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Achtes Kapitel

»Alle Welt spricht davon,« sagte Lord Eskdale zu der Herzogin, die mit gespanntem Auge zu ihm aufblickte.

»Er hat St. Patrick in Deloraine-Haus gebeten, ihr vorgestellt zu werden, dann hat er mit ihr getanzt und ist den ganzen Abend nicht von ihrer Seite gewichen. Am Sonnabend hat er eine Einladung zu einem Luncheon angenommen, aber nur, um sie zu treffen, und den Besuch in Blackwall, den er wegen der Jacht an demselben Tage machen sollte, hat er aufgeschoben.«

»Wenn es nur Katherine wäre,« sagte die Herzogin, »so wäre ich es ganz zufrieden.«

»Nimm die Geschichte nicht zu ernst,« sagte Lord Eskdale, »es werden noch mehr Katharinen und Constanzen bei ihm hinterdran kommen – wer einmal angefangen hat, hört so schnell nicht wieder auf. Diese kleine Liebelei beweist nicht viel oder höchstens das eine, daß ich mit meiner Behauptung recht gehabt habe. Ich wußte es im voraus, daß seine Sehnsucht nach einer Jacht und Jerusalem verschwinden würde, wenn eine amüsantere Sehnsucht in seinem Herzen auftauchte.«

»Du hast recht, du hast immer recht.«

Was war nun wirklich an dieser Geschichte, die Lord Eskdale so auf die leichte Schulter nahm? Mit einem Charakter wie dem Tancreds gab es eigentlich nichts Leichtes; auch leichte Dinge konnten für ihn gefährlich werden. Er war tief und doch einfach, er war über sein eigenes Ich gut unterrichtet, aber ohne Kenntnis der äußeren Welt; und wenn sein zurückhaltendes Wesen ihn vor tausend kleinen Gefahren schützen konnte, so war diese Zurückhaltung gerade die Eigenschaft, die ihn am unfehlbarsten in die Hände einer Persönlichkeit ausgeliefert hätte, die die Eiskruste um sein Herz zum Schmelzen bringen und dessen warme Innenzone hätte erreichen können. In diesem kritischen Augenblicke seines jungen Lebens war er, trotz der nach außen zur Schau getragenen Ruhe, ein Mann, der etwas Höheres tun wollte und mußte, und wäre nur zu bereit gewesen, für eine Sache, die er für edel und erstrebenswert erachtet hätte, alles zu wagen und dranzusetzen. Der Umgang mit Frauen war im übrigen für ihn etwas ganz Neues. Ihr Einfluß beunruhigte ihn zunächst, denn er hatte mit ihnen früher nie gerechnet; in seinen Träumereien waren die Helden immer zahlreicher als die Heldinnen gewesen. In seinen imaginären Unterhaltungen, in denen sich sein einsamer Sinn oftmals ergangen hatte, waren seine Gegner immer Staatsmänner, Prälaten, Philosophen oder Senatoren gewesen – nur mit diesen hatte er gekämpft und sie auch regelmäßig besiegt.

Und er hätte seine Träumereien auch in die Praxis umsetzen können. Seine Schüchternheit würde bei einer großen Gelegenheit in einem Augenblicke verflogen sein, er wäre dann imstande gewesen, eine öffentliche Versammlung mit lauten, klaren Worten anzureden, er hätte wichtige Staatsgeschäfte sehr gut und ohne fremde Hilfe zum Abschluß bringen können. Dies waren Dinge und Situationen, die er vorausgesehen hatte und die für ihn nicht mehr fremd waren, denn er hatte sich mit ihnen in seinen einsamen Stunden bekannt gemacht. Aber plötzlich sah er sich einem Hindernis gegenüber, an das er noch gar nicht gedacht hatte, und sein Fuß, der die Alpen erklimmen konnte, wurde unversehens unten im Tale durch einen kleinen, glitzernden Stein des Anstoßes aufgehalten. Warum schlug sein Herz schneller bei dem Blicke und dem Klange der Stimme dieses Mädchens? Warum hatten ihn seine heroischen Gedanken plötzlich verlassen, und nicht allein das, warum begann auch die Schüchternheit, die ehedem seine Leidenschaft im Zaum gehalten, die bisher seine schützende Fee gewesen war, zu weichen? Denn die Eiskruste, die sich um sein Herz gebildet hatte, schmolz zusehends dahin und drohte, sich in eine Pfütze zu verwandeln.

