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Totemismus, Exogamie und Mutterrecht

Sir James Frazer, der Schneebart, der Folklore-König in seinem Mythenwald, schrieb nach dreißigjährigem Studium über Totemismus und Exogamie den mutig-weisen Satz: »I have changed my views repeatedly and I am resolved to change them again with every change of the evidence, for like a chamelion the candid enquirer should shift his colours with the shifting colours of the ground he treads.« Wahrscheinlich überall, besonders aber in der Völkerpsychologie kommt jeder halbwegs Erfahrene ja bald dahinter; die kürzeste Gedankenverbindung zwischen zwei Punkten ist immer eine – Banalität. Zu besseren Einsichten führen nur Umwege.

Da Totemismus und Exogamie völkerpsychologisch zum bedeutsamsten gehören, dabei in ihrer ganzen Spielbreite durchdrungen sind von gespenstigen Rätseln aus dem Nirgendwo, so reizen sie natürlich die Leute zu extremen Ansichten. Frazer selbst hat schon drei gehabt, zwei davon wieder feierlich verworfen. Es ist also zu hoffen, daß er auch die dritte noch den früheren nachschicken wird. Sie läßt, da Australier und andere Primitive den Zusammenhang von Empfängnis und männlichem Akt nicht anerkennen, den Totem aus »sick fancies«, einer Graviditätsphantasie der Frau beim Schock der ersten Kindesbewegungen, entstehen. Tier, Vogelruf, Pflanze, Windhauch, Stein, Stern, was eben in diesem bestürzenden Moment ihre Aufmerksamkeit fesselt, soll die Gravide für den eben eingedrungenen Lebenserreger halten, der sich in Menschenform von ihr wieder gebären lassen will. Damit wäre erklärt, warum der Totem, wiewohl oft ein männliches Tier, sich fast nur in weiblicher Linie forterbt und als mystischer Ahnherr von den Abkömmlingen nicht gegessen werden darf, es sei denn an hohen Festen, um feierlich die Identifizierung mit ihm zu erneuern, kurz, der Grund, warum jeder Totem »tabu« ist. Totemismus wäre also nach Frazer III eine weibliche Schöpfung. Männliche Kollegen haben vielfache Einwände von weither getragen; dieser Theorie aus ihrem Kern heraus das Urteil zu sprechen käme aber naturgemäß einer Frau zu. Sie würde den Herren erklären, die »ersten« Kindesbewegungen seien so wenig ein Schock, daß die Gravide, erst aus deren allmählicher Verstärkung auf zartere Stadien rückschließend, also viel später, weiß, wann sie »zuerst« verspürt wurden. Dieses »zuerst« war nur etwas wie das Zucken eines Sardellenschwänzchens in einer weh-gedehnten Flüssigkeit, unbeschreiblich tief weg, wo das Ich an den Mittelpunkt der Dinge grenzt. Kindesbewegungen sind somit, »zuerst« nur rückschauender Beobachtung zugänglich, sechs Wochen später schon Gewohnheit geworden, dazwischen liegt kein Schock, abgegrenzt genug, um ihn mit einem äußeren Ding ursächlich zu verknüpfen.

Frazers zweite Theorie entstand unter der Suggestion eben entdeckter australischer Zeremonien der Intichiumariten, die, spät und stark degeneriert, zuerst fälschlich eine Trouvaille an Primitivität schienen. Damals hielt Frazer kurze Zeit den ganzen Totemismus für einen »magischen Konsumverein«. Die einen sollten ihr Totemtier nicht essen, dafür durch Riten und Zauber vermehren und als Tauschobjekt für andere Clans verwenden, war es aber ein Raubtier, ein Skorpion, eine Schlange, seine Schädlichkeit durch Magie bannen, wofür sie durch Totemtiere anderer Clans bezahlt wurden. Aus alter Erfahrung mißtrauisch gegen solchen Rationalismus, weil Naturvölker anders denken, kam Frazer bald wieder von dem magischen Konsumverein ab, hatte er sich doch schon früher die Unzulänglichkeit dieser Hypothese nicht ganz verhehlt. Auch Beruf und Beschäftigung bei Clan-Mitgliedern liegen ja oft weit ab von ihrem Totem. »Die Baganda sind seit unvordenklichen Zeiten Elefantenjäger, der Totem aber ist ein kleiner Sumpfbüffel, und bei Generationen von Schmieden eine schwanzlose Kuh. Leute vom Bedschuana-Stamm mit Eisentotem sind nicht etwa Eisenarbeiter, es ist ihnen sogar verboten, ein Metall anzurühren.«

