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Siebentes Kapitel

Zwischen der ägyptischen und arabischen Wüste liegt, von zwei Meerbusen des Roten Meeres begrenzt, eine Halbinsel, die ganz aus Granitbergen besteht. Fast scheint es, als ob ein Ozean von Lava, dessen Wellen einst bergehoch gingen, plötzlich auf den Befehl eines Höheren erstarrt wäre. Zwischen den mächtigen Gipfeln und Graten dieser Bergesketten liegen wilde, ernste Täler, von denen einzelne allerdings auch eine gewisse liebliche Schönheit aufweisen. Man sieht hier silberne Bächlein fließen und hier und da Palmen- und Dattelgärten, und von den benachbarten Hügeln herab erblickt man herrliche Landschaften, die sich begrüßenden Berge Afrikas und Asiens und den blauen Schimmer der beiden begrenzenden Meerbusen. Auf einem dieser Berge, der sich mehr als fünftausend Fuß über dem Meeresspiegel erhebt, liegt ein Kloster und noch dreitausend Fuß höher als dieses Kloster ist der steil emporragende Gipfel eines Berges. Dieser ist der Berg Sinai.

Auf dem Gipfel des Berges Sinai liegen zwei Ruinen, eine christliche Kirche und eine mohammedanische Moschee. So haben hier – an der erhabensten Stätte arabischen Ruhmes – sowohl Israel als Ismael ihre Altäre dem großen Gotte Abrahams errichtet. Warum liegen sie in Trümmern? Wollte man keinerlei Menschenwerk auf der Stätte der großen Offenbarung dulden und mußten darum die Kuppel und die Säulen, die einst den Gipfel des heiligen Horeb schmückten, in nichts zerfallen?

Halbwegs zwischen dem Gipfel des Berges und dem Kloster ist ein kleines, von Felsen umrahmtes Plateau, in dessen Mitte eine Zypresse steht und eine Quelle sprudelt. Hier fand, der Überlieferung gemäß, das größte Ereignis aller Zeiten statt.

Es ist Nacht. Ein einsamer Pilgersmann, der lange auf dem heiligen Boden gekniet hat, erhebt soeben seinen flehenden Blick zu dem gestirnten Himmel Arabiens, faltet seine Hände in inbrünstiger Andacht und betet:

»O Herr, Gott Israels, Schöpfer der Welt, unaussprechlicher Jehova! Ich, ein Kind der Christenheit, bin zu deinen alten arabischen Altären gepilgert, um das Herz des gequälten Europas vor dir auszuschütten. Warum schweigst du? Warum kommt keine Botschaft deines Willens mehr auf unsere Erde herab? Der Glauben schwindet und die Pflicht erstirbt. Eine tiefe Trauer hat sich der Gemüter der Menschen bemächtigt. Der Priester kann nicht mehr glauben, der Monarch kann nicht mehr herrschen, die Masse seufzt und arbeitet und ruft in ihrer Verzweiflung fremde und unbekannte Götter zu Hilfe. Wenn dieser heilige Berg dich nicht mehr schauen soll, wenn deine Worte auf deinem heiligen syrischen Boden nicht mehr die Menschen belehren und trösten, wenn keine Propheten mehr erstehen sollen, die der bekümmerten Menschheit Trost zusprechen könnten – ach! sende doch einen einzigen jener glänzenden Götterboten, die deinem Throne zur Seite stehen, o Herr, damit er deine Geschöpfe vor schrecklicher Verzweiflung errette!«

Ein Schatten senkte sich über die Sterne Arabiens; die umgebenden Hügel, die sich vorher schwarz und scharf gegen den glänzenden Himmel abhoben, flossen in breiten und undeutlichen Nebelmassen ineinander, die großen Zypressenzweige schienen in Bewegung zu geraten und der Pilgrim sank bewußtlos und im Zustand der Verzückung zu Boden.

Und es erschien ihm eine Gestalt; eine Gestalt, die menschliche Form besaß, aber die Größe der umgebenden Hügel hatte und doch so ebenmäßig war, daß dem Verzückten mehr seine eigene Kleinheit, als die kolossale Größe der Erscheinung zum Bewußtsein kam. Die Gestalt war das Ebenbild jemandes, der nicht mehr jung, aber noch ganz unberührt von der Welt war; und sein Antlitz war wie das einer orientalischen Nacht, ernstdunkel und doch strahlend, mystisch und doch klar. Gedankenfülle sprach, mehr noch wie Melancholie, aus der nachdenklichen Leidenschaft seiner Augen, und auf seiner hohen Stirne erglänzte ein Stern, der die Ruhe seines majestätischen Antlitzes mit heiligem Schimmer verklärte.

