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Zweites Buch

 


Erstes Kapitel

Die Festwoche war vorüber: nur noch einige Gäste waren zurückgeblieben, nahe Verwandte, die nicht sehr reich waren, zum Beispiel die Montacute Mountjoys. Sie kamen von weit her, und der Herzog hatte darauf bestanden, daß sie so lange bleiben sollten, bis die Herzogin nach London ginge, was übrigens bald der Fall sein würde. Lady Eleanor war eine recht angenehme Frau und die Herzogin hatte sie sehr gern; außerdem hatte sie vier Töchter, die leider nicht sehr lebhaft waren, aber abends dafür etwas vorzusingen pflegten.

Es war an einem sonnigen Morgen, die Herzogin war in bester Laune, denn ihr Herz war voll freudiger Gedanken. Sie empfand den Wunsch, es ihrem Sohne auszuschütten und hatte darum auf sein Zimmer geschickt, um ihn bitten zu lassen, ein wenig mit ihr zu promenieren. Aber die Antwort hatte gelautet: »Lord Montacute sei auf dem Zimmer Seiner Durchlaucht.«

Ein befriedigtes Lächeln glitt über das Gesicht der Herzogin, denn sie dachte an das angenehme Gesprächsthema, das in dieser Konferenz zwischen Vater und Sohn zweifelsohne erörtert werden würde.

Was ging nun in Wirklichkeit zwischen den beiden vor?

Der Herzog befindet sich in seiner Privatbibliothek, die meist aus Gesetzessammlungen, Parlamentsberichten und Abhandlungen über Rechte und Pflichten der Friedensrichter besteht. Ein Bild seiner Mutter hängt über dem Kamin: gerade gegenüber davon hängt eine große Karte der Grafschaft. Seine Korrespondenz mit dem Staatssekretär über öffentliche Angelegenheiten oder die mit den Beamten des Gerichtsbezirks ist mit großer Sorgfalt arrangiert: denn der Herzog war ein ausgezeichneter und ordnungsliebender Kopf, der die kleinsten und pedantischsten Regeln des Geschäftsbetriebes sorgfältigst beobachtete. Alle seine Briefschaften wurden, mit einem Datum und einer kurzen Inhaltsangabe versehen, in alphabetisch geordnete Fächer geschoben, die die eine Seite der Bibliothek vollkommen einnahmen. Oben auf diesem Fächerschrank standen Marmorbüsten von Pitt, George dem Dritten und dem Herzog von Wellington.

Der Herzog saß in seinem Stuhl zurückgelehnt, den er anscheinend etwas plötzlich vom Schreibtisch zurückgeschoben hatte, und sein Gesichtsausdruck wies unzweifelhafte Spuren schmerzlicher Überraschung auf. Lord Montacute stand neben ihm, mit seinem linken Arm auf den Kaminsims gestützt, und sah sehr ernst und womöglich noch bleicher aus als gewöhnlich.

»Du überraschest mich vollkommen,« sagte der Herzog, »ich dachte, dieser Vorschlag würde dir äußerst angenehm sein.«

Lord Montacute nickte ein wenig mit dem Kopfe, aber sagte nichts. Sein Vater fuhr fort:

»Du hast also augenblicklich kein Verlangen ins Parlament einzutreten? Nun, das ist alles recht schön, und wenn wir, wie in früheren Zeiten, ins Parlament, wann und wie wir wollten, eintreten könnten, so hätte dein Wunsch um Aufschub etwas Berechtigtes. Wenn ich die Klingel ziehen und dich mit derselben Leichtigkeit als Mitglied für Montacute ins Parlament bringen könnte, mit der ich einen Extrazug von Bellamont nach London bestelle, so könntest du deinen Wünschen und sonstigen Ideen Spielraum lassen. Aber wie und wann, das möchte ich gerne wissen, wirst du einst ins Parlament kommen? Dieses Parlament kann, weiß Gott wie lange dauern. Lord Eskdale hat es mir erst vor einer Woche noch gesagt. Auf jeden Fall verlierst du drei Jahre – drei Jahre, in denen du nichts zu tun haben wirst, was der Mühe wert wäre. Ich habe niemals geglaubt, daß dein Charakter dich zur Untätigkeit bestimmen könnte. Ich hatte immer den Eindruck, daß du dich einst für Staatsgeschäfte interessieren würdest und daß die Grafschaft an dir einen tüchtigen Vertreter haben würde. Wenn du sogenannte höhere Ideen hast, so solltest du auf der andern Seite nicht vergessen, daß dein Eintritt ins öffentliche Leben gerade jetzt unter den günstigsten Auspizien stattfindet. Der Herzog von Wellington ist entschlossen, bei der Verteilung der Ämter die Aristokratie zu bevorzugen: er hält dieses Vorgehen für das einzige Mittel zu unserer Selbsterhaltung. So hat er mir selbst erzählt. Wenn das wahr ist, so fürchte ich, ist es aus mit uns. Nun, ich hoffe, wir können unserem Lande auch nützen, ohne Staatsminister zu sein. Aber genug davon! Eines ist sicher: solange der Herzog lebt, wird er am Ruder bleiben und tun können, was ihm beliebt. Wenn du jetzt ins Parlament kommst und dich ein wenig anstellig zeigst, so kannst du dich darauf verlassen, bald eine offizielle Stellung zu erhalten. Ich bin ziemlich sicher, daß du schon in der nächsten Session dich wirst rednerisch betätigen können. Vielleicht könnte Lord Eskdale dich hierin unterstützen, und wenn er in dieser Sache nichts machen kann, so würde ich mich persönlich berechtigt fühlen – obgleich es mir unangenehm wäre, einen Minister um etwas zu bitten –, mit dem Herzog von Wellington selber darüber zu sprechen, und«, fügte Seine Durchlaucht mit leiserer Stimme, aber fester und ernster Betonung hinzu, »ich lebe der schmeichelhaften Überzeugung, daß, wenn der Herzog von Bellamont um etwas bittet, man ihm diese Bitte nicht abschlagen wird.«