A. C. Haddon, ganz rational, meint, zum Totem sei jenes Tier oder jene Pflanze geworden, von dem der Stamm ursprünglich gelebt oder mit dem er Handel getrieben habe, also das Nahrungstier oder die Nährpflanze. Dem widerspricht das Grundgebot jedes Totemismus, daß ein Totem als Tier bei Todesstrafe weder gejagt, noch verletzt, noch gegessen, als Pflanze weder gepflückt, noch genossen werden darf, außer bei der seltenen religiösen Stammeszeremonie einer Wiederidentifizierung mit ihm. Überdies sind Naturvölker omnivor, und das um so mehr, je tiefer sie stehen. Doch schon bei den Primitivsten sind die heiligen Totembräuche dort bereits geradezu barock ausgestaltet, wo von einem besonderen Jagd- oder Nahrungstier keine Rede sein kann. Damit scheidet diese Theorie aus, genau wie die andere, soziologische von Eildermann, der von seinem zweckhaft konstruierten Schreibtisch aus meint, besonders geschickte Jäger, spezialisiert auf das Känguruh, das Emu oder sonst ein Tier, hätten sich eben Känguruh- oder Emuleute genannt und durch ihr Jagdmonopol das »wirtschaftliche Übergewicht erhalten«, worauf später die Schichtung in Altersklassen und schließlich die Exogamie, jene Sitte, nur Frauen fremder Clans zu heiraten, hervorgegangen sei, indem der Vater die Tochter mit Vorliebe einem Mann aus anderem Totem-Clan gegeben habe, um von ihm anderes Fleisch zu erhalten. Primitive mit uraltem Totem sind aber immer noch Omnivoren und nicht spezialisierte Jäger. Auf den Totem »spezialisierte Jäger«, die ihr Spezialwild überdies nicht jagen, nicht verletzen, nicht töten dürfen, werden kaum imstande sein, Fleisch einem Schwiegervater zu bringen oder durch den Totem »ökonomische Überlegenheit« zu gewinnen. Schließlich sind Totems zwar häufig, aber durchaus nicht immer Tiere oder Pflanzen, zuweilen eine Himmels- oder Windrichtung, der Regen oder ein Stern. Die eine Art Totem für älter zu dekretieren als die andere, scheint aber keineswegs gerechtfertigt. Dann würde also nach soziologischer Auffassung der Spezialjäger mit dem Regenbogen als Totem diesen, nachdem er ihn zur Strecke gebracht und ausgeschrotet hat, dem Schwiegervater liefern. Vorderes oder hinteres, rotes oder violettes Ende nach Wunsch.

H. Spencer, auch Lord Avebury lassen Totemismus als Ehrennamen eines Anführers entstehen, wie Löwe, Falke. Fast unwiderleglich spricht dagegen, daß der Totem nie einem einzelnen, stets einer Gruppe verhaftet ist. Als persönlicher Spitz- oder Ehrenname eines Mannes könnte er, nach dem fast allgemeinen System der Mutterfolge, nie vererbt werden und stürbe mit ihm aus, würde also nicht Clanname.

C. A. Wilken sieht infolge der Seelenwanderung Pflanzen, Tiere und sonstige Naturdinge zum Rang von Ahnen aufsteigen. Auch W. Wundt will bemerkt haben, wie Totemtiere auffallend oft mit den »Seelentieren« der klassischen Zeit identisch seien, Fledermaus, Vogel, Eidechse, Schlange als Wohnort entkörperter Seelen, so daß Totemismus im Animismus wurzle, die entkörperte Ahnenseele in das Tier übergehe, das nun selbst als Ahnherr verehrt und geschont werde. Dagegen zeugt, daß viele Rassen mit Totem, wie die Baganda, gar nicht an die Seelenwanderung glauben.

Außer diesen Theorien gibt es noch reichlich andere, doch stets irgendwo durch schwere Einwände lädierte. Noch schlimmer wird es bei der Exogamie. Vor allem mit der Frage, ob sie überhaupt zum Totemismus gehöre oder nicht. Frazer und nach ihm die meisten neueren Forscher halten beide Phänomene ihrem Ursprung nach für total verschieden schon deshalb, weil der Totemismus weit älter sei. S. Freud braucht beide wieder als untrennbare Bestandteile seines Vaterfraßes in der Urhorde: Beginn sozialer Organisationen, sittlicher Einschränkungen und Religion.

Nur in einem ist sich seit geraumer Zeit alles so ziemlich einig geworden, darin nämlich, daß Exogamie, jenes strenge Gebot, ausschließlich Mitglieder anderer Clans zu heiraten, nichts mit Rassenhygiene zu tun hat, also mit Inzestscheu im eugenetischen Sinn. Auch sind ja Bruder-Schwester-Ehen nicht nur im Iran bevorzugt, sondern auch sonst weit verbreitet, wie bei den Murung auf Borneo; bei den Kalangas auf Java gilt sogar die Verbindung von Mutter und Sohn für besonders gesegnet. Auch wäre es psychologisch mehr als unwahrscheinlich, sollten Naturvölker mögliche üble Folgen an ihren fernsten Nachfahren nicht nur voraussehen, sondern deren Verhinderung mit Todesdrohungen von den Zeitgenossen erzwingen, besonders da ja heute die Frage dieser »schädlichen Folgen« weniger als je entschieden ist. Die neue Völkerkunde zeigt im Gegenteil reine Inzestrassen als die harmonischesten, schönsten, vitalsten auf. Was in den europäischen Alpen an Degeneration besteht, erwies sich jedesmal als anders verursacht, wie Kretinismus durch Kropfwasser oder Taubstummheit durch die Höhenlage. Beobachtungen der Tierzüchter beweisen natürlich nichts, weil ja die Tiere auf »Krankheit« gezüchtet werden, im Sinne menschlichen Nutzens, nicht im Sinn ihrer eigenen Zielstrebigkeit, Gänse auf Leberentartung, Schweine auf Herzverfettung, Kühe auf pathologische Überentwicklung der Milchdrüsen. Wo aber eine Tierart nur halbwegs auf ihren eigenen Lebensplan hin ingezüchtet wird, wie das englische Vollblutpferd auf Schnelligkeit, Temperament, körperlich-seelische Gesamtleistung, da stehen die Rekordresultate im direkten Verhältnis zu Strenge und Dauer der Inzucht. Nirgends in der Natur gibt es Inzestscheu bei Tieren, eher das Gegenteil: Abneigung, sich zu kreuzen. Herden lassen überhaupt kein fremdes Exemplar zu, woher stammt also die Exogamie als weit verbreitetes Gesetz bei gerade der Natur so nahen Rassen?