»Kind der Christenheit,« sagte die mächtige Gestalt, und die Luft erzitterte unter seinem Worte, »Kind der Christenheit, ich bin der Genius Arabiens, der Wächter jenes Landes, welches die Welt regiert; denn die Macht ist weder das Schwert, noch das Schild, die wie der Wind vergehen, nein, die Macht sind die Gedanken, denn diese sind göttlich. Die Gedanken aller Länder stammen aus höherer Quelle als aus menschlichem Busen, aber der Verstand Arabiens kommt von dem Allerhöchsten. Darum gehen von diesem Orte Vorschriften aus, die das menschliche Schicksal auf Jahrtausende bestimmen.

»Jene Christenheit, die du verlassen hast und über deren Verfall du trauerst, war damals, als aus den Zedern des Libanons die Paläste mächtiger Könige gebaut wurden, noch ein wilder Wald. Und doch lebten in diesen Wäldern eine Menge von Völkern, die dazu bestimmt waren, sich über den ganzen Erdball zu verbreiten und dem alten Leben neues Blut zuzuführen. Es war im Rate beschlossen, daß die arabischen Lehren diese Völker beim Herausbrechen aus ihren wilden Schlupfwinkeln an der Grenze der alten Welt in Empfang nehmen, sie belehren und sie bilden sollten. Alles war wohl vorbereitet. Die Cäsaren hatten nur die Welt erobert, um die Gesetze vom Sinai auf das Kapitol zu verpflanzen, und ein arabischer Galiläer trat den barbarischen Besiegern der Cäsaren gegenüber, besiegte sie von neuem und erzog sie seinerseits im Zeichen jenes sich alles unterwerfenden Symbols, das die letzte Entwicklungsphase der arabischen Lehren darstellt.

Und doch liegt heute wieder Europa in den heftigsten Geburtskrämpfen. Unten in der Masse regt es sich wieder, aber sie leben nicht mehr in Wäldern, sie leben in Städten und fruchtbaren Ebenen. Als die erste Sonne dieses Jahrhunderts zu scheinen begann, befand sich die geistige Kolonie Arabiens, die einst die Christenheit genannt wurde, in einem Zustand teilweiser und blinder Revolution. Sie war unzufrieden und glaubte, daß an ihrem Leiden jene Grundsätze schuld trügen, denen sie in Wahrheit all ihr Glück verdankten und deren allmähliches Außerachtlassen all ihre Leiden verursacht hatte. Es verlangte sie nach anderen Göttern als nach denen vom Kalvarienberg und Sinai und die Folge davon ist ihr heutiges, trostloses Elend. Und jetzt sind sie in Verzweiflung. Aber nur die ewigen Prinzipien, die einst die barbarische Kraft im Zaum halten konnten, vermögen die Krankheiten unserer Zeit zu heilen. Die Gleichheit der Menschen kann nur unter der Führung und Herrschaft Gottes durchgeführt werden. Die Sehnsucht nach Brüderlichkeit wird niemals ihre Befriedigung finden, außer unter der Leitung eines gemeinschaftlichen Vaters. Die Beziehungen zwischen Jehova und seinen Geschöpfen können weder zu nahe, noch zu zahlreiche sein. Das Band zwischen Gott und Menschen ist zerrissen, darum ist alles moderne Elend und Unbehagen entstanden. Höre darum auf, in einer eitlen Philosophie die Lösung der sozialen Probleme zu suchen, die dich zu verwirren drohen. Verkünde die trostvolle und erhabene Lehre der Gleichheit unter Gottes Führung. Fürchte nicht, wanke nicht, verzage nicht! Gehorche dem Antriebe deines eigenen Geistes und du wirst in jedem menschlichen Wesen einen Widerhall erwecken.«

Ein mächtiger Donnerschlag, und Tancred wachte aus seiner Verzückung auf. Er sah sich um, er sah zum Himmel auf. Die Berge Arabiens erhoben sich wieder scharf und schwarz in die klare Purpurnacht; die arabischen Sterne erstrahlten in ihrem alten Glanze, aber noch immer erscholl die Stimme des Engels in seinen Ohren. Er ging den Berg wieder herab: unten, nahe am Kloster, traf er seine Pferde und Kamele, sowie seine Begleiter, die in tiefen Schlummer versunken waren.


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