Lord Montacute senkte seine dunklen, klugen Augen zu Boden und stand in Gedanken versunken da.

»Übrigens,« sagte der Herzog nach einer Pause, innerhalb welcher er sich des Eindrucks zu freuen schien, den er auf seinen Sohn gemacht hatte, »nimm einmal an, Hungerford sei in drei Jahren nicht mehr derselben Meinung, wie heute. Vielleicht denkt er noch ebenso, vielleicht aber auch nicht. Die Leute lieben es nicht, mit ihren Freundschaftsbeweisen und Liebenswürdigkeiten zurückgewiesen zu werden. Hungerford ist kein Strohmann, das dürfen wir nicht vergessen, er war auch niemals einer, und selbst, wenn er einer gewesen wäre, so hat er zu lange für die Grafschaft im Parlament gesessen, um noch als solcher angesehen zu werden. Es wäre mir äußerst unangenehm, wenn ich in drei Jahren genötigt wäre, Hungerford nicht mehr zu unterstützen, damit du statt seiner ins Parlament kämest.«

»Das würde unter keinen Umständen nötig sein, lieber Vater«, sagte Lord Montacute, aufschauend und mit einer Stimme, die, obwohl etwas tief, dennoch sofort die Aufmerksamkeit erregte. Es war eine Stimme, die in gleicher Weise vom Kopfe wie vom Herzen kommt und die sowohl tiefen Gedankenreichtum als auch große Begeisterungsfähigkeit verrät. Nichts vermag uns über den wahren Charakter eines Menschen besser Auskunft zu geben als seine Stimme. Es gibt Laute, die mit erschütternder Gewalt hervorbrechen und die von einer schnellen und ergreifenden Reizsamkeit erzählen: es gibt wiederum andere Modulationen der Stimme, die tief und doch ruhig an unser Ohr schallen und einen hohen und heiteren Verstand verraten. Aber die seltenste und kostbarste aller Stimmen ist jene, die Leidenschaft und Ruhe miteinander verbindet und deren reiche und doch zurückgehaltene Töne auf die Menschen noch faszinierender wirken, als das Auge oder jene schöne Hand, die das Privilegium der höheren Rassen Asiens ist.

»Das würde unter keinen Umständen nötig sein, lieber Vater,« sagte Lord Montacute, »denn, um aufrichtig zu sein: ich glaube nicht, daß ich selbst nach drei Jahren viel Lust haben würde, ins Parlament einzutreten.«

Des Herzogs Gesicht nahm immer mehr den Ausdruck der Überraschung an. »Mr. Fox war noch nicht majorenn, als er ins Parlament eintrat,« sagte Seine Durchlaucht. »Du weißt, wie jung Mr. Pitt war, als er Minister wurde. Sir Robert Peel war ebenfalls schon frühzeitig im Geschirr. Ich habe immer von verständigen Leuten, von Lord Eskdale zum Beispiel, gehört, daß ein Mann im Parlament wohl zu früh seine Jungfernrede halten, aber nie zu früh daselbst seinen Platz einnehmen könnte.«

