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Drittes Kapitel

»Unglückliche Mutter, die ich bin!« rief die Herzogin und rang dabei die Hände.

»Liebste Katherine!« sagte der Herzog, »so beruhige dich doch!«

»Du hättest dem vorbeugen sollen, du hättest die Sache nie so weit kommen lassen dürfen.«

»Aber, meine liebste Katherine, der Schlag kam für mich ebenso unerwartet wie für dich. Ich hatte nicht die geringste Ahnung von dem, was sein Inneres die ganze Zeit bewegt hatte.«

»Und dabei hast du dich immer gerühmt, sein intimster Freund und Vertrauter zu sein! Wäre ich sein Vater gewesen, ich hätte etwas mehr von seinen geheimen Herzenswünschen erfahren.«

»Das ist wohl möglich, liebste Kate; aber du bist doch zum mindesten seine Mutter, die ihn herzlich liebt und von ihm herzlich wiedergeliebt wird. Du hast ebenfalls mit deinem Sohne auf dem vertrautesten Fuße gestanden, hast sogar mehrfach gesprächsweise Themata berührt, die mit dieser seiner Marotte eine Verwandtschaft haben, und du siehst, du bist ebenfalls vollkommen überrascht.«

»Ich hatte früher einmal den Verdacht, daß er zur Sektiererei Puseys Englischer Theologe und Gründer einer entschieden katholisierenden Richtung der Hochkirche. Neigung gewinnen könnte und habe darüber auch mit Mr. Bernard gesprochen, fand aber bald, als ich Tancred selber fragte, heraus, daß ich mich geirrt hatte. Ich bin fest davon überzeugt,« fügte die Herzogin traurigen Tones hinzu, »daß ich keine Gelegenheit habe vorübergehen lassen, ohne ihn auf die Grundwahrheiten unserer Religion aufmerksam gemacht zu haben. Noch im letzten Jahre, an seinem Geburtstag, übersandte ich ihm eine vollständige Ausgabe der Veröffentlichungen der Parkerschen Gesellschaft, dazu meines Großvaters Manuskript seines Kommentars zu Chillingworth, in einer Kopie, die ich selber für ihn angefertigt hatte.«

»Ich weiß recht wohl,« sagte der Herzog, »daß du alles für seine Ausbildung getan hast, was Intelligenz und Mutterliebe vereint zu tun imstande sind.«

»Und das ist das Resultat davon!« rief die Herzogin. »Das Heilige Land! Und wenn er selbst wirklich bis dorthin kommen sollte, so würde ihm das Klima einen sicheren Tod bereiten. Der Fluch des Allmächtigen liegt seit achtzehnhundert Jahren auf diesem Lande. Jedes Jahr ist es unfruchtbarer, wilder, ungesünder geworden. Heute ist es die erbärmlichste Einöde! Und dahin will mein Sohn gehen. Ach! Er ist für immer für uns verloren!«

»Aber, liebste Katherine, laß uns doch die Sache ein wenig überlegen.«

»Überlegen! Was soll ich überlegen? Du hast ja schon klein beigegeben, du hast dich ja schon entschlossen. Du willst überhaupt nicht mehr ›überlegen‹, du willst mir armem, unglücklichen Weibe nur schonend euren schon gefaßten Entschluß beibringen!«

»Wie kannst du so etwas sagen, Kate!«

»Was soll ich denn sagen? Was kann ich überhaupt sagen?«

»Alles, nur nicht das! Du weißt, daß in unserer Familie nie irgend etwas ohne deine Zustimmung getan wird.«

»So – na, dann sei versichert, daß ich niemals meine Zustimmung zu Tancreds Kreuzzug geben werde.«

