Tages, der Boden strömte Wärme aus, und still tauchte am Horizont die goldene Scheibe des Mondes auf. Etwa eine Stunde sang der Sänger, jeden Abend sang er dieselben Lieder, in derselben Reihenfolge; und wenn er geendet, dann suchten die ermüdeten Soldaten, welche nicht auf Posten standen, einen Schlaf bis zum Morgen, wo die ersten Schüsse sie wieder weckten, wenn die Sonne kaum ihre früheste Helligkeit verbreitete.

Bei den Deutschen war ein Leutnant, der zu Hause Volksschullehrer war und sehr schön Geige spielte. Dieser hörte dem Sänger mit besonderer Liebe zu und merkte sich alle seine Melodien. Als er einmal Ablösung hatte, fand er in dem Herrschaftshause, in welchem er mit seinen Leuten lag, eine Geige; er übte die Weisen des unsichtbaren Sängers, und als er wieder in den Graben zurückgehen mußte, nahm er die Geige mit.

An dem Abend aber, wo er ankam, war eine merkwürdige Stimmung in Allen; es war wie ein bebendes Erwarten, ein nervöses Sehnen; die Grillen schrillten lauter und hastiger, der Sänger sang sehnsuchtsvoller und trauriger; ein Mann sagte still: »Jetzt bringt meine Frau die Kinder zu Bett, faltet ihre Hände und läßt sie für ihren Vater beten.« Alle fühlten, daß diese Nacht Etwas geschehen werde.

Wirklich kam ein Überfall der Russen. Die Angreifer stürzten vor, erst stumm, und als geschossen wurde, mit Geschrei; jeder Mann war auf seine Stelle geeilt, der Leutnant rief: »Ruhig zielen«; Schüsse knallten, plötzlich waren die Russen im Graben, mit dem Gewehrkolben wurde geschlagen, das Bajonett war aufgesetzt, Schreien, Verwünschungen, ein furchtbares Brüllen erscholl; es wußte Keiner von sich, Leuchtkugeln streuten Licht von oben, schließlich merkten die Deutschen, daß die Russen wichen; sie folgten ihnen, aber eine Leuchtkugel zeigte ihnen, wie wenige sie waren, so ließen sie sich gleich wieder in ihren Graben zurückgleiten, auf die Leichen und Verwundeten, die da lagen. Sie zitterten alle vor Aufregung; nur das Stöhnen der Verwundeten wurde gehört, sonst war auf beiden Seiten Alles still.

Die Nacht verging, die Sonne erschien, und der lange Tag kam. Viele waren gefallen, es hatte keine Ablösung geschickt werden können. Die Toten wurden durch die Gänge fortgetragen, auch Verwundete. Einige Verwundete blieben, denn sie wollten die Kameraden nicht allein lassen.

Endlich senkte sich die Sonne, die durch die Erwartung schmerzenden Nerven wurden wieder unruhiger, das erste Schrillen des Heimchens erscholl. Jedes Ohr war gespannt auf den Sänger, ein Abendgeräusch schien ihn anzukünden, ein anderes; die Grillen erhoben immer höher ihre Stimmen; kein Lied kam aus dem feindlichen Graben.

Der Leutnant hatte eine Kopfwunde bekommen; der Arzt hatte sie ihm verbunden, und er wollte nicht seine Leute verlassen. Im Hintergrunde des Unterstandes lag die Geige. Langsam nahm er sie in die Hand, strich, stimmte sie, stimmte sie weiter. Dann begann er zu geigen.

Er geigte die erste Weise, welche der Russe gesungen, der nun gefallen war und vielleicht unter den Toten in dem verwühlten und unanständigen Raum zwischen den Gräben lag. Es war Alles still bei den Leuten, Alle hörten schweigend zu, und auch bei den Russen drüben war tiefes Schweigen; nur die Grillen waren lauter wie vorher. Und wie die erste Weise verklungen war, setzte er den Bogen an zu der zweiten Weise; schweigend hörten Alle ihm zu, der fortgeigte, indessen die Dunkelheit sich sammelte in der Ebene. So geigte er eine Stunde lang, alle Weisen, welche der tote russische Soldat gesungen.

Wie er geendet, war eine große Pause, in der man nur die Grillen hörte. Da standen bei den Russen die Soldaten auf ihrem Wall; sie hatten ihre Gewehre fortgeworfen und hielten die Hände hoch; so kamen sie zu den Deutschen herüber und ließen sich gefangennehmen; sie weinten alle, die Deutschen gaben ihnen Brot, und sie aßen; und während sie still auf der Erde kauerten und aßen, legte der Leutnant seine Geige wieder an die Wange und geigte, und diesmal sangen die Deutschen mit; es war das Lied »Ich hatt' einen Kameraden«. Alle waren aufgestanden und auch die Russen standen auf, und indem sie das Lied nicht verstehen konnten, entblößten sie ihr Haupt und falteten die Hände; sie hatten sich in der Nacht geschlagen als mutige Männer; aber als nun die Verse »Gloria Viktoria« kamen, wurden sie ängstlich. Da lachten die Deutschen, und als die Russen sie lachen sahen, da lachten sie mit.


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