»Wenn ich den Ehrgeiz hätte, es in dieser Versammlung zu etwas zu bringen,« erwiderte Lord Montacute, »dann würde auch ich es für das Richtige halten. Ein früher Anfang hat in jeder Beziehung sein Gutes. Aber ich trage keinerlei Verlangen danach.«

»Ich habe ein Vorurteil gegen Leute, die ihren Platz im House of Lords einnehmen, ohne vorher im House of Commons gewesen zu sein: sie scheinen mir stets ihr ganzes Leben etwas Unreifes zu bewahren.«

»Es wird hoffentlich noch lange dauern, lieber Vater, bevor ich meinen Platz im House of Lords auszufüllen habe,« sagte Lord Montacute, »vielleicht wird es sogar nie dazu kommen.«

»Nach dem Gesetze der Natur ist es beinahe sicher.«

»Angenommen, der herzogliche Plan einer sicheren Basierung der Aristokratie mißlingt«, sagte Lord Montacute, »und unser Haus stirbt aus?«

Sein Vater zuckte die Achseln. »Es ist nicht unsere Sache, derartige Vermutungen zu hegen. Hoffentlich wird das nie irgend jemandes Sache sein. England ist ein großes Land und groß geworden ist es durch seine Aristokratie.«

»Du bist also der Meinung, daß unser regierendes Haus nichts für unsere Größe getan hat? Auch nicht z. B. die Königin Elisabeth, auf deren Besuch in Montacute wir so stolz sind?«

»Sie haben ihre Rolle ausgespielt.«

»Und haben aufgehört zu existieren. Wir mögen auch unsere Rolle ausgespielt haben und dasselbe Schicksal mag unser warten.«

»Du sprichst wie ein Liberaler.«

»Doch nicht, lieber Vater, denn ich habe keinerlei eigene Meinung geäußert.«

»Ich möchte doch einmal gerne einige deiner Meinungen hören, mein lieber Junge, oder zum mindesten deine Wünsche und Hoffnungen.«

»Nun: mein Wunsch ist, meine Pflicht zu tun.«

»Sehr richtig; und deine Pflicht ist, den Staat zu erhalten.«

»Ach! wenn mir nur irgendeiner sagen könnte, was und wo dieser Staat ist,« sagte Lord Montacute und seufzte. »Es scheint mir, daß eure Stützen noch stehen, aber daß sie nichts mehr stützen, und in diesem Falle, obgleich die Säulen noch aufrecht stehen und die Kapitelle ihren vollen Schmuck bewahrt haben, sind sie keine Stützen mehr, sondern nur noch eine Ruine.«

»Du würdest uns also am liebsten den Anarchisten ausliefern?«

»Die behaupten wenigstens nicht, ein Staat zu sein,« sagte Lord Montacute; »die wünschen überhaupt nichts zu stützen: im Gegenteil, die Quintessenz ihrer Philosophie ist, alles sich selber zu überlassen und gar nichts Positives zu schaffen.«

»Der gesunde Sinn unseres Landes und der neue Gesetzesentwurf werden uns darüber hinweghelfen.«

»Über was hinweghelfen?«

»Nun – über diese Übergangszeit«, sagte der Vater.

»Übergang – zu was?«

»Hm – das ist eine Frage, die der klügste Mann nicht beantworten kann.«

»Aber über die der Dümmste, zu denen ich mich selber rechne, doch gerne Auskunft haben möchte.«

»Sicherlich, und dazu gibt es kein sichereres Mittel, als Umgang und Betätigung mit praktischen Männern.«

»Und alle die Dummheiten sogenannter praktischer Männer mitzumachen,« sagte Lord Montacute. »Und in ihren Geratewohlstrudel mit fortgerissen werden und sich nicht mehr aus dem Wirrwarr herausretten zu können, zu dem man im übrigen mit seiner eigenen Person auch beigetragen hat. Aber ich bin wenigstens frei und ich wünsche es zu bleiben.«

»Um nichts zu tun?«

»Wenn ein Mann es ablehnt, im Dunkeln zu fechten, so folgt daraus noch nicht, daß er unfähig zum Handeln ist.«

»Und wie willst du denn handeln? Was willst du tun? Was sind deine Absichten? Hast du überhaupt dir schon einen Lebensplan gemacht?«

»Ja.«

»Nun, das ist mir sehr angenehm zu hören,« sagte der Herzog mit freudiger Lebhaftigkeit. »Welche Art Wünsche du auch immer haben magst, du kannst darauf rechnen, daß ich sie dir, soviel an mir liegt, erfüllen werde. Ich weiß, sie können auf keinen unwürdigen Gegenstand gerichtet sein, denn ich bin der festen Überzeugung, lieber Junge, daß du nur nach Großem und Gutem streben kannst.«

