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Viertes Kapitel

Die Sonne war ihrem Untergang nahe, der grelle Glanz der Landschaft hatte etwas milderen Farben Platz gemacht, und die Hitze war durch einen frischen Abendwind weniger drückend geworden. Eine Karawane mit vielen Kamelen und Männern in reichen, glänzenden syrischen Gewändern wand sich gerade um die Hügel herum; der Himmelfahrtskirche auf dem Ölberg entströmten soeben die Gläubigen, die dort ihr Gebet verrichtet hatten und zerstreuten sich über den Hügel, auf dem viele glänzende und malerische Gruppen sich dem Auge darboten; aus der Ferne ertönte der Klang der türkischen Musik und der Gouverneur der Stadt zeigte sich von weitem, hoch zu Roß und von einer großen Suite umgeben, auf dem Berge Moriah; eine Prozession von Frauen, die klassisch geformte Vasen auf ihren Köpfen trugen und gerade die Wasser von Siloa aus dem Hiobsbrunnen geholt hatten, kam das Tal Josaphat herauf und ging auf das Stephanstor und die sich daran anschließende Calvarienstraße zu.

Tancred trat aus dem Garten von Gethsemane heraus, auf seinem Gesicht lag noch der verzückte und erregte Ausdruck eines langen, frommen Nachdenkens; er hatte in leidenschaftlicher Träumerei die letzten Stunden verbracht und erblickte mit Entzücken jetzt die untergehende Sonne.

»Der Weg zur Rechten führt nach Bethanien.« Diese letzten Worte, die er von einer menschlichen Stimme gehört hatte, kamen ihm wieder ins Gedächtnis zurück. Hätte er heute Nacht schlafen können, ohne Bethanien gesehen zu haben? Er steigt den Pfad hinan. Welch eine Landschaft um ihn herum! Aber braucht die Natur dort schön zu sein, wo es kein Fleckchen Erde gibt, das nicht an Helden und Heilige erinnert, keine Felsenhöhle, die nicht das Obdach eines Propheten gewesen, kein Tal, das nicht das Tal der gesalbten Könige des Herrn war, kein Berg, der nicht der Berg Gottes gewesen wäre!

Vor ihm liegt die wirkliche, die noch immer lebendige und atmende Stadt, die einst die assyrischen Herrscher belagert hatten, gegen die römische Kaiser in eigener Person Sturm gerannt sind, um die Saladin und Richard Löwenherz, die Wüste und die Christenheit, Asien und Europa in ritterlichem Kampfe stritten; eine Stadt, über die zu herrschen einst Mohammeds Wunsch gewesen war und über die der Schöpfer jener assyrischen Könige, der ägyptischen Pharaonen wie der römischen Cäsaren, der Schöpfer der Wüste und der Christenheit, einst in seine göttlich-menschliche Klage ausgebrochen ist!

Was benötigt eine solche Stadt Kaskaden und Springbrunnen, grüne Rasen und schattenspendende Bäume, unergründliche Wälder und fischreiche Flüsse, gletschergeschmückte Berge oder prächtig schmetternde Singvögel – all jenen äußeren Prunk und Schmuck und Glanz, der zu den zarten Ruinen eines alten Theaters oder den allmählich verschwindenden Heiligtümern eines untergegangenen Glaubens passen würde! Würde man überhaupt solch äußerliche Dekoration, wenn sie selbst da wäre, beachten, da daneben unser Auge auf den Zions- und den Calvarienberg fällt, da daneben die Tore von Bethlehem und Damaskus stehen, da daneben der Hügel des Titus sich erhebt und die Moschee Mohammeds und das Grab Christi unsere Blicke fesselt? Der Anblick Jerusalems ist die Geschichte der Welt; er ist mehr als das, er ist die Geschichte von Himmel und Erde.

Tancred ging auf dem Weg um die Südseite des Ölberges herum weiter und sah nach einigem Wandern ein auf einem sonnigen Hügelabhang gelegenes Dorf vor sich – er sah den alten Jordan sich aus seinem fruchtbaren Tal heraus in das Tote Meer ergießen, dahinter erblickte er durch die Bergschluchten Judäas hindurch zum ersten Male Arabien und in ganz weiter Ferne flimmerten die blauen Berge von Moab.