Mac Lennan, der Entdecker von Totemismus und Exogamie, glaubte, diese stamme aus dem Weibermangel; dann wäre aber erst recht nicht einzusehen, warum sich der Stamm auch noch die wenigen eigenen Frauen versagen sollte.

Westermarck meinte noch, Völker mit Inzest seien eben an dessen Folgen ausgestorben, übriggeblieben nur die mit Exogamie. Diese Meinung ist seitdem durch die notorische Langlebigkeit typischer Inzestrassen widerlegt.

Jeremy Bentham und Walter Heape sehen die Erklärung im Reiz der fremden Frau; das liefe auf Bevorzugung, nicht aber auf Gebot hinaus, ist übrigens psychologisch unhaltbar, gerade Kinderfreundschaften gehen bei Natur- wie bei Kulturvölkern besonders häufig nach der Pubertät in erotische Bindungen über, man braucht nur an berühmte literarische Beispiele, wie Aucassin und Nicolette, Paul und Virginie, Daphnis und Chloë zu denken.

Havelock Ellis macht es sich ebenfalls unerlaubt leicht, wenn er die Inzestscheu einfach Fehlen des Erethismus, Hormonfläue nennt. Warum müßte dann durch Todesstrafe verboten werden, wonach doch kein Gelüst besteht?

Für Prof. Dürkheim hängen Totemismus und Exogamie insofern zusammen, als Scheu vor dem Vergießen des gleichen Totemblutes durch die Defloration zur Heirat in fremdes Clanblut zwingt. Nun findet aber gerade Sexualverkehr bei Vermischungsfesten, manchmal auch in sogenannten Mondehen, zwischen Clangeschwistern statt, denen dauernde Lebensgemeinschaft versagt wäre. In Assam hat das Mädchen in den großen Muttersippen meist vorehelichen Geschlechtsverkehr mit einem Mann, den sie nicht heiraten darf. Es muß demnach für die Exogamie ganz anderer als blutmäßiger Grund bestehen.

Darwin nahm Eifersucht alter Männchen an, sie sollten die jungen aus der Herde vertreiben. Angenommen, nicht zugegeben, das stimme, dann müßten fremde eindringende Rivalen doch von ihnen noch viel schärfer abgehalten werden. Und die drüben, in den anderen Horden, machten es doch ebenso. Es wäre also nicht einzusehen, wie junge Männchen je zu Gattinnen kommen sollten, außer sie siegten im Kampf, dazu hätten sie aber in der eigenen Horde genau so viel Chance; dann bleibt es aber beim Inzest, und Exogamie kann nicht zur Regel, geschweige denn zum allgemein gültigen Gesetz werden. Darwin stützte sich keineswegs auf Beobachtung am Menschen, denn »Urhorde« ist etwas rein Hypothetisches, und in der Gesellschaftsstruktur uns bekannter Naturvölker spielt Eifersucht, die Dominanz alter Männchen, fast gar keine Rolle. Es war eben ein billiger Analogieschluß meist nordischer Völker im bürgerlichen Zeitalter, daß, weil die ihnen bereits »wild« und »primitiv« erscheinenden Romanen, etwa Sizilianer (besonders in Opern), sich viel hitziger eifersüchtig gebärdeten als sie selbst, bei noch primitiveren und wilderen Menschenarten in noch heißeren Gegenden die Eifersucht proportional ansteigen müßte, zum Unmaß aller Dinge. Frauenraub ist jedoch viel seltener, als man annahm, schon weil er unweigerlich Krieg mit dem ganzen Stamm zur Folge haben müßte. Gewisse Sitten, die für Überreste des Frauenraubs gehalten wurden, wie Wegtragen und Über-die-Schwelle-Heben der Braut, sind, wie Frobenius gezeigt hat, magische Mittel bei Vaterrecht, um die junge Frau von ihrer Sippe abzulösen, damit sie nicht ihre eigenen Ahnen, sondern die ihres Mannes wiedergebäre.

Darwin schloß direkt auf die hypothetische Urhorde aus ebenso hypothetischen Zuständen bei den Menschenaffen, denn zu seiner Zeit wußte man noch nicht, daß Primaten in verschiedenen Gesellungsformen leben. Heute, wo im tropischen Urwald schon bald mehr beobachtende weiße Zoologen als beobachtete Gorillas sitzen, haben diese ihren alten Ruf als zähnefletschende Patriarchen mit Weibermonopol längst verloren. Sie leben nicht in streng patriarchalischen Familien, sind vielmehr entweder einzeln, häufiger verschiedenaltrige Männchen und Weibchen friedlich in kleinen Trupps lebend, gesehen worden. Mit und ohne Gorilla bleibt die Exogamie jedenfalls rätselhaft wie je.