»Wenn ich nur wüßte, was gut und groß wäre,« sagte Lord Montacute, »ich würde alles daran setzen, es zu verwirklichen.«

»Aber du hast dir eine eigene Meinung gebildet – du hast dir einen Lebensplan entworfen. Lege ihn mir vertrauensvoll dar, sprich, als ob du einem Freunde, einem warmen und dir tief ergebenen Freunde gegenüber stündest.«

»Lieber Vater,« sagte Lord Montacute und nahm sich bei diesen Worten einen Stuhl, auf den er sich, neben den Herzog, setzte. »Du hast und du verdienst mein kindliches Vertrauen. Ich hätte nicht sagen sollen, daß ich nicht wüßte, was gut sei – denn ich kenne ja dich.«

»Söhne wie du machen gute Väter.«

»Nicht immer,« sagte Lord Montacute; »du bist mir mehr als ein Vater gewesen und ich fühle zu dir und meiner Mutter eine tiefe und warme Neigung, eine Neigung,« fügte er mit unsicher werdender Stimme hinzu, »die heute seltener ist, als in alten Tagen. Besonders in diesem Augenblicke empfinde ich meine Liebe zu euch um so tiefer,« fuhr er mit festerer Stimme fort, »als ich im Begriffe stehe, euch vorzuschlagen, uns für einige Zeit zu trennen.«

Der Herzog wurde blaß, rückte auf seinem Stuhle hin und her, sagte aber kein Wort.

»Du hast mir heute den Vorschlag gemacht,« fuhr Lord Montacute nach einer kleinen Pause fort, »ins öffentliche Leben einzutreten. Ich schrecke nicht vor meiner Aufgabe zurück. Im Gegenteil: Die Stellung, die ich meiner Geburt verdanke, und noch mehr die Neigung meiner eigenen Natur treiben mich dazu, diese Pflicht und Aufgabe zu erfüllen. Ich habe über sie, ich kann wohl sagen, jahrelang nachgedacht. Und ich bin zu dem Schlusse gekommen, daß es nicht meine Aufgabe sein kann, ein System, wie das augenblicklich in unserem Lande herrschende, zu unterstützen. Es scheint mir, daß diese Ordnung der Dinge nicht dauern kann, da nichts dauern kann, das nicht auf Grundsätzen und Ideen basiert ist, und diese Grundidee unserer jetzigen Gesellschaftsordnung habe ich noch nicht entdecken können. Unsere Zeit glaubt an nichts, weder an ihre Religion, noch an ihre Regierung, noch an ihre Moral, noch an ihre Politik – und wo kein Glauben ist, da kann auch keine Pflicht sein. Gibt es überhaupt so etwas wie religiöse Wahrheit? Gibt es etwas wie politisches Recht? Gibt es soziale Pflichten? Sind alles dieses Tatsachen oder bloß Phrasen? Und wenn es Tatsachen sind, wo kann man sie in England finden? Ist unsere Kirche die Wahrheit? Warum unterstützt man dann das Sektenwesen? Wer hat das Recht zu regieren? Der Monarch? Ihr habt ihn dieses Rechtes beraubt. Die Aristokratie? Ihr gesteht, daß man uns nur duldet. Das Volk? Es erzählt uns selber, daß es ein Nichts ist. In jeder Session des Parlaments, in das du mich hineinbringen willst, wird die Art und Weise der Machtverteilung im Staate in Frage gestellt, verändert, ausgebessert und wieder diskutiert. Und was unsere Moral anbetrifft, so könntest du mir vielleicht über eines Auskunft geben: ist Mitleid die höchste Tugend oder der größte aller Irrtümer? Unsere soziale Gesetzgebung sollte zunächst einmal diesen wichtigen Punkt klarstellen. Unsere Moral ist in jeder Grafschaft, in jeder Stadt, in jeder Straße, ja, in verschiedenen Akten desselben Parlaments eine andere. Was moralisch in London ist, ist unmoralisch in Montacute, und was ein Verbrechen bei der Masse des Volkes ist, gilt nur als Lasterhaftigkeit bei einer gewissen Minderheit.«

»Du gehst auf die ersten Prinzipien der Dinge zurück«, sagte der Herzog sehr überrascht.

»Gib mir andere Prinzipien, wie die ersten, gib mir die zweiten, gib mir nur überhaupt irgendwelche, gib mir einen einzigen Grundsatz«, erwiderte sein Sohn.