Als er gerade zögernden Schrittes wieder in die Stadt zurückkehren wollte, erregte ein Garten seine Aufmerksamkeit. Er schien aus einer Hügelschlucht herauszukommen und sehr ausgedehnt im Vergleich mit denen der Umgegend zu sein. Er war ringsherum von einer steinernen Mauer umgeben, über die hier und da die dunkle breite Linie einer Zypresse oder Zeder emporragte; in weiterer Entfernung und im höher gelegenen Teile des Gartens erhob sich ein hoher Palmenbaum, der sein graziöses, schläfriges Haupt leicht herunterhängen und es sich in der Sonne wohl sein ließ. Es war die erste Palme, die Tancred je gesehen hatte, und sein Herz klopfte ein wenig, als er des schönen, heiligen Baumes ansichtig wurde.

Als Tancred an den Garten kam, bemerkte er, daß dessen Tür offen stand: er hielt im Gehen inne und warf einen Blick des Entzückens auf die Alleen von Zitronenbäumen, die sich seinen Blicken darboten. Tancred hatte von seiner Mutter eine große Liebhaberei für schöne Gärten ererbt; er dachte an die Schönheit orientalischer Gärten, wie z. B. Gethsemane einer gewesen sein mußte, damals in jenen guten und gerechten Zeiten, da Jerusalem noch den Juden gehörte; die Gelegenheit war zu verlockend, die Aussicht, einmal eine Palme ganz in der Nähe zu sehen, reizte ihn ebenfalls – und er trat ein.

Er kam sich wie ein Märchenprinz vor, der gerade durch ein verbotenes Gittertor in einen mystischen Zaubergarten eingedrungen war, und der nun sprachlos vor Entzücken ob all der Pracht von Granatbäumen, Rosen, Myrthen und Palmen dahin wandelte. Bald drang das angenehm plätschernde Geräusch kühlen, fallenden Wassers an sein Ohr, das mit jedem Schritt, den er vorwärts tat, deutlicher wurde. Jetzt buchtete sich die Allee, in der er sich gerade befand, zu einem mit Rosenbeeten bestandenen offenen Platze aus; dahinter erhob sich ein sanft ansteigender Hügel, der mit einer Art blauer Blume so dicht bestanden war, daß er wie ein Türkisenbukett aussah; auf seinem Gipfel stand ein Kiosk aus weißem Marmor, vergoldet und bemalt, und an seiner Seite, sich stolz aus einer großen Menge niederen Gebüsches heraushebend, jene Palme, die Tancred schon von weitem bewundert hatte.

In der Mitte des Kiosks plätscherte jener Springbrunnen, dessen lockendes Murmeln Tancred in die Versuchung gebracht hatte, weiter in den Garten vorzudringen, als er ursprünglich beabsichtigt hatte. Jetzt wollte er doch nicht wieder zurückgehen, ohne jene Wasser, die ihm so lange zugeflüstert hatten, mit eigenen Augen gesehen zu haben. So ging er um das Rosenbeet herum, entdeckte einen kleinen Pfad, der zum Hügel hinaufführte, und betrat den Kiosk. Einige buntfarbige, wunderschöne Teppiche bedeckten den Fußboden, Tancred nahm auf einem derselben Platz und beobachtete trunkenen Auges das klare helle Wasser, das vor ihm in das Marmorbassin glitzernd und gurgelnd heruntertropfte.

Dem Leser ist vielleicht die Wirkung fallenden Wassers bekannt, denn sein einschläfernder Einfluß ist ja sprichwörtlich geworden. Und unser Tancred hatte sich den ganzen Tag über dem ungewohnten Einfluß einer syrischen Sonne ausgesetzt, sein Inneres war stundenlang von jenen religiösen Gedanken eingenommen gewesen, die, je inniger sie sind, desto sicherer in Erschöpfung enden, und außerdem hatte er soeben noch einen größeren Spaziergang gemacht. Was Wunder, daß Lord Montacute, nachdem er eine Zeitlang noch, wie gewöhnlich, seinen Gedanken nachgehangen hatte, allmählich in einen tiefen Schlaf verfiel?

Sein Hut war vom Kopfe geglitten; sein lockiges, reiches Haar fiel über den Arm, der dem müden Haupte als Stütze diente, die unbewußte Grazie, Schönheit und Ruhe des Schlafenden hätte selbst einem Erzengel nicht übel zu Gesichte gestanden und vielleicht manchen Maler zu einer schnellen Skizze begeistern können.

Tancreds Schlaf war tief und traumlos gewesen. Er fühlte sich beim Erwachen erquickt und erfrischt und konnte sich zunächst gar nicht besinnen, wieso und wann er eigentlich hierher gelangt war. Er streckte seine Glieder, etwas Schweres schien auf ihm zu liegen und seine Bewegungen zu hindern, er richtete sich auf und bemerkte, daß er mit einem prächtigen Gewande zugedeckt war. Er wollte gerade aufstehen und hatte seinen Arm aufgestützt, als er bei einer Wendung des Kopfes plötzlich eines weiblichen Wesens ansichtig wurde.

