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Drittes Buch

 


Erstes Kapitel

Der Vollmond steht über dem Ölberg, aber von seinen Strahlen unberührt und in Dunkelheit liegen der Garten von Gethsemane, das Grab Absaloms, sowie die Wasser des Kidron und der steile Abgrund des Tales Josaphat. Die gegenüberliegende Stadt hingegen steht klar und scharf sich von ihrem Hintergrund abhebend im Silberglanze des nächtlichen Gestirnes da. Eine stattliche Mauer mit Zacken, Türmen und zahlreichen Toren folgt auf- und absteigend dem unebenen Boden, auf dem sie errichtet ist und umzirkelt die verlorene Hauptstadt Jehovas in stattlichem Kreise. Jerusalem ist eine Hügelstadt, die weit berühmter ist als Rom: denn ganz Europa hat von Zion und dem Calvarienberge gehört, während der Araber und der Assyrer und die Stämme und Völker Vorderasiens vom Aventin und Capitol so wenig etwas wissen, als vom Kreuzberg und den Hügeln von Hampstead.

Dort ragt die mit dem Davidsturm geschmückte breite Anhöhe des Berges Zion empor; noch näher erhebt sich der Berg Moriah mit dem prächtigen Tempel des Gottes Abrahams, der aber leider von Hagars und nicht von Sarahs Sohn gebaut wurde; nahe bei seinen Zedern und Zypressen, seinen stattlichen Türmen und mächtigen Bogen fällt das helle Mondlicht auf Bethesdas Teich; weiter hinten, am Stephanstor, erkennt das Auge, trotz der Mitternacht, die Via dolorosa, eine lange gewunden aufsteigende Straße, die deswegen Via dolorosa genannt wird, weil der berühmteste Sohn des Menschengeschlechtes wie des jüdischen Volkes, der Nachkomme König Davids und der göttliche Sohn der glücklichsten aller Frauen hier zweimal unter jener schändlichen Last zusammenbrach, die jetzt von der ganzen Christenheit als das Sinnbild der Ehre und des Triumphes verehrt wird. Weiter schweift der Blick über eine Menge terrassen- und kuppelgeschmückter Steinhäuser zum Hügel des Salem, wo Melchisedek seine geheimnisvolle Zitadelle gebaut hat, und dann zum Hügel des Scopas, von wo einst Titus am Vorabend seines letzten Angriffs auf Jerusalem die Stadt überblickte. Titus zerstörte den Tempel. Die Religion Judäas aber hat sich gerächt und ihrerseits die Heiligtümer zerstört, die dem göttlichen Titus wie seinem Vater in ihrer Kaiserstadt am Tiber errichtet worden waren, und heute betet man in Rom auf allen Altären anstatt zu ihnen, zu dem alten Gotte Abrahams, Isaaks und Jakobs.

Jerusalem bei Mondenschein! Ganz abgesehen von all jenen historischen Erinnerungen, die das Herz mit Scheu und Ehrfurcht erfüllen müssen, ist es der prächtigste Anblick, den man sich denken kann. Die sanfte nächtliche Beleuchtung nimmt der stolzen, aber etwas zu harsch zerrissenen Berglandschaft etwas von ihrer Härte und ihrem erdrückenden Ernst: sie stört nicht die Erhabenheit der Szenerie und dämpft dennoch mit ihrem milden Glanze die allzu romantische Wildheit der Steinwüste. Denn Jerusalem ist eine von tiefen Abgründen fast ganz umschlossene Stadt. Seine Mauern und Zinnen erheben sich steil aus diesen Abgründen heraus, und dabei liegt es noch hoch oben auf einer langgestreckten Bergkette, durch deren Schluchten man hin und wieder einen Ausblick auf ein entferntes, fruchtbareres Land genießt.

Der Mond ist hinter dem Ölberg untergegangen und doppelt hell erstrahlen jetzt am dunklen Himmel die glänzenden Sterne über der Heiligen Stadt. Nur ein leiser Wind, der von der See über die Ebene von Saron herüberfächelt, unterbricht von Zeit zu Zeit die lautlose Stille und sein Säuseln zieht wie ein sich oft wiederholender Seufzer durch die Zypressenhaine und heiligen Gräber in unserer Nähe. Selbst der Palmenbaum erzittert, wenn der Lufthauch über ihn hinweggleitet, als ob der Geist der Trauer auch über ihn gekommen wäre.