»Wir müssen eine allgemeine Übersicht über die Dinge zu gewinnen suchen,« sagte sein Vater mit sanfter Stimme, »dann erst können wir uns eine Meinung bilden. Die allgemeine Lage in England ist besser wie die irgend eines anderen Landes; es ist ganz klar, daß wir mehr Freiheit, mehr soziales Wohlbefinden, mehr gesunde Religion und mehr materielle Güter besitzen, als irgend eine andere Nation der Welt.«

»Dies könnte ich alles in Frage stellen,« sagte sein Sohn, »aber alles dies sind Nebendinge, die meine Ansichten vorderhand nicht berühren. Angenommen, anderen Ländern geht es noch schlechter als uns – und ich hoffe, daß dem nicht so ist –, so geht es uns darum doch noch nicht besser, und die ganze Welt hat dann ein Land nötig, das einmal mit gutem Beispiel vorangeht.«

»Es kann keinem Zweifel unterliegen,« sagte der Herzog, »daß England heute das blühendste Land ist, das jemals, oder wenigstens in neueren Zeiten, existiert hat. Mit den neuen Eisenbahnen hat sich selbst die Lage der Armen, die, wie ich zugeben muß, in letzter Zeit sich nicht besonders günstig gestaltet hatte, bedeutend gebessert. Jedermann, der will, hat Arbeit, und die Löhne sind hoch.«

»Die Eisenbahnen mögen in gewisser Hinsicht die Lage der arbeitenden Klassen verbessert haben, ebenso wie die der Parlamentsmitglieder. Für beide Menschenklassen waren sie ein Vorteil. Und wenn du der Meinung bist, daß mehr Arbeit das einzige ist, was das englische Volk wünscht, so können wir für einige Zeit wenigstens ruhig sein. Ich persönlich sehe in dieser frischen Entwickelung der materiellen Industrie nichts als eine weitere Ursache für moralischen Niedergang. Ihr habt den Millionen der Bevölkerung erzählt, daß ihr Wohlbefinden nach der Höhe ihrer Löhne sich bemessen ließe. Geld sei der Maßstab ihres Wertes, wie jener der anderen Klassen. So schlagt ihr ihnen statt einer Moral den unedelsten aller Triebe vor. Ihr habt mit angesehen, wie eine Aristokratie unweigerlich unter einem solchen Einflusse zugrunde geht; Ihr habt gesehen, daß alle Laster des Mittelstandes auf derartige faule Grundsätze zurückzuführen sind – wie können wir uns da der Hoffnung hingeben, daß das Volk widerstandsfähiger sich erweisen wird und daß es der Katastrophe jener Anschauungsweise entrinnen würde, die das Glück in dem Reichtum der Nationen bestehen läßt?«

Der Herzog schüttelte seinen Kopf und sagte dann: »Du solltest nicht vergessen, daß wir in einem künstlichen, von Menschenhänden geordneten Staate leben.«

»Das habe ich schon oft gehört, Vater,« erwiderte sein Sohn, »aber wo ist die Kunst? Das ist ja gerade dasjenige Element, was uns in unserem jetzigen Zustande am meisten fehlt! Kunst ist Ordnung, Methode, harmonisches Resultat, das durch Anwendung starker und kluger Grundsätze erzielt wird. Ich sehe in unserem heutigen Zustande aber keinerlei Kunst. Das Volk, das dieses Land hier bewohnt, ist keine Nation mehr. Es ist ein Menschenhaufen, der nur durch eine Art rohe, provisorische Disziplin in Ordnung gehalten wird, und diese Disziplin selber stammt noch aus jenem alten Regierungssystem, das täglich mehr und mehr untergraben wird.«

»Aber was willst du machen, lieber Junge?« sagte Seine Durchlaucht traurig. »Wie willst du den Lauf der Dinge ändern?«

»Ich bin kein Wegweiser, bin kein Lehrer,« sagte Lord Montacute mit schwacher Stimme; »ich bitte dich nur, ich bitte dich dringend, lieber Vater, zwinge mich nicht dazu, auch meinerseits zu diesem schnellen Zersetzungsprozeß beitragen zu müssen, der rings um uns herum vor sich geht.«

»Du sollst ganz allein über dich bestimmen können. Ich gebe dir nur meinen Ratschlag, ich befehle dir nichts, und im übrigen: die Vorsehung wird uns beschützen.«

»Wenn nur ein Engel unser Haus besuchen möchte, wie einst dasjenige Lots!« sagte Montacute in beinahe ängstlichem Tone.