Sie war jung, jung selbst für den Orient; ihre Figur übermittelgroß und ihre Kleidung war die bei den reichen syrischen Frauen übliche. Heller, goldgelber Seidenstoff umschloß den Oberkörper eng in Form einer Weste, die vorn vom Halse bis zur Taille mit einer aus Edelsteinen geformten Knopfreihe schloß. Weiter unten öffnete sie sich wie eine Tunika, so daß sich ihre Glieder frei in den weiten Mameluckenbeinkleidern bewegen konnten; dieser Teil des Gewandes war aus weißem, feinem Kaschmir gemacht – einem Kaschmir, der so fein ist, daß ein ganzer Schal davon durch einen Ring gezogen werden kann. Die Beinkleider wurden unten um die Knöchel herum mittels rubinbesetzter Spangen festgehalten und fielen dann wieder in weiten Falten über die kleinen in Pantöffelchen steckenden Füße. Über der hellgelben Weste trug sie eine Pelisse von violetter Seide mit langen, hängenden Ärmeln, die von Zeit zu Zeit einen Arm sehen ließen, der weit schöner als die ihn schmückenden Juwelen war; um die Taille herum war eine vielfarbige türkische Schärpe geschlungen, und das Ganze umhüllte noch ein äußerer Umhang, eine Pelisse von hellfarbigem Kaschmir, die innen mit weißem Fuchs gefüttert war. Auf dem Hinterkopfe trug sie eine Kappe, welche ganz verschieden von jenen griechischen und türkischen Kappen war, die wir mitunter in England sehen, und vielmehr Ähnlichkeit mit der Kopfbedeckung eines Mandarins hatte; sie war rund, flach, aus wenig nachgiebigem Material verfertigt, dazu derartig dicht mit Perlen bestickt, daß es unmöglich war, die Farbe des darunter befindlichen Sammets zu entdecken. Unter der Kappe quollen zwei schwere Flechten dichten braunen Haares hervor, die den Boden berührt haben würden, wenn sie nicht auf halbem Wege von zwei schönen goldenen Spangen zurückgehalten worden wären – andere Spangen hielten seitwärts das reiche Haar, das sonst in das Gesicht gefallen wäre, sorgsam an den Schläfen fest.

Ihr Gesicht stellte die orientalische Schönheit in höchster Vollkommenheit dar, eine Schönheit, wie sie einst im Garten Eden existiert haben muß, und wie sie gelegentlich heute noch bei den höheren Rassen eines südlichen Klimas gefunden wird, eine Schönheit, die der Welt für immer und im Überfluß erhalten geblieben worden wäre, wäre nicht die Dummheit und Bösartigkeit des Menschen der Weisheit und Güte Jehovas in den Weg getreten. Die Gesichtsform war oval, aber der Kopf war klein. Der Teint war weder hell noch dunkel, er wies die blendenden Farben des Nordens ohne seine Trockenheit, und jene Weichheit der von der Sonne mehr begünstigten Völker ohne seinen bekannten feuchten Schimmer auf. Eine reiche, gedämpfte, ebenmäßige Farbe war über das ganze Gesicht ausgegossen, dessen Haut so durchsichtig war, daß man selbst gelegentlich eine Vene zart und bescheiden hindurchschimmern sah.

Aber vor allem verrieten das Auge und die darüber geschwungenen Augenbogen den orientalischen Ursprung des Mädchens und erinnerten Tancred an das glänzend gestirnte Himmelsgewölbe Arabiens. Sie waren schwarz und blitzten vor Feuer, ihre Pupillen waren weit und ihr Ausdruck würde etwas beunruhigend Faszinierendes gehabt haben, hätten nicht die langen sie beschattenden Augenwimpern, Wimpern, wie man sie in der Wüste zu finden pflegt, den bezaubernden Glanz gemildert und dem Blicke eine gewisse unbeschreibliche Sanftmut gegeben. Und wie immer ward diese Himmelsgabe auch in diesem Falle durch eine edle Stirn noch mehr gehoben, und die Augenbrauen waren von unbeschreiblicher Feinheit und von einem so ebenmäßigen Schwunge, daß man sie hätte für gemalt halten können.