S. Freud meint schließlich: »Einen einzigen Lichtblick wirft die psychoanalytische Erfahrung in dieses Dunkel.« Sie baut auf der alten Darwinschen Grundannahme der Eifersucht weiter, indem sie die Tabu-Angst, das Übertabuieren von Gegenständen, die starken Gefühlsschwankungen und Spannungen bei Primitiven mit Beobachtungen an psychisch Gestörten in Verbindung bringt, weshalb Freuds weltberühmten vier Abhandlungen »Totem und Tabu« auch den Untertitel tragen: »Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker.«

Es sei erlaubt, hier ganz allgemein zu bemerken, die Psychoanalyse neige vielleicht etwas stark dazu, Primitive nur als wildlebende Patienten zu betrachten und die ganze Magie, das Vertrauen auf die »Allmacht der Gedanken« als »hypertrophischen Narzißmus«. Nun leben aber die Naturvölker notorisch sehr gut mit Hilfe ihrer magischen Methoden, die Neurotiker mit ihren Neurosen schlecht, während der zivilisierte Normalmensch schon bei dem Versuch, die Mittel von Naturvölkern nachzuahmen, überhaupt kläglich verkommen müßte. In Zeiten, wo jeder Tag neue, bisher unbekannte Strömungen des Äthers mit verblüffenden organischen Wirkungen durch unsere Apparate zur Kenntnis bringt, so daß alle Wesen sich abwechselnd als Sender und Empfänger unsichtbarer Kräfte herausstellen, ist es doch, besonders bei der Fülle der Zeugnisse über Jagdzauber und Fernwirkung, nicht ohne weiteres abzulehnen, daß altertümlichere Menschenarten, in manchem gefühlsmäßig reicher belebt, weil in ihnen das Großhirn noch nicht wuchernd alles an sich gerissen und die Hirndrüsen verdrängt hat, mit diesen Strahlen aufeinander und die Umwelt in mancher, uns versagten, Weise zu wirken vermöchten. Hier liegt Trug im Schluß vom Neurotiker oder mit Dementia praecox Behafteten direkt auf Primitive, selbst wenn auch diese bereits degeneriert und heute nicht mehr ganz im Besitz von Vollmagie sein sollten. Es genügt nicht, beim Zivilisierten Hemmungen abzuräumen, die ausgewichtete Oberwelt, damit der »Wilde« übrig bleibe. Beim modernen Neurotiker ist ja das anders Lebendige längst drunter weggefault. Zauberformeln bei Vollmagie sind also nicht unbedingt das gleiche wie jener paranoide »Wortsalat«, mit dem so ein armer Halbirrer im kahlgetünchten, lebensleeren, seelisch ausgelaugten ummauerten Raum seinen Arzt anzuschnattern pflegt: »Ich, Großfürst Mephisto, werde Sie mit Blutrache behandeln lassen, wegen Orangutan-Repräsentanz« oder ähnlichen Bannformeln. (Zitiert nach Jung.)

Vielmehr »wandeln wir alle in Geheimnissen, sind von einer Atmosphäre umgeben, von der wir noch gar nicht wissen, was sich alles in ihr regt. So viel ist wohl gewiß, daß in besonderen Zuständen die Fühlfäden unsrer Seele über ihre körperlichen Grenzen hinausreichen können und ihr ein Vorgefühl, ja ein wirklicher Blick in die Zukunft gestattet ist«. Nicht autoritativ, weil er gerade von Goethe stammt, sei dieser Satz hier angeführt, denn aus den vielseitig gestimmten Aussprüchen jedes lang- und hellebigen Menschen läßt sich so ziemlich das Verschiedenste belegen, sondern weil es einfach nicht mehr möglich scheint, sich des Außerordentlichen angenehmer beiläufig bewußt zu zeigen.

In »Totem und Tabu« nimmt Freud nicht mehr, wie Darwin, alte Männchen, vielmehr in jedem Stamm einen einzigen Familienpatriarchen an, überwältigend durch Kraft und Autorität, beneidet und gefürchtet zugleich, der die heranwachsenden Söhne vertreibt. In vollem Gegensatz zu Darwin kehren diese vertriebenen Brüder später zurück und töten, was jedem einzelnen nie gelungen wäre, gemeinsam den gewalttätigen Urvater. »Daß sie den Getöteten auch verzehrten, ist für den kannibalischen Wilden selbstverständlich.« Nun hatten sie den Vater, der ihrem Macht- und Sexualanspruch so bös im Wege stand, zwar gehaßt, aber auch geliebt und bewundert. »Nachdem sie ihn beseitigt, ihren Haß befriedigt und ihren Wunsch nach Identifizierung mit ihm durchgesetzt hatten, mußten sie die, dabei überwältigten, zärtlichen Regungen zur Geltung bringen. Es geschah in der Form der Reue. Es entstand ein Schuldbewußtsein ... Der Tote wurde nun stärker, als der Lebendige gewesen.« Die Söhne sind jetzt »in der psychischen Situation des, aus den Psychoanalysen so wohlbekannten, nachträglichen Gehorsams. Sie widerriefen ihre Tat ... und verzichteten auf deren Früchte, indem sie sich die freigewordenen Frauen versagten«.