»Die Engel haben ihre Rolle ausgespielt,« sagte der Herzog. »Wir haben unsere Belehrung von einem Höheren empfangen. Und sie genügt für uns alle.«

»Sie genügt mir nicht,« sagte Lord Montacute. Seine Wange glühte und er stand plötzlich von seinem Stuhle auf. »Sie genügte den Aposteln nicht; die, obwohl sie die Bergpredigt gehört und am ersten Abendmahle teilgenommen hatten, doch noch ihren Heiland sehen mußten und sich einen Tröster von ihm versprechen ließen. Auch ich habe einen solchen nötig,« sagte er nach einer kurzen Pause mit bewegter Stimme. »Ich muß einen finden. Ja! lieber Vater, hierüber wollte ich mit dir sprechen, denn dies hat mich seit langem gedrückt und mich oft in die schwärzeste Verzweiflung gebracht. Wir müssen uns trennen. Ich muß euch verlassen, ich muß die teure Mutter, die lieben Eltern, an denen mein ganzes Herz hängt, verlassen – aber ich gehorche einem Antriebe, der, wie ich glaube, von oben kommt. Liebster, bester Vater, du wirst mir kein Hindernis in den Weg legen, du wirst mir vergeben, du wirst mir helfen!« Lord Montacute tat einen Schritt vorwärts und warf sich in die Arme seines Vaters.

Der Herzog drückte seinen Sohn ans Herz und bemühte sich, obwohl selbst in großer Angst und Aufregung, den Sinn der Reden seines Sohnes zu ergründen. »Er sagt, wir müssen uns trennen,« dachte der Herzog bei sich. »Nun, er war zu viel daheim, zu viel allein, er hat zu viel gelesen und nachgedacht und ist darüber zum Träumer geworden. Eskdale hatte also vor zwei Jahren doch recht. Ich wünschte jetzt, ich hätte ihn nach Paris geschickt, aber seine Mutter geriet immer in solche Aufregung und, wahrhaftig: sein Leben ist kostbar! Das House of Commons würde ihm so gut getan haben. Er würde Komiteesitzungen beigewohnt haben und ein praktischer Mann geworden sein. Aber irgend etwas muß man für den guten Jungen doch tun! Er sagt, wir müssen uns trennen, also hat er die Absicht, zu reisen. Und vielleicht ist das auch das Richtige! Aber von seinem Leben hängt so vielerlei ab! Und was wird Katherine dazu sagen? Es könnte sie töten. Ich selber könnte mich ja nur mit Mühe dazu verstehen. Unter allen Umständen muß er eine zahlreiche Dienerschaft mit sich nehmen. Brace sollte mit ihm reisen; er kennt den Kontinent; er war im spanischen Kriege; und einen guten Arzt muß ich ihm auch noch mitgeben. Ich sehe jetzt, wie die Dinge stehen; ich muß mit Umsicht und Bestimmtheit handeln und vor allem die Mutter schonend vorbereiten.«

Diese Gedanken gingen dem Herzog während der paar Sekunden durch den Kopf, da er seinen Sohn umarmte und durch den innigen, äußeren Ausdruck seiner Liebe zu trösten versuchte.

»Mein lieber Sohn,« sagte der Herzog, als Lord Montacute sich wieder gesetzt hatte, »ich sehe, wie die Dinge stehen: Du möchtest gerne reisen.«

Lord Montacute nickte mit dem Kopfe, als ob er zustimmte.

»Es wird ein schrecklicher Schlag für deine Mutter sein – von mir ganz zu schweigen. Meine Gefühle für dich kennst du. Aber weder deine Mutter noch ich haben ein Recht, ihre Privatgefühle deiner Wohlfahrt gegenüber geltend zu machen. Das würde nur im höchsten Grade egoistisch und unvernünftig sein. Denn vielleicht ist es wirklich besser für dich, eine Zeitlang zu reisen – und was das Parlament anbetrifft, so werde ich mit Hungerford noch heute Morgen hier in Bellamont sprechen. Ich will ihn darum bitten, seine Mandatsniederlegung auf den Herbst, oder wenn möglich, auf noch später zu verschieben. Dann wirst du ja dein Vorhaben ausgeführt haben und ich bin sicher, daß es dir recht gut tun wird. Du hast dann die Welt gesehen und gehst dann eben erst nächstes Jahr ins Parlament.«