Die Nase war klein, etwas gebogen, mit langen, ovalen, gut entwickelten Nasenflügeln. Der kleine Mund, die kurze Oberlippe, die weißen Zähne, das runde, ebenmäßige Kinn stimmten vollkommen zu den kleinen, hübsch geformten Ohren und den feinen, mit mandelförmigen Nägeln versehenen Händen.

So sah das Mädchen aus, dessen Tancred soeben ansichtig geworden war. Sie stand ihm gegenüber an der entgegengesetzten Seite des Springbrunnens und sah ihm mit einem gewissen neugierigen, aber nicht unfreundlichen Erstaunen ins Gesicht. Tancred war erst halb aufgestanden und noch auf seinen Arm gestützt, er wußte eigentlich nicht recht, was er sagen sollte, doch faßte er sich schließlich ein Herz und bemerkte: »Es täte mir leid, wenn ich gestört hätte.«

Die Dame setzte sich auf den Rand des Springbrunnbassins, gab Tancred mit der Hand ein Zeichen, daß er nicht aufzustehen brauche, und erwiderte: »Wir sind so nahe an der Wüste, daß Sie unsere Gastfreundschaft ruhig in Anspruch nehmen können.«

»Ich habe das erstemal in meinem Leben einen Palmenbaum gesehen, und der hat mich verleitet, näherzutreten, und dann setzte ich mich an diesen Springbrunnen, und ich weiß nicht wie –«

»Unsere syrische Sonne ist daran schuld,« sagte die Dame. »Sie hat schon manchem übel mitgespielt, aber ich hoffe, sie wird es mit Ihnen gnädiger machen. Ich ging mit meinen Dienerinnen im Garten spazieren, und wir bemerkten Sie und deckten Ihnen den Kopf zu. Wenn Sie bei uns bleiben wollen, sollten Sie einen Turban tragen lernen.«

»Dieser Garten ist das reine Paradies,« sagte Tancred. »Ich hätte nie geglaubt, daß sich inmitten dieser fürchterlichen Berge solch ein entzückendes Fleckchen Erde finden würde. Es ist ein Plätzchen, wie es zu Bethanien paßt.«

»Ihr Franken liebt also Bethanien?«

»Natürlich – es ist ein Ort, der unserem Andenken teuer ist.«

»Bitte, gehören Sie zu den Franken, die zu einer Jüdin beten oder zu jenen, die sie beschimpfen, ihre Bilder zerbrechen und ihre Statuen umwerfen?«

»Ich verehre die Mutter Gottes, obwohl ich sie nicht anbete«, sagte Tancred mit sanfter Stimme.

»Ah, die Mutter Jesu!« sagte sein Gegenüber. »Dann ist er also Ihr Gott. Er hat sich oftmals in diesem Dorfe aufgehalten. Er war ein großer Mann, aber er war ein Jude – und Sie beten zu ihm.«

»Und Sie nicht?« fragte Tancred und sah dabei mit prüfendem Blicke und nicht ohne dabei zu erröten, auf.

»Manchmal kommt es mir in den Sinn, ebenfalls zu ihm zu beten,« sagte die Dame, »denn ich bin von seiner Rasse und man sollte stets zu seiner Rasse halten.«

»Dann sind Sie also eine Jüdin?«

»Ich bin von demselben Stamme wie Maria, die Sie wohl verehren, aber nicht anbeten.«

»Sie haben mir eben gesagt,« fuhr Tancred nach einer Pause fort, »daß Sie mitunter die Empfindung hätten, als sollten Sie ebenfalls zu unserm Herrn und Heiland beten. Er hat gerade hier in Bethanien viele Leute bekehrt und hier einige seiner besten Jünger gefunden. Schade, daß Sie seine Lebensgeschichte nicht gelesen haben.«

»Ich habe sie gelesen. Der englische Bischof hat mir das Buch gegeben. Es ist ein gutes Buch, das, wie ich zu meinem Erstaunen bemerkte, ganz von Juden geschrieben ist. Ich fand darin manches, das mir zusagte; und auch manches, was mir nicht paßte, aber es mag sein, daß ich es nicht verstand.«

»Dann sind Sie ja schon eine halbe Christin«, sagte Tancred lebhaft.