Diese Söhne in der »Urhorde« haben entschieden zuviel Dostojewski gelesen und dann zu lange über ihre »psychische Situation« im Kaffeehaus herumgeredet. Weiter wird erläutert, dieses Inzestverbot, durch welches sie alle zugleich auf die begehrten Frauen verzichtet hätten, sei aufgerichtet worden, um die neue Organisation zu retten. Diese habe sie ja stark gemacht; bei einem einsetzenden Kampf aller gegen alle um die Weibchen – denn jeder wollte im Grunde, wie der Vater, sämtliche für sich haben – wäre dieser »neue Bund« in die Brüche gegangen. Der Verzicht sei vielleicht erleichtert worden durch homosexuelle Betätigungen, wie sie sich in der Zeit der Vertreibung mochten eingestellt haben. Die Psychoanalyse übersieht hier, daß diese junge Bruderorganisation, gerade wegen des gemeinsamen Verzichtes, sofort zur Auflösung verurteilt wird eben durch die Exogamie. Sexualbindungen wirken sich nämlich bei Exogamie unter Primitiven in der überwältigenden Majorität matrilokal aus, fast auf der ganzen Welt. Der Mann nimmt ja nicht die Frau zu sich, sondern zieht in ihren Clan, lebt als Gast an dessen Rand. So müssen sich die Brüder entweder über alle möglichen Stämme verstreuen, was ihren Bund auflöst, oder sie bleiben bei dem Inzestverbot und der Homosexualität, also ohne Fortpflanzung, zu Hause. Dann kann sich aber jenes erschütternd ambivalente Urerlebnis: Vatermord, Fraß und Reue, auf keine Nachkommen forterben, kann nicht zum totemistischen System mit einem Tier als »Vaterersatz« werden und weiterwirkend nach Tausenden oder besser Zehntausenden von Jahren zum Priesterkönigtum mit ritueller Schlachtung, wie ja auch das hochverehrte und geschonte Totemtier bei feierlichem Sühne- und Erinnerungsmahl geschlachtet wird. Kurz, die dem Vaterkomplex und Urverbrechen anhaftende Ambivalenz könnte nicht die ungeheuern religiösen, sozialen, ethischen Umbildungen erleben, mit denen die Psychoanalyse sie betraut. Befremdlich ist ferner, daß diese ungeheure Ambivalenz in den späteren Generationen von Söhnen sich in jeder einzelnen an dem leiblichen Vater so gar nicht auswirkt, sondern latent bleiben soll. Der wirkliche »Vater« ist bei Naturvölkern meist überhaupt nicht gefühlsmäßig betont, man kann ihn schätzen oder nicht, mit ihm persönlich verkehren oder nicht, es besteht kein Blutgefühl; dieses nur mit der Mutter. Der Autor von »Totem und Tabu« meint ja auch selbst freimütig, er wisse überhaupt nicht, wo in seiner Hypothese die »großen Mütter« Platz finden könnten.

War Frazers mutig weiser Satz am Ende eines langen, reichen Weges schön, so hat Freud in seinem ergreifenden Alterswerk, abendlich leuchtend und erlöst, also »jenseits des Lustprinzips« einen noch schöneren geschrieben, voll überlegener Bescheidenheit: »... Nur daß man selten unparteiisch ist, wo es sich um letzte Dinge, die großen Probleme der Wissenschaft und des Lebens handelt. Ich glaube, ein jeder wird da von innerlich tief begründeten Vorurteilen beherrscht, denen er mit seiner Spekulation unwissentlich in die Hände arbeitet. Bei so guten Gründen zum Mißtrauen bleibt wohl nichts anderes als ein kühles Wohlwollen für die Ergebnisse des eigenen Denkens übrig.«

Die Psychoanalyse hat der Menschheit so viele weltgültige, gar nicht mehr wegzudenkende Einsichten geschenkt, daß es verstattet sein möge, sie gerade im Anschluß an die wunder-weisen Worte ihres großen Begründers auch einmal nicht allgemeingültig zu empfinden, dort nämlich, wo sie ganz offenbar eine späte, eigentümliche, in der Geschichte geradezu einmalige Seelenlage und Beschaffenheit in die menschliche »Urhorde« schlechthin zurückprojiziert und damit einen Vaterkomplex, wie er sich religiös gegen einen eifervollen Eingott und Herrn in manischem Wechsel von Aufständen und Unterwerfungen ambivalent entladen hat, einem allgemein völkerpsychologischen Problem als solchem zum Grunde legt.

Von Robert Briffault sind 1927 »The Mothers« erschienen in drei Bänden, jeder dick wie ein ausgewachsenes Missale. In diesem drei Kilo schweren Werk ist ein ungeheures Material nicht nur zusammengetragen, sondern auch ausgewertet; ein seltenes Zusammentreffen. Briffault erscheint hier als Kopernikus der Exogamie, indem er den Schwerpunkt alles Geschehens prinzipiell verlagert hat. Dadurch lösen sich komplizierteste Epizykel, sinnlos Retrogrades wird wie von selber zu klarem Geschehen. Durch ihn erscheint die Exogamie endgültig vom Vorurteil der Paternität befreit. Solange sie vom Manne ausgehen sollte – und ohne auch nur zu fragen, nahm alle Welt das an –, wirkten ihre Phänomene konfus, bockig, verkehrt. Besonders patriarchal verrannt nimmt sich hier der manische Vaterkomplex der Psychoanalytiker aus. Für diese gibt es Mütter nur als Sexualobjekte. Daß so ein Objekt schließlich auch ein Subjekt sein könnte, das dreinzureden hat, wird tief-naiv vergessen. Briffault beweist Exogamie aus dem tiefsten Wesen der Muttersippe heraus, als ihre Wirbelsäule, ohne die sie sich nicht aufrecht hätte halten können, so gehalten hat sie sich aber, denn sie existiert, zähestes, soziales Gebilde, heute noch; von einer »Urhorde« fehlt dagegen jede Spur, und ihr Dasein ist nicht einmal hypothetisch nötig zur Bildung einer primitiven Gesellschaft, für die Erklärung der Exogamie aber direkt hinderlich.