Lord Eskdales Ansichten waren die eines Weltmannes, der in den meisten Fällen auch gewöhnlich recht hat – aber die Gefahr für Tancred war eine viel größere, als die für irgend einen gewöhnlichen jungen Mann, der ebenfalls ohne große Erfahrung ins Leben getreten wäre. Der bekannte Hohn und Sarkasmus der guten Gesellschaft, eine böse Bemerkung von seiten einer bissigen Dame, eine zufällig im Klub gehörte Zote, sind schon oft die etwas fragwürdigen, aber sicheren Mittel gewesen, die einen jungen Mann von einer großen Dummheit abgehalten haben – aber bei Tancred hätte dieses alles nicht gewirkt: Wenn man ihn auf derartige Art zu retten versucht hätte, so wäre der Erfolg ein genau entgegengesetzter gewesen und die Katastrophe wäre nur um so schneller eingetreten. Seine Einbildungskraft würde sofort seinem verletzten Stolze zu Hilfe gekommen sein; er hätte den Gegenstand seiner Neigung mit ganz übernatürlichen Eigenschaften ausgestattet und seine Erkorene für die Unverschämtheit der Gesellschaft durch seine Hingabe trösten und entschädigen wollen.

Lady Constance war klug; sie konnte sich unterhalten wie eine verheiratete Frau; sie hatte ein gutes und dabei doch nicht zu pedantisches Urteil, sie hatte ihren Verstand durch die Lektüre französischer Romane geübt – Literaturkenner würden sagen »gedüngt« – und hatte sich eine Reihe von Phrasen über soziale und gesellschaftliche Erscheinungen zu eigen gemacht, die sie bei den mannigfaltigsten Gelegenheiten anzubringen verstand und die stets den überraschenden Eindruck einer improvisierten Bemerkung machten. Alles dies war für Tancred etwas Neues und Ungewohntes. Ihre Gewandtheit zog ihn an, obgleich ihn eine gewisse frivole Tonart zuweilen abstieß – aber er schrieb diese dem verderblichen Einfluß der Umgebung zu, der er sich selber zu entziehen trachtete, aus der er auch sie – so befahl ihm eine innere Stimme – zu befreien versuchen müßte. Tancred war gewöhnlich sehr ernst, aber selbst sein ernstes Gesicht hellte sich auf beim Anblick jenes Mädchens, das ihn auch wirklich bewunderte und auf das sein Verstand, wie sein frisches Wesen, seine Verschiedenheit von den anderen, wie seine hoheitsvolle und reine Schönheit gleichmäßig Eindruck machte. Lady Constance besaß dazu ein freimütiges und natürliches Wesen, die ihrem Bewunderer das Vergnügen, das sie in seiner Gesellschaft empfand, nicht verhehlte. Ihr Benehmen allerdings hatte stets eine Art würdiger Grazie, die vielleicht bei einer jungen Dame, die schon die Hand zweier zukünftiger Earls und eines schottischen Magnaten zurückgewiesen hatte, nur zu natürlich war.

Einige Tage nach dem Dejeuner in Craven Cottage machte Lord Montacute der Lady Charmouth seine Aufwartung. Sie war auch zu Hause, blickte bei seinem Eintritt mit einem mütterlich-zärtlichen Blicke von einer Handarbeit zu ihm auf und empfing ihn mit großer Herzlichkeit. Lady Constance schrieb währenddessen eine dringende Antwort auf ein eben eingetroffenes Schreiben und bat den Gast nach einigen kurzen Begrüßungsworten, sie entschuldigen zu wollen. Tancred setzte sich deswegen zur Mutter, machte den Versuch einer Salonunterhaltung, in der er keine große Übung hatte und bei der er sicher aufs Trockene geraten wäre, wenn ihm Lady Charmouth nicht in geschickter, d. h. unmerklicher Weise nachgeholfen hätte. Schließlich war Constances Brief beendigt, aber Tancred mußte natürlich bei der Mutter ausharren und konnte nicht zu der Tochter hinübergehen, wie sehr er es auch gewünscht hätte. Das war unangenehm, denn Tancred hatte der Mutter gar nichts zu sagen.