Der Herzog hielt inne. Lord Montacute sah verlegen und traurig drein, er schien eine Antwort auf der Zunge zu haben, schwieg aber dennoch und starrte, das Gesicht von seinem Vater abgekehrt, vor sich hin. Der Herzog erhob sich, zog seine Uhr heraus, sagte, daß er um zwei Uhr in Bellamont sein müßte, gab der Hoffnung Ausdruck, daß Brace heute zum Diner ins Schloß kommen möchte, meinte, es sei gar nicht so unmöglich, daß Brace kommen würde und wollte ihm eine Einladung nach Montacute zukommen lassen. Brace kannte den Kontinent gut, spräche verschiedene Sprachen, darunter Spanisch, obgleich es anscheinend nicht wahrscheinlich wäre, daß man diese nötig haben würde, da der gegenwärtige politische Zustand Spaniens nicht gerade sehr einladend für Reisende sei. »Und was Frankreich anbetrifft,« so fuhr der Herzog fort, »Frankreich ist Paris und ich nehme an, daß diese Stadt, wie gewöhnlich, dein erster Haltepunkt sein wird. Wir müssen uns danach erkundigen, ob dein Vetter Henry Howard dort ist. Wenn ja, so wird er dich in allem bereitwilligst unterstützen. Mit Hilfe der Gesandtschaft und Brace wirst du dich in Paris sehr gut zurechtfinden. Und dann, nehme ich an, möchtest du gerne nach Italien gehen, danach scheint ja vor allem dein Sinn zu stehen. Deiner Mutter hingegen wird es nicht sehr angenehm sein, daß du nach Rom gehst. Immerhin: man sagt mit Recht, daß ein Mann, bevor er stirbt, Rom gesehen haben sollte. Ich selbst war niemals dort. Ich bin überhaupt niemals auf das Wasser gekommen, ausgenommen, um nach Irland zu fahren. Dein Großvater wollte mich niemals reisen lassen; ich hätte es gerne getan, aber er verweigerte es mir stets, doch nicht aus demselben Grunde, warum wir dich bei uns behielten. Angenommen, du verbringst den Winter in Rom, was das Richtige sein soll, dann könntest du ja recht gut im Frühling wieder zurück sein. Wir müssen aber deiner Mutter etwas zu Gefallen tun, damit du den ganzen Winter wegbleiben kannst: wenn ich es mir recht überlege, sollte ich Bernard, außer Brace und dem Arzt, mit dir mitschicken – das wird sie sehr beruhigen. Ich bin der Meinung, daß mit Brace, Bernard, einem vertrauenswerten Arzte, Harry Howard in Paris und ein paar guten Einführungsbriefen, die uns Lord Eskdale besorgen wird, die Gefahr nicht zu groß sein wird.«

»Ich trage kein Verlangen nach Paris,« sagte Lord Montacute verlegen, und jedes seiner Worte kam mühsam dabei heraus. »Ich trage kein Verlangen nach Paris.«

»Das ist mir sehr angenehm zu hören«, sagte sein Vater mit Lebhaftigkeit.

»Auch nach Rom steht mein Sinn nicht«, fuhr sein Sohn fort.

»Da nimmst du mir wirklich einen Stein vom Herzen, mein lieber Junge. Ich wollte es dir nur nicht sagen, denn ich hatte Angst, dich unnötigerweise zu irritieren; aber ich glaube tatsächlich, daß deine Reise nach Rom deiner Mutter sehr unangenehm gewesen wäre. Nicht so sehr wegen der Entfernung, obgleich die groß genug ist, auch nicht wegen des Klimas, das auch nicht gerade einwandsfrei sein soll, aber du kannst dir denken, daß bei ihren sehr orthodoxen Ansichten« – der Herzog hielt es für besser, seinen Satz nicht zu beendigen.

»Ich wollte dich nicht gerne unterbrechen, lieber Vater,« fuhr Lord Montacute fort, »denn du sprachst mit so viel Freundlichkeit und so viel wahrer Besorgnis für mich – aber mein Sinn steht nicht nach einer Reise im gewöhnlichen Sinne dieses Wortes. Ich möchte zwar wirklich gerne von England weg, ich möchte in der Tat eine Reise machen, aber eine Reise mit einem bestimmten Zweck, keine Rundreise mit einem Aufenthalt bald hier, bald dort. Mit einem Worte, meine Gedanken weilen im Heiligen Lande und meine Absicht geht dahin, eine Pilgerfahrt nach dem Grabe meines Heilands zu unternehmen.«

Der Herzog fuhr erschreckt auf und sank dann wiederum in seinen Stuhl. »Das Heilige Land! Das Heilige Grab!« rief er aus und wiederholte dieselben Worte leise vor sich hin und starrte dann seinen Sohn verwundert an.