Briffault frug umgekehrt: wo ist Exogamie unentbehrlich, und wie konnte es überhaupt zur Bildung von Muttersippen kommen? Auch Bachofen war das Problem der großen Frauengefüge noch nicht aufgegangen, für ihn herrschte ja zuerst nur der weibliche Urstoff als solcher über den Mann, dann die Frau in der mutterrechtlichen, von ihr begründeten monogamen Familie. Alle übrigen Theorien aber gingen bei Betrachtung der Exogamie vom männlichen Sexualinstinkt aus. Wo die Männer Sexualpartner und Brüder zugleich wären, müßte ihre Rivalität und Autorität, müßten Unruhe und Machtbedürfnis eben zu männlicher Vorherrschaft führen.

Die Mütter als Basis der Gesellschaftsordnung erlauben daher keine Übergriffe heranwachsender Männchen gegen Clangenossinnen, schützen jüngere Schwestern vor älteren Brüdern, während ältere Schwestern mit der Autorität von Müttern betraut werden. Herangewachsene Männchen haben überhaupt die Gemeinschaft ehebaldigst zu verlassen, oder man verheiratet sie gleich selbst nach auswärts, wo sie dann, dem Schwiegermuttertabu unterworfen, im neuen Clan ihrer Gattinnen nur geduldete Außenseiter sind. Die Frauen bleiben dagegen untrennbar zusammen. Keine Tochter wird hergegeben, fremde Gatten sind Gäste, am Rand der Gemeinschaft gelegentlich Männerbünde bildend, frei schweifend, wie Geißelzellen um ruhende Eier. Nicht nur in den großen Muttersippen Sumatras, Nordindiens oder Indianisch-Amerikas, auch in mutterrechtlichen Teilen von Afrika ist das Blutband unter Frauen viel größer als sexuelle Bindung an den Mann. Selbst wo die Weiber ins Dorf des Gatten ziehen, laufen sie beim geringsten Anlaß wieder nach Hause. Autorität herrschender Mütter also erzwingt Exogamie und verteidigt ihre Organisation gegen die, nur gelegentlich erwünschten, Männcheninstinkte. An die sechzig enggedruckte Seiten in Briffaults Riesenwerk nimmt ungefähr die Aufzählung jener Völker und Stämme der fünf Weltteile ein, bei denen die Ehe matrilokal ist, die Exogamie also allein den Mann trifft, eben im Sinn der Frauensippe. Einfach Exogamie zu konstatieren, besagt ja wenig, wichtiger ist erst, wer zu wem ziehen, wer von wo weg muß. Eine weibliche Dauerverbindung wäre schon rein blutmäßig zerrissen, wenn die Söhne fremde Frauen hereinbrächten, die eignen Töchter aber wegzögen. Es würde sofort eine männliche Herde daraus, wo die weiblichen Instinkte atrophieren. Darum ist die Exogamie in so vielen primitiven Gesellschaften essentiell für die Bewahrung ihres mutterrechtlichen Charakters. Der Mann, weniger konservativ, neigt auch von Natur aus leichter zum Verlassen des Clans. Er ist kein Heimmacher, eher schweifender Abenteurer. Wo Frauen und Kinder längst in Hütten leben, schlafen die Männer oft noch unter Bäumen im Freien. Briffault kommt somit gerade zu dem umgekehrten Schluß wie Freud. Nicht alte Männchen, sondern die Autorität alter Weibchen erzwingt Exogamie, indem sie die Söhne von den jungen Töchtern wegtreibt. Das soll sich biologisch seltsam auswirken, indem bei Mutterfolge die gebornen Kinder tatsächlich alle mehr den Müttern ähneln, weil bei ihnen der Gleichheitstypus der Umgebung verstärkend wirkt, bei Vaterrecht, mit dominant ewig vorne dran in die Augen fallenden Männern gleichen Blutes, ähneln die Kinder wieder diesen, ihnen gegenüber kommen die wechselnden fremden Frauen eben nie dazu, den eigenen Typus zu fixieren.

Briffaults Untersuchungen aber greifen noch weiter, und so wird ihm aufs neue zur Frage, was den meisten kein Problem scheint: Wie kann eine größere menschliche Gruppe sich bilden? Von Cicero bis Westermarck lautete die Antwort: durch ein Agglomerat von Familien. Wenn aber auch nichts leichter scheint, als viele Einzelfamilien zusammen zu bringen, sie ihren Familiencharakter bewahren lassen unter den neuen Bedingungen, da liegt die Schwierigkeit. Bei einer noch nicht sehr konsolidierten Menschheit ohne festsitzende, soziale Instinkte, die ja abgeirrte oder, wenn man will, umgebildete Mutterinstinkte sind, sekundär auf die Männchen übertragen, mußte sich dieses Familienagglomerat bald unter der Initiative ungebändigter männlicher Sexualimpulse eben in männliche Herden oder Horden auflösen, jedenfalls eine ganz andere Struktur erhalten und das hat sich ja auch tatsächlich oft genug ereignet.