»Dann wird er die Reise auch nicht unternehmen,« sagte der Herzog, »wenigstens nicht mit meiner Zustimmung. Aber, liebe Katherine, liebstes Weib, hilf mir doch! Alles soll so gemacht werden, wie du es wünschest – aber ich möchte es vermeiden, wir sollten es vermeiden, mit unserem Kinde in offenen Streit zu geraten. Die brutale Ausübung der elterlichen Autorität ist sicherlich dasjenige Mittel, das erst zu allerletzt in Anwendung kommen kann: wir sollten vielmehr zuerst an sein Herz und an seine Vernunft appellieren – vielleicht daß deine Gründe und seine Liebe zu uns ihn doch noch in seinem Entschlusse wankend machen können.«

»Du hast mir doch eben gesagt, daß du dich schon mit ihm in eine Diskussion eingelassen hast«, sagte die Herzogin in melancholischem Tone.

»Jawohl, aber du verstehst doch von diesen Dingen, ja von allen Dingen, mehr als ich; du bist so klug, daß du sicherlich mit deinen Gründen Eindruck auf ihn machen wirst, liebste Kate.«

»Ich würde ihm sofort klarmachen,« sagte die Herzogin mit fester Stimme, »daß sein Vorschlag keine Annahme finden kann.«

Der Herzog machte ein bestürztes Gesicht. Nach einer kleinen Pause sagte er: »Nun, wenn du das für das beste hältst! Aber wollen wir uns lieber das nicht erst überlegen, denn diese scharfe Maßregel würde mit einem Male alle Besprechungen beendigen und eine Besprechung könnte doch noch manches Gute tun. Ich kann mir außerdem das eine nicht verhehlen, daß Tancred in dieser Sache äußerst empfindlich ist, sein Wunsch kommt aus dem innersten Herzen, du kannst dir nach dem, was du bisher von ihm gesehen hast, gar keine Vorstellung davon machen, wie er sich darüber aufregen kann. Ich selbst hatte keine Ahnung, daß er solcher Emotionen fähig sein könnte. Ich hielt ihn vielmehr für einen ruhigen und gesetzten Menschen. Darum bin ich der Meinung, meine liebe Katherine, wir sollten momentan nicht zu schroff vorgehen, damit Tancred sich nicht ohne unsere Erlaubnis auf die Reise begibt. Verstehst du?«

»Unmöglich«, rief die Herzogin und schnellte von ihrem Stuhle auf. Ihre Haltung verriet dabei ebensoviel Schrecken als Vertrauensseligkeit. »Er ist uns sein ganzes Leben hindurch doch immer gehorsam gewesen.«

»Das ist ein Grund mehr,« sagte der Herzog ruhig, aber in freundlichstem Tone, »diesen ersten Ausbruch einer selbständigen Willensäußerung nicht zu leicht zu nehmen.«

»Er ist in den letzten drei Jahren zu viel von uns weg gewesen,« murmelte die Herzogin mit schwacher Stimme, »und diese Zeit ist eine so wichtige für die Ausbildung des Charakters! Aber dieser Herr Bernard sollte doch über alles orientiert gewesen sein, er zum wenigsten, hätte wissen müssen, was durch seines Zöglings Kopf ging: er sollte uns gewarnt haben. Wir müssen ihn sprechen, und das bald. Bitte klingle, lieber George, und bitte Herrn Bernard herzukommen.«

Herr Bernard, der gerade in der Bibliothek beschäftigt war, ließ die beiden einige Minuten warten. Er bemerkte gleich beim Eintritt in das Zimmer an der Haltung der hohen Herrschaften, daß etwas Merkwürdiges und wahrscheinlich Unangenehmes passiert war. Der Herzog fing in Ruhe an, die Geschichte zu erzählen, wobei er nur einen Grundriß der großen Katastrophe gab, die Herzogin füllte das Detail hinein und versah das Ganze mit lebhaften, ja selbst schrecklichen Farben.