»Ja, Vater, das Heilige Grab,« wiederholte Lord Montacute und seine Worte hatten jetzt ihre gewohnte Bestimmtheit wiedergewonnen. »Wenn ich daran denke, daß der Schöpfer, seitdem das Dunkel dem Licht gewichen ist, sich seiner Kreatur nur in einem einzigen Lande offenbart hat; daß er in diesem Land Fleisch geworden und einen menschlichen Tod gefunden; so bin ich fest davon überzeugt, daß jenem Lande, in dem derartige große Ereignisse stattgefunden haben, gewisse merkwürdige Eigenschaften anhaften müssen, die wir Menschen nicht in allen Zeitaltern zu enträtseln vermögen, die aber dennoch zu allen Zeiten einen unwiderstehlichen Einfluß auf unser Schicksal ausüben müssen. Diese merkwürdigen Eigenschaften haben während des Mittelalters Europa mehrere Male nach Asien gezogen: unser eigenes Geschlecht und dieses selbe Schloß hier haben schon früher einen der Montacutes nach Palästina entsandt, der drei Tage lang und drei Nächte am Grabe des Erlösers im Gebete verharrte, über sechs Jahrhunderte sind seit dieser großen Unternehmung verflossen und es ist wahrlich hohe Zeit, unsere Beziehungen mit dem höchsten Wesen von neuem anzuknüpfen. Auch mich zieht es dorthin, auch ich fühle die Sehnsucht, an jenem Grabe niederzuknien, auch ich verspüre das Verlangen, inmitten der heiligen Hügel und Haine von Jerusalem zu weilen und mein Gemüt von jener Last zu befreien, die es zu Boden drückt, auch mich treibt es dazu, mein Herz zu erleichtern, meine Stimme gen Himmel zu erheben und zu fragen: ›Was ist Pflicht, was ist Religion? Was soll ich tun? was soll ich glauben? Was soll ich lassen?‹«

Der Herzog von Bellamont erhob sich von seinem Stuhle und ging in seinem Zimmer schweigend und in tiefe Gedanken versunken einige Male auf und ab. Schließlich hielt er inne und sprach, mit seinem Rücken gegen den Bücherschrank gelehnt: »Mein liebes Kind, was heute zwischen mir und dir vorgefallen ist, das ist, glaube mir, für mich ebenso merkwürdig als beunruhigend. Ich will alles, was du mir gesagt hast, wohl bedenken. Ich will alles, was du wünschest und ausgedrückt hast, zu verstehen versuchen. Ich werde mich bestreben, das zu tun, was ich für gut und richtig halte, und dein Glück, nicht unser eigenes, soll mir die Hauptsache sein. In diesem Augenblicke aber kann ich nichts entscheiden: ich muß Ruhe haben und allein sein. Deine Mutter wollte, so viel ich weiß, einen Morgenspaziergang mit dir machen. Sie wird dir mancherlei zu erzählen haben. Erwähne nichts von dieser Sache: ich will ihr persönlich erst davon Mitteilung machen. Jetzt möchte ich zunächst einmal nach Bellamont herüberreiten – ich muß fort und hoffentlich wird der Ritt mir guttun. Ich kann nur im Sattel über etwas gut nachdenken. Wenn Brace kommen sollte, behalte ihn zum Diner hier. Gott behüte dich, mein guter Junge!«

Der Herzog verließ das Zimmer und ließ den Sohn mit seinen Gedanken allein. Der erste Schritt war getan. In einem kurzen Gespräch war er das losgeworden, was ihn drei Jahre lang bedrückt, worüber er drei Jahre in der Einsamkeit nachgesonnen hatte. Ein Geräusch riß ihn aus seinen Träumen: es war seine Mutter. Sie hatte eben gehört, daß der Herzog ausgegangen sei, sie war überrascht, daß er nicht noch auf ihr Zimmer gekommen sei; es war das erstemal seit ihrer Verheiratung, daß der Herzog, ohne vorher mit ihr zu sprechen, das Schloß verlassen hatte. Und nun suchte sie ihren Sohn auf, um ihm zu gratulieren, daß er jetzt ein Parlamentsmitglied sei und jene Grafschaft vertrete, die ihnen allen so sehr am Herzen läge – und gleichzeitig wollte sie ihm einen Vorschlag machen, der ihm unzweifelhaft nicht weniger interessant und bedeutungsvoll erscheinen würde. Glückliche Mutter eines einzigen, über alles geliebten Sohnes, auf den sie mit Recht stolz sein konnte und der jetzt im Begriffe stand, in das öffentliche Leben einzutreten und ein Mädchen zu heiraten, das ihn zweifelsohne glücklich machen würde! Mit zagendem Herzen öffnete die Herzogin die Türe des Bibliothekzimmers, wo, wie man ihr gesagt hatte, Lord Montacute sich aufhielt. Sie hatte schon ihren Hut auf, um auszugehen, und sah mit ihrem vor Freude geröteten Gesicht direkt schön aus. »Tancred,« rief sie aus, »da bist du ja, ich suche dich schon seit langem!«


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