Wo immer im Tierreich Familien in größerer Zahl vorübergehend zusammenkommen, tendiert die Einheit »Familie« dazu, durch Promiscuität zerstört zu werden, und zwar durch die Männchen; so ist es sogar bei Vögeln, wenn sie auch nur kurze Zeit auf großen Niststellen zusammenkommen. Gruppenbildung schafft Bedingungen jenen entgegengesetzt, auf denen Familienbildung beruht. Die biologische Familie ist Manifestation der mütterlichen Instinkte des Weibchens, des Schützens, Hegens, Bewahrens, so wie auch das Weibchen selbständig sich zum Gebären zurückzieht und die Höhle wählt, in die ihr das Männchen manchmal folgt, öfter nicht, und nur so lange, als sein Brunsttrieb noch nicht erloschen ist. Das Wählen des Gebärplatzes, Säugen und Aufzucht, Erziehung des Schwachen, Hilflosen, diese Instinkte bilden die weibliche Familie. Wenn sie in eine ganz anders konstituierte Gruppe verwandelt wird, nämlich in eine Gruppe von Familien mit dauernder Anwesenheit von Männchen, so ist diese neue Gruppierung nicht mehr der Ausdruck jener formativen und regulativen Kräfte, die eine Familienorganisation hervorgebracht und erhalten haben: der mütterlichen. Ihr Typus muß sich ändern, denn die ganz entgegengesetzten männlichen Instinkte kommen hinein; es entsteht die Herde oder männliche Horde. Die weibliche Einflußlinie wäre zerstört, mit ihr aber auch jene gerade im Anfangsstadium der Entwicklung so wichtige Voraussetzung für den Aufbau der sozialen Menschengemeinschaft.

Alles, was höhere menschliche Entwicklung voraussetzt, wie die Sprache, ist an größere Gruppen geknüpft. Um in diesen die besänftigenden, aufbauenden, ordnenden, eminent sozialen Mutterinstinkte zu verankern, ohne die ihr keine Weiterentwicklung möglich gewesen wäre, mußte den herangewachsenen Söhnen, eben durch Exogamie, eine Stellung außerhalb des eigentlichen Muttergefüges ausgewiesen werden. Ein seltsames Arrangement, aber jenes, das die werdende Menschheit faktisch angewendet hat. Natürlich nicht durch Nachdenken, mit dem Ziel es einmal so herrlich weit zu bringen wie wir, vielmehr soll, wie Briffault annimmt, Eifersucht der Mutter auf die Töchter die unmittelbare Ursache gewesen sein. Sie treibt die Kinder auseinander, die Brüder von den Schwestern weg, und damit indirekt aus der Sippe zu andern Weibchen, wo sie den Sexualverkehr nicht sieht, hauptsächlich den der Söhne nicht sieht, denn Mutterliebe ist nach Briffault Eigentumsinstinkt. Auch Darwin will Eifersucht auf Geschwisterinzest unter ihren Augen schon bei Affenmüttern beobachtet haben. In »The Mothers« wird sehr interessant erläutert, wie jede höhere Entwicklung von der Dauer mütterlichen Einflusses abhängt; in der Herde, wo er gering ist, bleibt auch der geistige und Charakterstandard gleichmäßig gering. Dagegen genießen die Raubtiere, ihrer verlängerten Unreife wegen, die nobelste Kinderstube, lernen früh Freund und Feind unterscheiden, üben Rücksicht und gutes Benehmen gegeneinander, Vielfalt der Reaktionen, und bringen es daher in hohem Maß zu Individualität, unterschiedlicher und mannigfacher Art der Beziehungen, wie die Herde sie nie entwickelt, trotz unbegrenzter Zahl.

Zu Basis und Band jeder Tier- und Menschengruppe ihrerseits bringt es das Weibchen, weil der Mann nach dem Geschlechtsakt nichts mehr zu tun hat, da aber fängt die biologische Karriere der Frau erst an, die Verwandlung in ein ganz neues Wesen, die ungeheure körperliche und seelische Anpassung an die Mutterschaft. So wird sie mit dem Kind zugleich wiedergeboren als Erzieherin der Menschheit. Die werdende weibliche Großfamilie aber war von zweierlei Mutterinstinkt beherrscht und gebildet, erstens jenem der Abwehr des gesättigten graviden Weibchens, das in der Tierwelt das Männchen um keinen Preis mehr an sich heranläßt, in der menschlichen Mutterfamilie aber sich dann zutiefst gegen männliche Herrschaft richtet. Dieser Instinkt schafft einen Typ, der nicht der Sexualität unmittelbar unterliegt, daher dem Mann überlegen werden muß. Der zweite Mutterinstinkt der weiblichen Gruppe war die Eifersucht auf Sexualbetätigung des Sohnes und trieb diesen zur Exogamie.

 

Abgesehen davon, daß Briffault vielleicht allzuwenig auch andere soziale Gesellungsformen, etwa die kameradschaftliche und homosexuelle Hordenbildung der Männer, gelten läßt, die unabhängig von den großen Muttersippen aus anderer Erosbindung mögen entstanden sein, verlangt auch seine gewiß richtige, ja geniale Erklärung der Exogamie aus dem Frauenclan tiefere Ergänzung. Möge sie hier versucht werden.

