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Viertes Buch

 


Erstes Kapitel

»Wo ist Besso?« fragte Barizy vom Turme den Konsul Pasqualigo, der gerade den Diwan des Bankiers betreten hatte. Es waren ungefähr zehn Tage seit der Abreise Tancreds von Jerusalem verflossen.

»Wo ist Besso?« Ich habe schon zwei Tschibuks geraucht und keiner, außer Ihnen, ist gekommen. Haben Sie das Neuste gehört?«

»Wer hat es nicht gehört? Alle Welt spricht davon.«

»Was haben Sie denn gehört?« fragte Barizy vom Turme mit schadenfroher Neugierde.

»Etwas, was alle Welt weiß und etwas, was niemand weiß«, antwortete Pasqualigo.

»Ha, Ha!« lachte Barizy vom Turme, spitzte aber doch die Ohren und sah sich in die Notwendigkeit versetzt, seinen Nebenbuhler auch seinerseits aushorchen zu müssen; ein Versuch, dem dieser aber vollkommen gewachsen war. »Sie haben wahrscheinlich mit jemand gesprochen, nicht wahr?«

»Ich habe mit jemand gesprochen«, erwiderte Pasqualigo und setzte mit großer Sorgfalt seine Pfeife, die ihm soeben überreicht worden war, instand.

»Aber niemand hat jemand gesprochen, der an Ort und Stelle gewesen ist?« sagte Barizy.

»Das hängt davon ab, was Sie unter ›Ort und Stelle‹ verstehen«, erwiderte Pasqualigo.

»Ihre Nachricht stammt aus zweiter Quelle.«

»Aber Sie halten sie doch für richtig?« fragte Pasqualigo mit Lebhaftigkeit.

»Es hängt alles davon ab, ob Ihr Freund zugegen war oder nicht –« sagte Barizy zaudernd.

»Sicherlich«, sagte Pasqualigo.

»Also war er dabei?« fragte Barizy.

»Ja.«

»Dann weiß er also auch,« antwortete Barizy hastig, »ob der junge englische Prinz mit Absicht oder zufällig getötet worden ist.«

»Ah,« sagte Pasqualigo, der von der ganzen Geschichte noch kein Sterbenswörtchen gehört hatte – »das ist eine große Frage.«

»Aber alles hängt davon ab,« sagte Barizy. »Wenn er zufällig getötet worden ist, so wird man Unterhandlungen einleiten und sich einigen; die Engländer wollen Zypern haben und werden die Insel als Entschädigung annehmen und gelten lassen. Wenn aber Böswilligkeit im Spiele ist, so wird es Krieg geben, denn die Gesetze Englands verlangen den Krieg, sobald königliches Blut vergossen wurde.«

Der Konsul Pasqualigo schaute sehr ernst darein, dann nahm er seine Bernsteinpfeife aus dem Munde und bemerkte: »Es ist eine ernste Sache.«

»Es wird sicherlich eine ernste Sache daraus werden,« sagte Barizy vom Turme, der nur zu froh war, in seinem Rivalen einen Zuhörer gefunden zu haben, »aber sie wird nicht lange dauern. Die erste Frage ist die: wem gehört die Wüste, der Pforte oder dem Vizekönig?«

»Es hängt davon ab, welcher Teil der Wüste es ist«, sagte Pasqualigo.

»Natürlich der, wo die Geschichte stattgefunden hat. Ich sage, die arabische Wüste gehört dem Vizekönig; mein Vetter, Barizy vom Tore, sagt, sie gehört der Pforte. Raphael Tafra sagt, sie gehört niemand; die Beduinen sind unabhängig.«

»Aber sie sind nicht als solche anerkannt,« sagte der Konsul Pasqualigo. »Ohne diplomatische Vertretung sind sie übrigens reine Nullen. England wird sich an die beiden anerkannten Mächte in der Nachbarschaft halten. Sie werden sehen! Der Mord an einem englischen Prinzen, besonders unter solchen Umständen, wird nicht ungerächt bleiben – Sie werden sehen! Die ganze türkische Garnison wird sofort in die Wüste kommandiert werden.«

»Der Araber macht sich gerade etwas aus eurer türkischen Garnison aus der Stadt«, sagte Barizy unter ironischem Lächeln.

»Sie ist achthundert Mann stark«, sagte Pasqualigo.

»Achthundert Mann schwach, meinen Sie wohl. Nein, wie Raphael Tafra sagte: als Mehemet Ali noch der Herr war, da waren die Stämme ganz ruhig. Aber die Türken sind selbst in ihren besten Tagen nie mit den Arabern fertig geworden. Und wenn der Pascha von Damaskus selber käme, so würden die Beduinen sich seinen Harem begucken, während er seine Nargileh raucht.«

»Dann wird sich England an die Ägypter halten«, sagte der Konsul.