»Aber das Christentum, von dem ich in Ihrem Buche las, ist nicht dasselbe, das ich in der Welt herrschen sehe,« sagte die Dame, »und mir ist darum bange, daß ich eine Ketzerin sein könnte.«

»Die christliche Kirche könnte Ihre Führerin sein.«

»Welche christliche Kirche?« fragte die Dame, »es gibt deren so viele in Jerusalem. Da ist zunächst der gute Bischof, der mir dieses Buch gab, und der selber ein Jude ist: das ist eine Kirche; dann kommt die lateinische, die von einem Juden gegründet wurde; dann die armenische, die einem orientalischen Volke angehört, das wie die Juden sein Land verloren hat und über die ganze Erde verstreut ist; dann haben wir die abessinische Kirche, die uns sehr hoch schätzt und viele unserer Riten und Zeremonien übernommen hat, und dann kommen noch die griechische, die maronische und die koptische Kirche, die uns nicht gut gesinnt sind, aber die uns lange nicht so feindlich gegenüberstehen wie sich untereinander. Bei all diesem Wirrwarr mag es doch das beste sein, innerhalb jener Gemeinde zu bleiben, die die älteste von allen ist, innerhalb jener, in der Jesus geboren ward, und aus der er niemals austrat, denn er war als Jude geboren, lebte als Jude und starb als Jude, wie es einem Prinzen vom Hause Davids geziemt – denn das war er doch, wie auch Sie mir zugeben müssen. In Ihren heiligen Büchern steht das deutlich so geschrieben, und wenn dem nicht so wäre, so fiele das ganze Gebäude Ihres Glaubens zusammen.«

»Wenn ich kein Vertrauen zu irgend einer Kirche hätte,« sagte Tancred mit Eifer, »so würde ich vor Gott auf die Knie fallen und ihn bitten, mich zu erleuchten, und ich hoffe,« fügte er lebhafter hinzu, »daß die Bitte an den Allmächtigen gerade in diesem Lande nicht umsonst gerichtet sein wird.«

»Aber die göttliche Hilfe sollte erst dann angerufen werden, wenn der menschliche Verstand nicht mehr weiter kann,« sagte das Mädchen. »Ich habe gelesen, daß Jesus ebensoviel Fragen gestellt als Wunder getan hat – und wer sich viel Fragen vorlegt, wird manches Rätsel lösen. Ich möchte Sie gerne etwas fragen: glauben Sie, daß wir heutigen Juden zur Strafe in alle Welt zerstreut sind und Verfolgung erleiden?«

Tancred nickte sanft mit dem Kopfe.

»Warum denn?« fragte die Dame.

»Es ist eure Strafe für die Kreuzigung des Messias und die Ablehnung seiner Lehre.«

»Wo steht das geschrieben?«

»Sein Blut komme über uns und unsere Kinder.« Matth. 27, 25.

»Die Verbrecher sagten das, nicht der Richter. Ist es in eurem Rechtsverfahren den Schuldigen gestattet, sich ihre eigene Strafe auszusuchen? Sie könnten doch noch eine weit schwerere verdient haben. Und warum sollten sie die Strafe für ihre Kinder erbeten haben? Welchen Beweis habt ihr dafür, daß die Vorsehung den Vorschlag angenommen hat? Davon steht doch nichts in euren heiligen Büchern. Da steht doch gerade das Gegenteil. Er, der nach eurem Glauben allmächtig ist, bat Jehova, ihnen wegen ihrer Unwissenheit zu vergeben. Aber gesetzt, daß der Vorschlag angenommen wurde – was meiner Meinung nach eine Blasphemie ist –, ist das Geschrei eines Janhagels bei Gelegenheit einer öffentlichen Hinrichtung maßgebend für eine ganze Nation? In der Provinz hatte Jesus doch um diese Zeit schon eine bedeutende Anhängerschaft – er hatte dort drei Jahre lang seine Lehre verkündet – und hatte im ganzen guten Erfolg gehabt –, warum sollten diese Leute und ihre Kinder ebenfalls leiden? Aber Sie werden einwenden, daß das Christen waren. Zugegeben. Wir waren aber ursprünglich eine Nation von zwölf Stämmen – zehn davon wurden lange vor Jesu in die Gefangenschaft geführt und über die mittelländische Welt und den ganzen Orient verstreut; von ihnen stammt wahrscheinlich die Mehrzahl der heutigen Juden ab; denn wir wissen, daß selbst zu Jesu Zeiten aus jeder römischen Provinz Juden nach Jerusalem zum Passahfest kamen. Was haben die mit der Kreuzigung oder der Ablehnung der Lehre Jesu zu tun gehabt?«

»Das Schicksal der zehn Stämme ist eine höchst interessante Frage,« sagte Tancred, »aber ihre Lösung scheint außerhalb des Bereichs der Möglichkeit zu liegen. In England glauben manche Leute, daß die verlorenen zehn Stämme die Afghanen sind, die oft versichert haben, daß ihre Vorfahren den Gesetzen Mosis gehorchten. Aber vielleicht existieren sie überhaupt nicht mehr und sind mit ihren Eroberern verschmolzen.«