»Mit dem ersten Verbot kommt die erste Neurose; woher aber kommt das erste Verbot?« Wer darf der großen Mutter etwas verbieten? Wozu braucht sie eifersüchtig zu werden? Was kann die mächtige, fraglos und mystisch verehrte Herrin im Clan, falls der Sinn ihr danach steht, hindern, den Sohn nach der Pubertät wieder im eignen Schoß aufzunehmen, wohin es ihn so mächtig zieht, ehe er nach Schwestern als ersten Ersatzobjekten tastet?

Das reicht in urweltlichen Bezirk. In etwas, noch tiefer elementar, als selbst der Sexualinstinkt. Ja, das gibt's. Es ist das, was Geschlechtstrieb erstmalig ins Dasein warf, denn: am Anfang war die Frau. Sie hat aus sich parthenogenetisch die Aktivität abgespalten und, zur Geißelzelle gestaltet, von der eigenen Wesenheit abgelöst: den Mann. Mehr noch als bloß abgelöst, sie hat ihn unter Wehen ausgetrieben. Er ist ihr Wurf. Umso großartiger gelungen als Geburt, je weiter sie das Geborene aus sich hinauszutreiben vermag. Unter immer größeren Wehen. Erst war es eine Geißelzelle, dann ein phallusartiges Gebilde, schließlich hing ein ganzer kleiner Mann am Phallus, und die weiterwirkende Uraktivität schuf sich aus ihm und über ihn weg eine andere neue männliche Welt. Gewiß treibt sie, rein physiologisch, weibliche Geburten genau so aus, damit ist aber der Drang zu Ende; die Töchter, bis zu einem gewissen Grade Wiederholung ihrer selbst, bleiben oft lange um sie, verstärken verjüngt den weiblichen Stoff. Der Sohn aber erscheint ihr wohlgeboren nur in dem Maße, als er sich von ihr – in jedem Sinn – entfernt, übersteigernd jene Aktivität, die sie ganz am Grund der Quelle zu seinem Bild gestaltet hat.

Hier liegt der Urgefühlskonflikt des Muttertums. Wie jede Tragik unlöslich in ihrer Ambivalenz, jenseits schon von Liebe und Haß, aufgebrochen zu jener ungeheuren Spaltung des Gefühls, daß sie den Sohn zugleich haben und verlieren will. Als »weiße Mutter« will sie ihn bergend schützen, als »schwarze Mutter« treibt sie den Wehrlosen aus. Ob das Tierweibchen die Nabelschnur durchbeißt, das arme australische Weib, wachend und fastend, von sich weg den Novizen durch die Pubertätsriten drängt, die Herrin der Frauensippe das Gesetz der Exogamie erläßt, Thetis dem Achill selber die Goldrüstung zum herrlichen Untergang von den Göttern herab bringt – es sind die Taten der »schwarzen Mutter« mit dem weißen, tränenüberstürzten Gesicht.

Doch auch die Geburten können ihrerseits der Gebärerin ambivalent gegenübertreten. Immer wieder im Leben jedes einzelnen, wie ganzer Rassen kommt der Moment, wo Söhne wie Töchter von sich aus Ablösung in irgendeiner Form erstreben; Töchter, weil ja auch sie von der Uraktivität haben, das Weibliche von sich aus variabel und neuer Ausdrucksformen so fähig wie begierig ist. Diese Seelenlage bleibt stets einer selbstherrlich-heroischen Phase vorbehalten, involviert sie doch die Ablösung von der zauberischen Muttermacht, dieser zutiefst sakralen Bindung weit über Leibliches hinaus. Es ist die große Schicksalsstelle der Rassen wie des einzelnen, wo die magische Nabelschnur reißt. Dieser doppelte Trieb: ins große Hinaus und ins große Zurück, nach außen und nach innen leben, Entfalten und Einsammeln, kehrt ja irgendwie auf allen Stufen als Extravertierung und Introversion: »zu den Müttern hinabsteigen«, wieder; von seiner richtigen Rhythmisierung hängt ab, wie weit und wie tief ein Mensch es bringt.

Wo die magische Nabelschnur zerrissen ist, da beginnt das Reich der Söhne und Töchter. Nicht daß diese mit der Zeit ihrerseits alt würden und damit alles wäre wie früher. Es ist da ein anderer Typus entstanden. In der neuen Seelenschicht vereint sich bei gleicher Rasse diese frische junge Zweiheit nicht selten zu Bruder-Schwesterreichen, ideal symbolisiert im dynastischen Inzest des alten Ägypten. »Die Zwei«, das Doppelsternsystem der herrschenden Herzgeschwister, mit leichtem, magischem Übergewicht des weiblichen Teils. Ein Zwitterreich noch! Beim Mann hat sich die uterine Bindung um eine Generation nach vorwärts verschoben, von der Mutter auf die Schwester, für die Frau liegt der menschliche Wert des Mannes nur in der Ehre gleichen Mutterschoßes, so verschmilzt sie seelisch ausschließlich mit dem Bruder. In Kulturen, wo hingegen bis auf den heutigen Tag die magische Nabelschnur nie völlig zerrissen ist, wie in weiten Teilen Afrikas, bestehen Kompromißbildungen fort: uralte Vormachtstellung einer Königinmutter, ein stark bevormundeter Königsohn und Erbfolge durch des Königs Schwestern.

Doch kann es sich auch begeben, daß unabhängig gewachsene junge Sohnes- und Töchterreiche verschiedensten Blutes sich zu tödlichem Kampf treffen. So zitterten drei Kontinente beim feindlichen Aufprall von Griechen und Amazonen.

Mögen sie jetzt herangaloppieren!


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