»Hah!« sagte Barizy vom Turme, »da habe ich Sie endlich. Jetzt kommt die Krise, passen Sie auf: die Engländer werden ein Kriegsschiff mit einer Note schicken, dazu einen ihrer Lords, der zur Marine gehört, so machen sie es immer. Sie werden den Pascha zu veranlassen suchen, den Stamm, der den Bruder der Königin gemordet hat, auszurotten; der Pascha aber wird zur Antwort geben, daß während seiner Anwesenheit in Syrien keine Brüder der Königin ermordet worden sind und wird die diplomatische Note in seinen Turban schieben. Das wird aber Palmerston nicht genügen, er wird den Befehl geben –«

»Palmerston hat gar nichts mehr darüber zu befehlen,« rief Pasqualigo aus, »er ist nicht mehr Reis Effendi, er lebt in der Verbannung und ist der Gouverneur der Insel Wight.«

»Glauben Sie, ich weiß das nicht?« sagte Barizy vom Turme, »aber man wird ihn zu diesem Zwecke zurückberufen. Die Engländer werden ohne ihren Palmerston keinen Krieg unternehmen. Palmerston wird nicht allein den Oberbefehl über die Flotte, sondern auch den über die Armee übernehmen, so daß niemand ›Nein‹ sagen kann, wenn er ›Ja‹ sagt. Die Engländer werden den Türken nicht wieder umsonst die Kastanien aus dem Feuer holen. Sie werden diese Stadt hier besetzen und nicht wieder losgeben. Sie wollen neue Märkte für ihre Leinewand haben. Verlassen Sie sich darauf: England wird sich nicht eher zufrieden geben, als bis alle Leute in Jerusalem Turbane von Kaliko tragen.«

Auch wir werden jetzt von der Neugierde Barizys angesteckt und fragen »wo ist Besso?« Er sitzt allein in einem seiner Privatzimmer und zittert vor Aufregung; ängstlich erwartet er die Rückkehr seiner Tochter aus dem Bade; gerade jetzt macht sich im innern Hofe ein Geräusch hörbar, das anscheinend ihre und ihrer Dienerinnen Rückkehr anzeigt.

»Sie wünschen mich zu sehen, Vater,« fragte Eva bei ihrem Eintritt. »Oh, Sie scheinen beunruhigt! Was ist vorgefallen?«

»Die zehnte Plage Pharaos, mein Kind,« erwiderte Besso in gedrücktem Tone. »Seit der Vertreibung Ibrahims ist mir nichts Unangenehmeres mehr passiert, als dies.«

»Fakredin?«

»Nein, nein, mit dem hat es nichts zu tun; es handelt sich um jemand anders, der ebenso jung ist und dessen Interessen, obwohl ich ihn gar nicht kenne, mich nicht minder innig berühren.«

»Sie kennen ihn gar nicht; dann ist es also auch mein Vetter nicht. Sie spannen mich auf die Folter, mein Vater. Sagen Sie mir, worum es sich handelt.«

»Es ist das Unangenehmste, was hätte passieren können,« erwiderte Besso, »und doch betrifft die Sache jemand, von dem du nie etwas gehört hast, und den ich selber nie gesehen habe – unangenehm, sehr unangenehm! Es ist nämlich vor kurzer Zeit ein junger Engländer hierhergekommen, ein junger englischer Lord, ein Angehöriger eines ihrer alten, fürstlichen Häuser –«

»Ja«, sagte Eva mit einem stillen Kopfnicken.

»Er überbrachte mir einen Einführungsbrief von dem besten und größten aller Männer,« setzte Besso mit bewegter Stimme hinzu, »von einem Manne, dem ich, dem wir alles schulden: unser Vermögen, unsere Anwesenheit hier, vielleicht unser Leben. Ich hätte für einen so empfohlenen jungen Mann alles tun sollen und würde auch alles gerne getan haben. Ich hätte ihn bewachen und beschützen sollen; ich hätte ihm meine Dienste mehr aufdringen sollen; ich mache mir jetzt, da es zu spät ist, Vorwürfe darüber, daß ich dies alles nicht getan habe. Aber er ließ mir seinen Brief durch seinen Reisemarschall, den ich kannte, überbringen. Ich trug Bedenken, mich ihm aufzudrängen, denn ich vernahm, daß er ein fanatischer Christ sei und befürchtete, daß ihm meine Bekanntschaft unangenehm sein würde.«

»Und was ist passiert?« fragte Eva mit einer Stimme, deren Tonfall ihre tiefe Teilnahme verriet.