»Die Juden haben sich niemals mit ihren Eroberern vermischt,« sagte das Mädchen stolz. »Sie sind zwar häufig unterworfen worden, und ihr Staat teilte darin nur das Schicksal aller jener Staaten, die zwischen größeren, feindlichen Reichen gelegen waren. Syrien war das Schlachtfeld der großen Monarchien. Jerusalem ist keineswegs öfter wie Athen erobert worden, und das Schicksal der Heiligen Stadt war dann niemals schlimmer als das der griechischen; aber die Juden fochten leider mit solcher Tapferkeit und machten gegen die Sieger so viele Aufstände, daß sie schließlich aus ihrem Vaterlande verpflanzt werden mußten. Ich bin der Meinung, daß die jüdischen Gemeinden von heute meist von den zehn Stämmen abstammen oder Nachkömmlinge jener Gefangenen sind, die schon vor Christi Geburt aus Palästina hinweggeführt wurden, denn diese Auffassung scheint allein gewisse Dinge zu erklären, die sonst ganz rätselhaft bleiben würden. Aber das nebenbei. Wir wollen ruhig annehmen, daß alle Juden in allen Städten der Welt Abkömmlinge jenes Mobs seien, der einst um das Kreuz herum stand und seine Frechheiten in die Luft heulte. Aber jetzt eine andere Frage. Mein Großvater ist ein Beduinenscheik, das Haupt eines der mächtigsten Stämme der Wüste. Meine Mutter war seine Tochter. Er ist ein Jude, sein ganzer Stamm besteht aus Juden, sie lesen die fünf Bücher Mosis, gehorchen deren Gesetzen, leben in Zelten und machen sich aus nichts etwas als aus Jehova, Moses und ihren Pferden. Waren die auch bei der Kreuzigung in Jerusalem und haben die auch etwas mit dem Pöbelgeschrei von damals zu tun gehabt? Meine Mutter heiratete einen Juden aus der Stadt, und einen, der wert war, auf dem Throne Salomonis zu sitzen, und vor dieser Frau läuft ein kleiner, christlicher Halunke mit einem runden Filzhut auf dem Kopfe, der in Smyrna mit Feigen schachert, weg auf die andere Seite der Straße, weil er nicht mit jemand aus einem Volke in Berührung kommen will, das einst seinen Heiland gekreuzigt hat; jenen Heiland, der, wie er selber zugibt, ein Fürst unseres königlichen Hauses ist! Nein, niemals werde ich eine Christin werden, ich könnte den Unsinn nicht hinunterschlucken! Übrigens steht es auch nicht in euren Büchern. Diese wurden von Juden verfaßt, die ihre Geschichte zu genau kannten, um den Leuten solche Fabeln aufzutischen!«

Ihr Auge blitzte, ihre wunderschöne Wange bedeckte sich einen Augenblick mit einer rosigen Wolke des Unmuts. Tancred sah ihr erstaunten Blickes und aufs höchste gespannt in das stolze Gesicht und sagte dann: »Sie sprechen von Dingen, die mich aufs höchste interessieren und deretwegen ich hierhergekommen bin. Aber sagen Sie mir, Sie können doch nicht leugnen, daß, was auch immer die Ursache sei, das Wunder unzweifelhaft vorhanden ist, daß die Juden ganz allein von den alten Rassen übriggeblieben und in alle Länder zerstreut sind, und dies gleichsam wie zum Andenken an ihre dunkle und mächtige Vergangenheit.«

»Ihr heutiger Zustand mag wunderbar, aber er braucht keine Strafe zu sein. Aber warum wunderbar? Ist es wunderbar, daß Jehova über sein Volk gewacht hat? Und konnte er es besser beschützen als durch die Verleihung von Fähigkeiten, die höherer Art sind als die, deren sich unsere Wirtsvölker erfreuen?«

»Ich kann nicht glauben, daß allein menschliche Kraft die Juden in ihrem Leben voller Kümmernisse und Verfolgungen aufrechterhalten hat.«