Während er auf seinen Rückzug sann und kaum den Mut finden konnte, aufzustehen und sich zu verabschieden, wurde ein neuer Gast gemeldet. Tancred stand nunmehr auf, murmelte sein »Guten Morgen«, setzte sich aber, anstatt zu gehen, in die andere Ecke des Zimmers zu Lady Constance. Er hatte das natürlich nur aus Schüchternheit getan, keineswegs aus irgend einem anderen, näherliegenden Grunde; aber Lady Constance schien sehr erfreut darüber und flüsterte ihm zu: »Es ist Lady Brancepeth, Mamas beste Freundin. Kennen Sie sie?« womit sie nur sagen wollte, daß er sich um niemand anderen als um sie selber zu bekümmern brauche.

Nach einigen sehr liebenswürdigen, einleitenden Worten nahm Constance ein Buch, das auf dem Tische lag und sagte: »Haben Sie hiervon schon gehört?« Tancred öffnete das Buch, das er nie vorher gesehen hatte und las den Titel »Die Enthüllung des Chaos«, ein Buch, das soeben herausgekommen war und von dem er schon hatte reden hören.

»Nein,« sagte Tancred, »ich habe es noch nicht gelesen.«

»Wenn Sie wünschen, werde ich es Ihnen borgen: es ist eins jener Bücher, die man gelesen haben muß. Es erklärt Ihnen alles und ist dabei sehr hübsch geschrieben.«

»Es erklärt alles!« sagte Tancred, »nun, dann muß es wahrhaftig ein bemerkenswertes Buch sein!«

»Es wird Ihnen sicher gefallen,« sagte Lady Constance. »Ich habe verschiedene Male an Sie gedacht, als ich darin las.«

»Nach dem Titel zu urteilen, handelt es sich um ein sehr dunkles und schwieriges Thema«, sagte Tancred.

»Keineswegs,« sagte Lady Constance. »Es ist vollkommen wissenschaftlich gehalten, alles ist durch Geologie und Astronomie und ähnliche Dinge erklärt. Es zeigt Ihnen genau, woraus ein Stern entstanden ist, wirklich sehr hübsch! Er entsteht nämlich aus einer Art verdichteten Dampfes, aus so einem bißchen verdickter Sahne der Milchstraße – und wird schließlich eine Art himmlischer Käse –, ja, lachen Sie nur! – Sie müssen es wahrhaftig lesen, es ist großartig!«

»Aber niemand hat noch einen Stern entstehen sehen«, sagte Tancred.

»Das macht nichts. Sie müssen ›die Enthüllung‹ lesen – es ist alles darin auseinandergesetzt. Aber das Interessanteste darin ist die Art und Weise, wie der Mensch entstanden ist. Sie wissen, daß alles Entwickelung ist. Der Leser wird sich erinnern, daß das Buch während der Hochflut des Darwinismus geschrieben wurde. Dies Prinzip geht nun immer weiter. Erst war Nichts, und dann war Etwas; und dann – das nächste habe ich vergessen –, ich glaube, es waren Muscheln und dann Fische und dann kamen wir – warten Sie! kamen wir dann schon? Nun, es macht nichts –, schließlich kamen wir eben. Und das nächste Entwickelungsstadium wird etwas viel Höheres sein, als wir selber, etwas mit Flügeln, glaube ich. Ja, das war's: wir waren früher einmal Fische und wir werden später einmal, glaube ich, Krähen werden. Sie müssen das wirklich lesen.«

»Ich glaube nicht, daß ich je ein Fisch war«, sagte Tancred.

»O, aber es ist ganz sicher bewiesen – Sie müssen nicht nach meiner flüchtigen Beschreibung allein urteilen; lesen Sie erst das Buch! Man ist sofort von der Wahrheit der Sache überzeugt. Es ist ganz wissenschaftlich gehalten, ganz anders wie die anderen Bücher, in denen der eine immer dies und der andere jenes behauptet und beide vielleicht unrecht haben. Hier ist alles bewiesen – durch die Geologie zum Beispiel. Sie können genau verfolgen, wie alles entsteht; wie viele Welten schon dagewesen sind; wie lange sie gedauert haben; was vorher bestanden hat und was nachher kommen wird. Wir sind nur ein Glied in der Kette und die niederen Tiere sind früher dagewesen als wir; und schließlich wird die Entwickelung über uns hinausgehen und wir werden die niederen Tiere sein und alles, was von uns übrigbleiben wird, sind vielleicht ein paar Reliquien in einem neuen, roten Sandstein. Das nennt man eben die Entwickelung. Wir hatten Flossen und wir können einmal auch Flügel haben.«

Tancred wurde plötzlich stille und nachdenklich; Lady Brancepeth stand auf und er erhob sich ebenfalls. Lady Charmouth warf ihm zwar einen Blick zu, der ihn aufzufordern schien, doch noch ein wenig zu bleiben, aber er verbeugte sich und sagte dann Lady Constance Lebewohl. »Wir treffen uns heute abend wieder, nicht wahr?« sagte sie ihm zum Abschied.