»Er ist vor einigen Tagen von hier nach dem Sinai aufgebrochen; er, wie seine Begleitmannschaft waren gut bewaffnet. Man hat sie in einen Hinterhalt gelockt und ihn nach einem blutigen Kampfe gefangen genommen.«

»Einem blutigen Kampfe?«

»Ja, die Räuber hätten mit Vergnügen die Sache gütlich abgemacht, aber der junge Engländer wollte, trotzdem er vollkommen in die Falle geraten war, nicht nachgeben und focht mit dem Mute der Verzweiflung. Die Angreifer haben ziemliche Verluste aufzuweisen, seine eigene Mannschaft aber hat nur wenig gelitten; zwar waren sie unten in einer Bergschlucht, so daß man sie mit Leichtigkeit hätte zusammenschießen können, aber die Furcht, ihren Gegner nicht lebendig in die Hände zu bekommen, verbot den Schützen, irgend jemand ernstlich aufs Korn zu nehmen, und der junge Engländer fand so Gelegenheit, wie ein Wilder aus dem Passe herauszugaloppieren. Draußen aber wurde er von der Überzahl überwältigt.«

»Ist er verwundet?«

»Ich hoffe, nicht ernstlich. Aber hast du noch gar nichts gehört? Sie haben seinen Kurier mit einer Abteilung Araber hierher nach Jerusalem geschickt, um das Lösegeld abzuholen. Wie hoch glaubst du, ist ihre Forderung?«

Eva erklärte sich außerstande, sie zu erraten.

»Zwei Millionen Piaster!«

»Zwei Millionen Piaster! Zwei sagten Sie, Vater? Eine enorme Summe, aber sie werden auch mit weniger, mit viel weniger zufrieden sein.«

»Und wenn es vier Millionen Piaster wären, ich müßte sie auch bezahlen,« sagte Besso. »Denn es ist nicht das Geld allein, was mich beunruhigt. Der Vater dieses jungen Adligen ist ein großer Fürst und könnte zweifellos, ohne sich zu sehr zu schädigen, zwei Millionen Piaster Lösegeld für seinen Sohn bezahlen – aber das ist nicht die Hauptsache. Er ist hierher mit einer Empfehlung an mich gekommen – ich hätte auf ihn aufpassen, ihn mehr unter meinen Schutz nehmen sollen; und ich habe ihn überhaupt nicht zu Gesichte bekommen, und jetzt ist er verwundet, ausgeplündert und gefangen!«

»Aber wenn er Sie doch nicht aufgesucht hat«, murmelte Eva und schlug die Augen nieder.

»Nein!« sagte Besso, »er hat mich eben für einen jüdischen Bankier gehalten, zu dem man seinen Diener schickt, wenn man Geld braucht. Hätte ich von einem großen christlichen Edelmanne einen feierlichen Antrittsbesuch erwarten sollen? Ich hätte vielmehr jeden Tag vor seiner Tür warten sollen, bis er herauskam, ich hätte mich tief zur Erde verneigen sollen, bis er mich gnädigst eines Blickes gewürdigt hätte – ich hätte –«

»Nein, nein, nein, mein Vater! Sie werden bitter! Dieser junge Mann ist ganz anders, als wie Sie glauben – wahrscheinlich ist er ganz anders,« sagte Eva. »Man hat Ihnen erzählt, er sei ein fanatischer Christ, aber vielleicht ist er nur aufrichtig religiös. Wer eine Pilgerfahrt nach dem Sinai unternimmt, kann uns unmöglich für so verächtlich halten, wie Sie annehmen.«

»Aber was wird er jetzt von uns denken? Das ist mein Kummer, Eva! Rate einmal, Kind, wer den Pfeil eigentlich abgeschossen hat. Mein eigener Vater!«

»O Verräter! Verräter!« sagte Eva und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. »So hatte ich doch richtig geahnt! Es gibt keinen niedrigeren Menschen!«

»Nicht doch, nicht doch,« sagte Besso, »jetzt spricht das Weib aus dir! Der große Scheik hat mir durch seine Tat wehe getan, aber niedrig gehandelt hat er nicht. Er konnte die nahen Beziehungen, in denen ich zu dem jungen Engländer stehe, doch nicht ahnen. Er hat ihn, der Sitte seines Stammes gemäß, in der Wüste gefangen genommen. So fatal mir das Vorgehen Amaleks ist, von Verrat und Gemeinheit muß ich ihn freisprechen.«

»Doch, gewiß,« sagte Eva zerstreut. »Sie mißverstehen mich. Ich habe an etwas anderes gedacht. Und was wollen Sie tun, mein Vater?«