»Was die menschliche Kraft anbetrifft, so haben wir ein jüdisches Sprichwort: ›Der Wille des Menschen ist der Diener Gottes.‹ Aber wenn man einer Rasse Dauer verleihen will, so braucht man sie nur ins Exil zu schicken. Eroberung bewirkt nur, daß sie sich mit den Eroberern vermischen, aber schickt sie in die Verbannung, und sie werden für immer allein und für sich bleiben. Ins Exil schicken ist ein orientalisches Machtmittel, das der modernen Welt ganz unbekannt geblieben ist. Wir sprachen von den Armeniern: sie sind Christen und gute Christen, wie ich höre.«

»Sogar sehr orthodoxe, sagt man.«

»Gehen Sie nach Armenien und suchen Sie dort nach einem Armenier: Sie werden keinen finden. Auch die Armenier sind, wie die Hebräer, einst in das Exil geschickt worden. Die Perser eroberten ihr Land und vertrieben das Volk. Die Armenier haben ein Sprichwort: »In jeder Stadt des Ostens finde ich mein Heim.« Sie sind überall, sie sind die Rivalen meines Volkes, denn sie sind eine der großen Rassen und nur wenig degeneriert: sie haben unseren Fleiß und ebenfalls einen großen Teil unserer Energie; sie besitzen beinahe alle unsere Tugenden, obwohl man natürlich nicht von ihnen erwarten kann, daß sie auch unsere göttlichen Eigenschaften besitzen; sie haben keine Götter und keine Propheten hervorgebracht und sind sogar noch stolz darauf, daß sie ihren Glauben auf einen der unbedeutendsten jüdischen Apostel zurückführen können, der seinen Heiland noch dazu nie mit Augen gesehen hatte.«

»Aber die Armenier sind doch nur über den Osten zerstreut«, sagte Tancred.

»Ah,« erwiderte die Dame mit sarkastischem Lächeln, »es ist also erst die Verbannung nach Europa, die der wahre Fluch ist – da können Sie wohl recht haben. Ich kenne euren Erdteil nicht zu genau: Europa verhält sich zu Asien wie Amerika zu Europa. Aber ich habe die Winde des Euxinus über den Bosporus streichen hören, und als der Sultan einmal für die Hilfe, die wir den Ägyptern zuteil werden ließen, uns unsere Köpfe abschneiden wollte, bin ich auch auf einige Monate nach Wien gegangen. Oh! Wie ich mich dort nach meinem wundervollen Damaskus gesehnt habe!«

»Und auch nach Ihrem Garten in Bethanien?« fragte Tancred.

»Den gab es damals noch nicht, er ist erst später geschaffen worden,« sagte das Mädchen. »Ich habe ihn mir in diesen Hügeln angelegt, damit ich mit den Augen wenigstens Arabien immer sehen kann, und der Palmenbaum, der mir die Ehre Ihres Besuches verschaffte, war das Geschenk meines Großvaters für den einzigen Garten, den es in der Nähe Jerusalems gibt. Aber ich möchte Sie etwas anderes fragen. Was wird bei euch in Europa am höchsten geschätzt?«

Tancred dachte nach und sagte nach einer kleinen Pause: »Ich meine genau zu wissen, was in Europa am höchsten geschätzt werden sollte – es tut mir leid, zu gestehen, daß man dort etwas ganz anderes wirklich schätzt. Ich erröte, es offen heraus zu sagen – aber es ist das Geld.«

»Im ganzen«, fragte das Mädchen, »wird der, welcher das meiste Geld besitzt, am meisten bei euch geehrt, nicht wahr?«

»Ich fürchte, dem ist so.«

»Welches ist die größte Stadt Europas?«

»Ohne Zweifel die Hauptstadt meines Vaterlandes, London.«

»London ist größer als Wien, das weiß ich – ist es auch größer als Paris?«

»Vielleicht doppelt so groß.«

»Und viermal so groß als Konstantinopel! Welch eine Stadt! Das ist ja das reine Babylon. Wie reich muß dort der am meisten geehrte Mann sein! Sagen Sie mir, ist er ein Christ?«

»Er ist, glaube ich, ein Angehöriger Ihres Glaubens und Ihrer Rasse.«

»Und in Paris – wer ist der reichste Mann von Paris?«

»Ich glaube, es ist der Bruder des reichsten Mannes von London.«

»Über Wien weiß ich selber Bescheid,« sagte das Mädchen lächelnd. »Der Kaiser macht meine Glaubensgenossen zu Baronen seines Reiches, und er tut gut daran, denn ohne ihre Hilfe würde sein Reich auseinanderfallen. Nun, Sie müssen gestehen, daß in Europa unsere Strafe und unser Fluch uns nicht zu übel bekommen ist.«