Das Erstaunen des früheren Privatlehrers Lord Montacutes kannte keine Grenzen. Er war einfach gebrochen: die Mitteilung der Tatsachen selber überraschte ihn schon und die begleitenden Nebenumstände gaben ihm vollkommen den Rest. Die unterdrückten Vorwürfe, die aus des Herzogs mildem Auge zu sprechen schienen, die herzerschütternde Angst der bekümmerten Mutter, die in der Haltung der Herzogin lag und dabei ihre unaufhörlichen, tiefe Besorgnis verratenden Fragen – alles dieses war zuviel für den einfachen und zugleich ehrlichen Sinn jemandes, der an keinerlei stürmische Szenen gewöhnt war. Alles, was Herr Bernard eine Zeitlang tun konnte, war Auge und Mund aufzusperren und einmal über das andere vor sich hinzumurmeln: »Das Heilige Land, das Heilige Grab!« Nein, wahrhaftig nein, niemals und unter keinen Bedingungen hatte Lord Montacute ihm irgend eine Veranlassung zu der Mutmaßung gegeben, daß er einstmals zum Heiligen Grabe pilgern wolle oder daß er in irgend einer Weise unter dem Einfluß der soeben vernommenen, merkwürdigen Ideen stand.

»Aber, werter Herr Bernard, Sie sind jahrelang sein Begleiter, sein Lehrer gewesen,« fuhr die Herzogin fort, »besonders in den letzten drei Jahren, in Jahren, die für die Charakterbildung so wichtig sind. Sie haben weit mehr mit Tancred verkehrt, als wir. Sie müssen doch sicherlich irgend eine Ahnung von seinen merkwürdigen Ideen gehabt haben, oder Sie sollten sie gehabt haben, Sie sollten uns gewarnt und vorbereitet haben.«

»Gnädigste Frau,« sagte Herr Bernard schließlich, etwas ruhiger geworden, »gnädigste Frau Herzogin, Ihr Herr Sohn hat unter meiner Anleitung auf der Universität die besten Examina gemacht; sein Betragen und seine Moral sind während dieser ganzen Zeit vollkommen einwandfrei gewesen, und was seine Religiosität anbetrifft, so beweist selbst dieser merkwürdige Plan, daß sie nicht von der gewöhnlichen leichten Sorte sein kann.«

»Solch einen Sohn zu verlieren!« rief die Herzogin in verzweifeltem Tone und mit vor Tränen überströmenden Augen.

Der Herzog nahm ihre Hand und wollte sie beruhigen – er wandte sich aber bald wieder zu Herrn Bernard und sagte in ruhigem Tone: »Wir sind Ihnen für das, was Sie getan haben, zu großem Danke verpflichtet und die Herzogin teilt hierin vollkommen meine Meinung. Nur das eine ist zu bedauern, daß es niemandem von uns dreien geglückt ist, einen tieferen Einblick in den Charakter meines Sohnes zu gewinnen.«

»Werter Herr Herzog,« erwiderte Herr Bernard, »hätten Sie oder Ihre Durchlaucht, die Frau Herzogin, jemals mit mir über diese Sache gesprochen, so würde ich mir die Freiheit genommen haben, meine jetzige Meinung schon früher zu äußern. Ich habe Lord Montacute stets für einen etwas geheimnisvollen Charakter gehalten. Er hat sich in der Einsamkeit selbst erzogen, er ist keinem der Schritte, die ich tat, um sein Vertrauen zu gewinnen, entgegengekommen, und seinen Untergebenen und Studienfreunden hat er sich ebensowenig eröffnet. Er hat auch niemals einen wirklichen Freund gehabt. Was mich selber anbetrifft, so hat er während unseres zehnjährigen Verkehrs durch keinerlei Worte oder Taten jemals unser gegenseitiges Verhältnis gestört; aber als Kind war er scheu und schweigsam, und als Mann – wenigstens an Charakter und Intelligenz, habe ich ihn diese letzten vier Jahre als solchen betrachten müssen – hat er mich nur als eine Maschine benutzt, mittels derer er sich Kenntnisse erwerben könnte. Es ist ja nicht gerade angenehm, sich selbst derlei Geständnisse machen zu müssen, aber in Oxford hatte er Gelegenheit gehabt, sich mit einigen der hervorragendsten Männer unserer Zeit auszusprechen, und ich habe von diesen auch die gleiche Klage hören müssen. Lord Montacute hat niemals sein Herz irgend jemandem ausschütten wollen. Die Unterhaltung, die er gestern mit Eurer Durchlaucht hatte, ist die einzige mir bekannte Ausnahme, und durch sie fällt wenigstens etwas mehr Licht auf die Mysterien seiner Gedanken.«