»Einst war ich ein Fisch und schließlich werde ich eine Krähe sein,« sagte Tancred zu sich selbst, als das Haustor sich hinter ihm geschlossen hatte. »Was für eine geistvolle Geliebte! Und gestern noch habe ich einen Augenblick daran gedacht, mit ihr gemeinschaftlich am Heiligen Grabe mein Gebet zu verrichten! Ich muß weg aus dieser Stadt, so schnell wie möglich weg, sonst steckt mich die allgemeine Verderbnis auch noch an! Und doch war mir ihre Bekanntschaft zu etwas nütze, denn ich bin durch sie zu einer neuen Jacht gekommen. Vielleicht hat es die Vorsehung so gewollt. Jetzt will ich nach Hause gehen und sofort an Fitzheron schreiben, daß ich sein Anerbieten annehme. Einhundertundachtzig Tonnen – das genügt am Ende, das muß genügen!«

In diesem Augenblicke traf er Lord Eskdale, der ihn von dem anderen Ende des Großvenor Squares her auf den Stufen von Lord Charmouths Haus beobachtet hatte.

»Ach, Lord Eskdale,« sagte Tancred – »Sie sind der Mann, den ich in diesem Augenblicke am liebsten hätte treffen mögen. Sie versprachen doch, mir einen Diener zu empfehlen, der im Osten gereist hätte.«

»Haben Sie es denn so eilig?« fragte Lord Eskdale, der gerne wissen wollte, woher der Wind wehte.

»Ich möchte gerne sobald als möglich von hier weg.«

»Hm,« sagte Lord Eskdale, »haben Sie schon eine Jacht?«

»Ja.«

»So – und jetzt möchten Sie einen Diener haben«, fügte er nach einer kleinen Pause hinzu.

»Ja! Sie waren einstmals so freundlich, mir Ihre Hilfe anzubieten.«

»Ja, ja, ich erinnere mich«, sagte Lord Eskdale nachdenklich vor sich hin.

»Aber ich möchte noch mancherlei andere Sachen,« fuhr Tancred fort. »Ich muß mir einen Kreditbrief besorgen, ich muß ein paar Empfehlungsschreiben haben – Sie sehen, ich brauche Ihren Rat notwendig.«

»Und was soll mit dem Obersten und den anderen geschehen?«

»Ich habe meinem Vater das Versprechen gegeben, sie mitzunehmen, aber ich befürchte, daß sie mir nur zur Last fallen werden. Wir haben nur eine Woche Vorbereitungszeit für die Reise ausgemacht – und ich werde ihnen sofort schreiben. Wenn sie zu der Zeit nicht reisefertig sind, halte ich mich nicht länger an meinen Kontrakt gebunden.«

»Also Sie haben eine Jacht?« sagte Lord Eskdale. »Da haben Sie wohl den ›Basilisk‹ gekauft?«

»Jawohl.«

»Nun, der muß doch erst mal noch gehörig instandgesetzt werden.«

»Etwas muß getan werden, aber nur, um ihn äußerlich schmucker zu machen – und darauf gebe ich nicht viel. Die Hauptsache ist, daß ich wegkomme: wenn nötig, können wir in Gibraltar immer noch unsere Reparaturen machen.«

»Na, wenn Sie denn gehen müssen,« sagte Lord Eskdale, »und so schnell gehen müssen – meinetwegen! Lassen Sie mich einen Augenblick überlegen. Sie wollen jemand, der den Osten gründlich kennt, und Sie wollen Geld, Rat und Einführungsbriefe. Hm! Ist Ihnen der jüdische Bankier Sidonia bekannt?«

»Gänzlich unbekannt.«

»Das ist der Mann, der Ihnen nützlich sein könnte, aber man kann leider schwer an ihn heran, denn er geht wenig aus. Warten Sie – heute ist Montag, morgen diniere ich allein mit ihm in der City. Gut! –, am Mittwoch morgen werden Sie von mir Nachricht vorfinden – aber bitte, schreiben Sie vorläufig noch nicht an den Obersten und die anderen Begleiter.«


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