Ist es wirklich der Wind, der über die Ebene von Saron von der See kommt? Oder bedeutet das leise Flüsterschwirren, das an unser Ohr schlägt, etwas anderes? Schweben vielleicht die abgeschiedenen Geister der großen Propheten immer noch um diesen heiligen Ort, hört man noch immer von Zeit zu Zeit ihre Stimme hier nächtlings in Trauerklagen über jene Stadt ausbrechen, die sie einstmals nicht haben retten können? Weigern sich ihre Schatten, das Land zu verlassen, für das sie gelitten, für das sie gekämpft, für das sie geblutet und über dessen unabwendbares Schicksal die göttliche Allmacht selber einst menschliche Tränen vergossen hatte? Und auf diesem Berge hier! Wer kann es bezweifeln, daß hier auf dem Gipfel, von dem die Himmelfahrt einst stattfand, noch heute um die Mitternachtsstunde die großen Toten Israels zusammenkommen, um die Zinnen jener mystischen Stadt, der ihr Herz und ihr Blut gehörte, noch einmal zu betrachten? Helden und Weise finden sich dann hier zusammen, die sich den edelsten und weisesten Männern aller anderen Völker ruhig an die Seite stellen können: jener Gesetzesgeber aus der Zeit der Pharaonen, dessen Gesetzen man noch heute gehorcht; jener König, dessen Regierung vor dreitausend Jahren zu Ende ging, aber dessen Weisheit am Leben blieb und bei allen Nationen der Erde sprichwörtlich geworden ist; jener Lehrer, dessen Worte das zivilisierte Europa von heute geschaffen haben – der größte Gesetzgeber, der größte König, der größte Reformator –, welche Rasse, welche lebendige oder tote Rasse hat drei solche Männer wie diese hier jemals hervorgebracht!

Im Dorfe Bethanien verschwindet das letzte Licht. Die säuselnde Brise schwillt zu einem stöhnenden Winde an, ein weißer Schleier zieht sich über den purpurnen Himmel; die Sterne schimmern nur noch undeutlich hindurch, schließlich verschwinden sie ganz, und alles wird so düster wie die Wasser des Kidron und das Tal Josaphat. Der Davidsturm verschwindet in der Dunkelheit, die Minarets der Omar-Moschee zeichnen sich nicht mehr vom Himmel ab, die Hügel Salems und Scopas, das Stephanstor, Bethesdas himmlisches Wasser und die Straße des heiligen Schmerzes haben sich unseren Blicken entzogen. Selbst die scharfe Linie der Mauern Jerusalems beginnt undeutlicher zu werden und nur die Kirche des Heiligen Grabes leuchtet wie ein Signalfeuer noch am Himmel auf.

Und warum leuchtet allein die heilige Grabeskirche wie ein ewiges Licht in all dem mystischen Dunkel? Warum ist um diese Stunde nach Mitternacht, da alles in Jerusalem schläft und außer dem Bellen der Hunde, das sich in das Heulen des Windes mischt, kein Ton mehr zu hören ist – warum ist um diese Stunde die Kuppel der heiligen Grabeskirche erleuchtet, obgleich die Stunde längst verflossen ist, da die Pilger hier knien und die Mönche hier zu beten pflegen?

Eine türkische Wachmannschaft lungert bei ihren Gewehren im Hofe der Kirche; in der Kirche selbst halten zwei Brüder des Terra-Santa-Klosters die heilige Wache, während dort unten am Heiligen Grabe ein einsamer junger Mann liegt, der bei Sonnenuntergang hier niederkniete und die ganze heilige Nacht hier im Gebete zu verbringen gedenkt.

Und doch ist der Pilgersmann kein Angehöriger der lateinischen Kirche, noch einer der armenischen oder griechischen – auch ist er kein Kopte, Abessinier und Maronite –, keine aller dieser christlichen Kirchen kann ihn ihren Sohn nennen und für sich in Anspruch nehmen.

Von einer entfernten, nördlichen Insel ist dieser Pilgersmann gekommen, um an dem Grabe eines Nachkommens der Könige Israels zu beten, denn der Pilgersmann verehrt, ebenso wie alle Bewohner jener Insel, in diesem edlen Hebräer einen von Gott gesandten Erlöser. Und warum ist er der einzige, der gekommen ist? Warum ist er der erste, der, der neuesten technischen Erfindungen sich bedienend, zu jenem Heiligen Lande wallfahrtete, zu dem, vor der Zeit der modernen Erfindungen, alle seine Landsleute zu pilgern pflegten? Und warum tun sie es heute nicht mehr? Ist das Heilige Land nicht mehr ein geweihtes Land? Ist es nicht das Land heiliger, dunkler Wahrheiten? Ist es nicht das Land himmlischer Botschaften und irdischer Wunder? Nicht das Land der Propheten und Apostel? Ist es nicht das Land, auf dessen Bergen der Schöpfer der Welt zu den Menschen zu reden pflegte? Ist es nicht das Land, in dem er in der Gestalt eines Angehörigen seines auserwählten Volkes erschien, damals, als er gegen die Macht des Bösen seinen letzten Kampf führen wollte? Glaubt man wirklich, in einem solchen vor allen anderen Ländern ausgezeichneten Lande sind keine besonderen und ewigen Wahrheiten mehr zu entdecken? Ist Palästina nicht mehr wert als die Normandie oder Yorkshire, oder selbst als Attika oder Rom?