»Ich sehe nicht ein,« sagte Tancred nach einer kurzen Pause, »warum die Strafe und Zerstreuung der Juden für den Hauptzweck des Christentums überhaupt nötig war. Wenn die Juden überhaupt nicht mehr existierten, so würde dennoch dieser Zweck erreicht worden sein.«

»Und welches ist Ihrer Meinung nach der hauptsächlichste Zweck des Christentums?«

»Die Tilgung der Sündenschuld.«

»Ah!« sagte das Mädchen mit feierlichem Ausdruck, »das ist eine große Idee, die mit unseren Instinkten, Überlieferungen und Sitten ebenfalls übereinstimmt. Auch in diesem Lande glaubt man fest daran. In eurem christlichen Glauben verliert diese Lehre keineswegs ihre erhabene Bedeutung und ist, trotz ihrer mysteriösen Einkleidung, wohl geeignet, Kraft und Trost zu spenden. Ein sich opfernder Vermittler, ein die Sünden auf sich nehmender Heiland, der aus der auserwähltesten Familie des auserwähltesten Volkes stammt und dessen wunderbare Natur göttliche mit menschlichen Eigenschaften vereinigt, ein Mann, der durch sein versöhnendes Blut die Millionen, die schon da waren, und die Millionen, die noch kommen werden, für immer von ihrer Sündenschuld reinigt, ganz einerlei, welchem Klima und welchem Glauben sie angehören – das ist der Inhalt eures christlichen Glaubens. Ich bewundere die großartige Auffassung, obgleich ich gestehen muß, daß mein Hirn es nicht gänzlich zu fassen imstande ist. Ich verstehe nur das eine: die menschliche Rasse ist erlöst, und ohne die aufopfernde Beihilfe eines jüdischen Prinzen hätte sie nie erlöst werden können. Nun sagen Sie mir: angenommen, die Juden hätten die Römer nicht aufgefordert, Christum zu kreuzigen – wie stünde es da mit eurer Sündenschuld?«

»Ich kann solchen Ausführungen unmöglich folgen,« sagte Tancred, »das Thema ist ein zu hohes, um es durch feine Spekulationsversuche zu entweihen. Ich darf mit meinem Verstande nicht an die Erklärung eines Ereignisses mich heranmachen, das der Schöpfer dieser Welt sicherlich tausende von Jahren vorausbestimmt hat.«

»Ah!« sagte die Dame, »der Schöpfer der Welt hat dies Ereignis tausende von Jahren vorausbestimmt! Worin besteht dann also das unsühnbare Verbrechen jener, die seinen heiligen Willen ausgeführt haben? Die heilige Rasse lieferte die Opfernden und den Geopferten. An welch andere Rasse hätte man solch ein Ansinnen stellen können? War nicht auch Abraham bereit, seinen Sohn zu opfern? Und mit einer solchen Lehre, die alle Zeit und allen Raum, nein, noch mehr, die das Chaos und die Ewigkeit umfaßt, mit einer Lehre, deren Verkündiger von Gott gesandt sind und deren Zweck die Erlösung des ganzen Menschengeschlechts ist – mit einer solchem Lehre können Sie die elende Verfolgung einer einzelnen Rasse verbinden? Und dies ist durchaus nicht dogmatisches, sondern praktisches Christentum. Es steht davon nichts in euren christlichen Büchern, die alle von Juden geschrieben worden sind; diese Ansicht muß unter jenen Kirchengemeinschaften aufgekommen sein, auf die Sie mich vorhin aufmerksam gemacht haben. Uns verfolgen! Wie? Wenn ihr wirklich glaubtet, was ihr zu bekennen vorgebt, so würdet Ihr vor uns auf die Knie sinken! Ihr errichtet doch dem Helden, der sein Land rettet, Statuen! Wir aber haben die menschliche Rasse gerettet, und ihr untersteht euch, uns für diese Tat zu verfolgen!«

»Ich bin keiner eurer Verfolger,« sagte Tancred bewegten Gemütes, »und wenn ich einer gewesen wäre, so würde mein Besuch in Bethanien mich von diesem unseligen Gedanken befreit haben.«

»Wir stimmen in einigen unserer Ideen überein,« sagte sein Gegenüber und erhob sich. »Wir sind beide zu der Überzeugung gekommen, daß die halbe Christenheit eine Jüdin und die andere Hälfte einen Juden verehrt. Ich möchte Sie zum Schlusse nur noch eines fragen: Welches ist die höhere Rasse, die, die anbetet, oder die, die angebetet wird?«

Tancred sah auf und wollte eben antworten, aber das Mädchen war verschwunden.


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