Der Herzog machte ein betrübtes Gesicht, die Herzogin schien in tiefe Gedanken versunken, und für geraume Zeit sprach keiner ein Wort. Schließlich sagte die Herzogin mit beruhigterer Stimme: »Wir haben uns anscheinend im Charakter unseres Sohnes getäuscht. Besten Dank, lieber Herr Bernard, daß Sie sich so schnell herbemüht haben, um mit uns in unserem Kummer Aussprache zu halten. Es war sehr liebenswürdig von Ihnen.« Herr Bernard verstand die Andeutung, stand auf, verbeugte sich und ging.

Der Herzog und die Herzogin sahen einander an, wer von ihnen beiden zuerst sprechen sollte. Der Herzog hatte nichts zu sagen, und so begann schließlich die Herzogin tränenvollen Auges: »Nun, George, was sollen wir tun?«

Dem Herzog schwebte sein Vorschlag, Tancred in Begleitung von Oberst Brace, Herrn Bernard und Herrn Roby nach Jerusalem zu schicken, auf der Zunge, aber er hielt es noch nicht für ganz an der Zeit und er schlug darum der Herzogin vor, sie sollte selbst mit Tancred sprechen.

»Nein,« sagte Ihre Durchlaucht und schüttelte den Kopf, »Schweigen ist für mich in diesem Augenblick das beste. Aber es müssen trotzdem sofort energische Maßregeln ergriffen werden, um ihn zu retten. Nichts darf in solcher Verlegenheit unversucht bleiben. Ich habe meinen Plan: wir müssen die ganze Affäre unserem Freunde, dem Bischof, unterbreiten. Er muß mit Tancred sprechen. Ich habe keinen Zweifel, daß der Bischof ihn aufklären, seine Zweifel beseitigen, sein Gewissen beruhigen wird. Der Bischof ist der einzige Mann, der dies fertig bringen kann, weil dieser Fall sowohl theologischer wie politischer Natur ist, und der Bischof ist sowohl ein großer Staatsmann, als der erste Theologe seines Zeitalters. Du kannst dich darauf verlassen, lieber George, daß dies das vernünftigste ist und daß wir auf diesem Wege, mit Gottes Hilfe, unser Ziel erreichen werden. Es ist vielleicht ein starkes Ansinnen unsererseits, den Bischof bei allen seinen vielfachen geschäftlichen Abhaltungen auch um seine Beihilfe zu bitten, aber Zartgefühl ist nicht am Platze, wo es sich um einen so bedeutenden Einsatz handelt. Außerdem ist es in Anbetracht der Tatsache, daß er Tancred getauft und eingesegnet hat, und mit Hinsicht auf unsere langjährige Freundschaft mit ihm ganz unmöglich, daß er uns abschlägig bescheiden kann. Aber wir dürfen keine Zeit verlieren. Wir müssen sobald als möglich, vielleicht schon morgen, nach London übersiedeln. Ich werde den Gang der Dinge noch dadurch zu beschleunigen versuchen, daß ich sofort an den Bischof schreibe, ich werde ihm in meinem Briefe genaue Andeutungen über unseren Fall machen, so daß er sofort nach unserer Ankunft Tancred empfangen kann. Was meinst du zu meinem Plan, George?«

»Ich halte ihn für ausgezeichnet«, erwiderte Seine Durchlaucht und war sehr zufrieden, daß er vor den großen Debatten und Besprechungen wenigstens auf einige Zeit Ruhe hatte.


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