Es mag ja Leute geben, die dies behaupten; es hat ja Männer unter den nördlichen und westlichen Völkern gegeben, Männer, die zu den weisesten und geistreichsten gehörten, die in einem gewissen Ärger über die lange Vorherrschaft jenes orientalischen Geistes, dem sie ihre Zivilisation verdanken, der Welt verkündet haben, daß die Berichte vom Sinai und Calvarienberge weiter nichts als dumme Fabeln seien. Vor einem halben Jahrhundert machte Europa einen heftigen und anscheinend erfolgreichen Versuch, das Joch des asiatischen Glaubens von sich abzuschütteln. Das mächtigste und kultivierteste seiner Königreiche Frankreich. schloß am Vorabend seines Siegeslaufes durch die Welt seine Kirchentüren, entweihte seine Altäre, tötete und verfolgte die heiligen Diener der Religion und verkündete laut, daß jener jüdische Glauben, den Simon Peter von Palästina gebracht und den seine Nachfolger Chlodwig offenbart hatten, eine Lüge und nicht einmal eine gut erfundene Lüge sei. Und mit welchem Erfolge? In jeder Stadt, in jedem Dorf, in jeder Hütte des großen Königreiches ist unter dem inbrünstigen Gebete einer knienden Gemeinde das Bildnis des Berühmtesten der Juden wieder aufgestellt worden; und im Herzen seiner leichtlebigen und blendenden Hauptstadt selber hat das Volk das prächtigste aller modernen Gotteshäuser errichtet und seine marmor- und goldstrotzenden Wände dem Namen und dem Andenken einer jüdischen Frau gewidmet.

Das Land, aus dem unser einsamer Pilgersmann in der heiligen Grabeskirche stammte, hatte an jener Auflehnung gegen das Alte und Neue Testament, die gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts stattfand, keinen Anteil genommen. Aber vor sechshundert Jahren hatte dieses Land seinen König und die Blüte seiner Ritterschaft entsendet, um Jerusalem aus den Händen jener Menschen zu befreien, die sie als Ungläubige ansahen! Und heute? Heute verwenden sie, anstatt auf einen dritten Kreuzzug, ihre überschüssigen Kräfte auf – Eisenbahnbauten.

Der Untergang des europäischen Königreiches von Jerusalem, jenes Reiches, das so viele Schätze, so viele Heldenleben und so viel Begeisterung gekostet hatte, hat, obgleich dieses Unglück ganz die entgegengesetzten Gefühle hätte hervorrufen sollen, den Glauben Europas stark erschüttert. Die Kreuzfahrer betrachteten die Sarazenen als Ungläubige, während doch diese Kinder der Wüste in einem weit näheren Verwandtschaftsverhältnis zu dem heiligen Toten, der einst für kurze Zeit im Heiligen Grabe gelegen hat, standen, als die europäischen Angreifer selber. Dasselbe Blut floß auch in ihren Adern, und sie glaubten sowohl an seine, wie an seines Vorgängers Moses göttliche Sendung. In einem Jahrhundert, wie dem zwölften, das von Physiologie noch keine Ahnung hatte, waren die Mysterien der Rasse aber noch vollkommen unbekannt. Jerusalem, das kann keinem Zweifel unterliegen, wird auf ewig die Mitgift Israels oder Ismaels bleiben, und wenn man im Laufe jener großen Veränderungen, die dem Osten bevorstehen, den Versuch machen sollte, auf den Thron Davids einen Prinzen vom Hause Koburg oder Zweibrücken zu setzen, so wird ihm dasselbe Schicksal zuteil werden, das trotz der Hilfe von ganz Europa und trotz ihrer hervorragenden Tapferkeit die Gottfrieds, die Balduins und die Lusignans ereilt hat.

Mit jenen Helden war auch mit einer langen Lanze und in einer glänzenden Rüstung der Vorfahre jenes knienden Pilgers nach Jerusalem gekommen, und der Nachkomme, der nicht weniger religiös und nicht weniger tapfer war, hatte aus jenem großartigen und doch vergeblichen Bemühen seines Ahnen, des ersten Tancred von Montacute, Belehrung empfangen. Denn unser Held war auf diesen neuen Kreuzzug reinen und bescheidenen Herzens gegangen, mit einem Herzen, das am Grabe des Erlösers aller seiner Sorgen und Kümmernisse ledig werden wollte, und das an jenen heiligen Stätten, auf denen der Heiland und seine großen Vorfahren gewandelt waren, Rat und Trost zu finden hoffte.


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