»Das erste ist, daß ich diese Sache, die mich vor mir selber erröten macht, wieder ins Reine bringe,« sagte Besso. »Dieser Engländer kommt mit einem unbeschränkten Kreditbriefe auf mein Haus nach Jerusalem: er besucht die Wüste, mein Schwiegervater lauert ihm in einem Hinterhalte, an einer Stelle, die sein Stamm sonst niemals betritt, auf, macht ihn zum Gefangenen und fordert mich auf, das Lösegeld für ihn zu bezahlen. Das sind die Tatsachen, und man kann aus ihnen nur einen Schluß ziehen. Wahrscheinlich haben alle Klatschmäuler in der Stadt auch schon diesen einen Schluß gezogen: sie schwatzen darüber sicherlich schon jetzt in meinem eigenen Diwan und lächeln, während sie meinen besten Tabak rauchen und meinen Granatenscherbett dazu trinken, einander bedeutsam an. Und ich kann ihnen daraus noch nicht einmal einen Vorwurf machen!«

»Ein reines Gewissen braucht sich aus dem Stadtgeschwätz nichts zu machen.«

»Ein reines Gewissen muß aber auch das Lösegeld aus seiner eigenen Tasche bezahlen. Es ist nicht gerade angenehm, zwei Millionen Piaster, oder auch nur die Hälfte, für jemand zu bezahlen, der niemals unsere Schwelle betreten hat. Und doch muß ich es tun, schon für meinen Schwiegervater, den Scheik der Rechabiten, tun, den ich einst mit Mehemet Ali versöhnt habe, dem ich auf fünf Jahre das Geleit für die Mekka-Karawane durch die syrische Wüste verschafft habe, und der sich durch dieses Amt zwölftausend Kamele erworben hat. Ach, wäre es nicht für dich, meine Tochter, ich würde die Stunde verfluchen, in der ich jemals mein Blut mit dem der Kinder Jithros vermischt habe. In Wahrheit sind sie doch nur die Söhne Ismaels.«

»Nein, nein, lieber Vater, sagen Sie nicht so etwas! Schicken Sie einen Boten zu dem großen Scheik, er wird vernünftig sein –«

»Ich einen Boten zum Scheik schicken! Da kennst du deinen Großvater nicht und mich auch nicht. Vernimm denn: der Scheik und ich verachten uns gegenseitig, und niemals sind wir einander begegnet, ohne uns in Bitterkeit wieder voneinander zu trennen. Nein, nein! Lieber zahle ich das Lösegeld aus meiner eigenen Tasche, als daß ich den Scheik um etwas bitte. Aber wie kann ich ihn überhaupt frei bekommen? Dieser junge Engländer ist ein Feuerkopf, der nicht einmal nachgeben wollte, als er von Hunderten von Feinden umzingelt war. Bildest du dir ein, daß ein Mann, der aus einer von allen Seiten mit Schützen besetzten Schlucht herausgaloppiert und Leute im Namen Christi durch den Kopf schießt – so ist es nämlich gewesen – seine Freiheit jüdischer Mildherzigkeit wird verdanken wollen? Eher steckt er den Tempel an. Dieser junge Mann hat das Schwert Gideons. Du weißt wenig von der Welt, Eva, und nichts von jungen Engländern. Es gibt keine stolzere, eigenwilligere, draufgängerische, hartnäckigere Rasse. Sie leben in einer Nebelluft und essen rohes Fleisch und trinken Feuerweine. Sie lachen über ihre Väter und sprechen niemals ein Gebet. Sie verbringen ihren Tag mit Spiel, Jagd und heftigen Leibesübungen. Sie haben alle Macht und allen Reichtum des Staates an sich gerissen, und wenn sie aus ihren Bauern nichts mehr herauspressen können, so rauben sie die indischen Könige aus.«

»Aber Sie sagten doch, dieser junge Engländer ist religiös?« fragte Eva.

»Ah – dieser junge Engländer! Warum ist er hierhergekommen. Was kann Jerusalem ihm bieten, und was er Jerusalem? Sein Reisemarschall, der mitgefangen wurde, wartet draußen. Ich muß mit ihm sprechen; er ist einer der Leute Sidonias. Das beweist, welch inniges Interesse unser großer Freund an diesem jungen Manne nimmt. O dreimal verfluchter Tag! Tag von tausend bösen Blicken! Tag erneuter Gefangenschaft –«

»Mein Vater, mein Vater, lieber, guter Vater! Diese bösen Worte passen nicht für jemand, der wie Sie, den Ruf großer Weisheit genießt. Wir müssen Nachfragen halten und dann überlegen. Ich möchte mit dem Reisemarschall selber sprechen, vielleicht kann er mir noch genauere Auskunft erteilen. Ich glaube nicht, daß die Dinge so verzweifelt stehen, wie Sie sie ausmalen; ich hoffe und denke vielmehr, daß sich bald alles aufklären wird.«


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