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Naïr

Wer heute als Fremder in Portugal bei Patrizierfamilien von kauffahrender Tradition zu Gast ist, dem kann es widerfahren, daß er die Tochter oder sonst eine Dame des Hauses mit einem altererbten Vornamen gerufen hört, der sein Ohr zwischen all den romanischen Wellenlängen in nicht näher zu fassender Weise entzückt.

Er wird ihn gleich nachsprechen, bis auf den Grund ausschmecken wollen, aber der Klang zerschmilzt nicht, drängt sich auch die Zunge noch so schmeichlerisch zwischen seinen aufreizenden Diphtong. Er bleibt fremdartig und ganz.

Naïr. Was mag das sein? Ein ernster Edelstein, ein tropischer Wohlgeruch oder eine neue Art von feinem Eigensinn?

Naïr oder Nayar heißt die aristokratische Kaste der Tamilen an der Malabarküste, Indiens südlichem Streif, im toten Winkel des Weltverkehrs gelegen. Die Tamilen, eine der schönsten indischen Rassen, waren bereits vor der arischen Einwanderungswelle hier zu Hause, die Adelstradition ihrer obersten Schicht, der Naïr, ist uralt, und solange diese Tradition durch die Jahrtausende zurückreicht, sollen unter ihnen nie andere als Liebesehen vorgekommen sein, von nichts getragen als reinem Gefühl, völlig unvermischt mit ökonomischen oder streberhaften Einflüssen. Begreiflicherweise sind sie deshalb seit jeher und von allen Seiten ethisch angepöbelt worden. Es hieß, so etwas sei eben keine richtige Heirat und zähle nicht mit. Erklärlich von den Leuten! Ganz unrecht hatten sie nicht damit, bedenkt man, daß Ehe eine wesentlich juristisch geregelte, soziale und ökonomische Institution ist, die fast nirgends den Menschen aus freier Wahl in den Sinn gekommen war, vielmehr stets zu einem bestimmten Moment ihrer Tradition oder Geschichte durch einen »Stifter« mußte anbefohlen werden.

Von Regierungsvertretern und Kommissionen mit Fragen belästigt, erklärten die Naïr, ihre Eheschließung sei die »tali-kettu«-Zeremonie: das Binden des Tali im neunten oder elften Lebensjahr. Doch wurde ihnen nachgewiesen, dies sei nur ein Pubertäts-, kein Eheritus, er gebe die Eingeweihte nicht einem bestimmten Partner, sondern dem Sexualleben als solchem frei. Als Zeichen dieser Freiheit wird ihr ein durchbohrtes Goldblättchen an einem Faden um den Hals gehängt, was auch bei andern Dravida-Rassen Brauch ist. Es zeigt symbolisch an, daß dem Liebesverkehr mit der jungen Tali-Trägerin kein Hindernis mehr im Wege steht. Das Hindernis selbst entfernt ein Fremder, der den »Gott« vertritt, ein Brahmanenpriester oder sonst Geweihter und als solcher gefeit gegen das böse Zauberblut des Hymenrisses; wer immer aber es sein möge, gewinnt dadurch keinerlei weiteres Anrecht, verliert sogar, was er als möglicher Lebenspartner vorher besaß. Sein Dienst ist durchaus einmalig, die Annäherung nicht wiederholbar. Der Verlobte oder Mann der eigentlichen Wahl wird also kaum jemals ausersehen werden zu dieser, übrigens für ganz mechanisch erachteten Operation; unerläßlich zwar, doch nicht im geringsten gefühlsbetont.

Nach dem Binden des tali ist die kleine Naïr-Dame für den Rest ihres Lebens frei, zu wählen, wen sie will, und für so lange, als sie will. Ein Wort, nach Wunsch und Belieben eines der beiden Partner, löst die Verbindung jederzeit. Auch simultane Gatten kann die junge Frau besitzen, steht ihr der Sinn danach, nur ebenbürtig müssen sie sein. Beziehung zu einem Mann niedrigerer Kaste ist das einzige, was als »Ehebruch« und diffamierend gilt, gleichwie es schmachvoll für einen Nayar wäre, mit unadeligen Frauen zu schlafen. Ökonomische oder privatrechtliche Hindernisse gibt es dagegen nicht. Weder Mann noch Frau können an Geld oder Ansehen durch Liebe das geringste gewinnen oder verlieren. Sie bleibt auf alle Fälle in ihrem Erbheim, in das die Kinder, ohne als mit dem leiblichen Vater verwandt zu gelten, als Eigentum der Mutter hineingeboren werden, erhalten und erzogen von ihren privaten oder der Sippe Mitteln. Er ist im allerstrengsten Sinn Gast in diesem Haus, wohl Gatte, aber nie Familienvater, nimmt keine Mahlzeit dort, wo ihn ja auch die Pflicht des Unterhalts nicht trifft. Lediglich kleine Aufmerksamkeiten, ein Beitrag zum Nadelgeld, sind für ihn das übliche, doch durchaus nicht Gesetz. Größerer Reichtum seiner Frau oder Frauen kann somit für einen Nayar weder von parasitischem Vorteil noch demütigend sein. Ist er hingegen der wohlhabendere Teil, so ziehen Frauen und Kinder keinesfalls daraus Nutzen oder Erbe, denn sein Vermögen hört nie auf, der eigenen uterinen Muttersippe zu gehören, also den Schwestern oder Schwesterkindern, an die es nach seinem Tode fällt.

K. Kennan Nayar (das Wort bedeutet Lord) sagt über die Sitten seiner Kaste: »Heirat unter den Naïr bleibt wahrhaft rein und einfach ... Sie ist Ehe um der Ehe allein willen, nicht zur Verewigung der Familie gedacht, vielmehr eine soziale Einrichtung zur friedlichen Stillung des blindesten menschlichen Dranges. Solch eine Einrichtung ist also erwiesenermaßen möglich ohne die geringste Störung des Zivilrechts, das die erbschaftliche Übertragung von Familienwerten regelt.«

Somit durfte hier die Liebe alle Zeit, völlig unbeschwert, wie nirgends sonst, ganz nach eigenen Gesetzen leben, nur in jene steigernden Konflikte verspannt, die aus der Dämonie des Erotischen selber stammen. Das Resultat waren Wesen, grad von der Quelle an, im reinen Rauschen ihres Blutes, ahnungslos, daß es so etwas geben könne, wie das Brot eines Mannes essen, ganz frei vom Rattenschmutz irgendwelcher Abhängigkeit, lebenslang geborgen, unvergröbert, unverletzt, in der erdgöttlichen Matrix ihrer unverlierbaren Frauenheimat, die weit mehr war als bloßes Heim, Wesen der feingezogenen Unterscheidungen, jede Pore erfüllt mit jener, »shakti« genannten, Bezauberungsgabe, der »unbeschreiblichen Emanation der Frau«, wie Tagore es nennt.

Als die Portugiesen zu ihrer großen Zeit als kühne Schweifer am seligen Saum der Malabarküste mit ihren Handelsschiffen landeten, betroffen vom Lebensrang seiner Bewohner und anfangs unsicher, wie hier vorzugehen sei, wurden sie, sollte man seinen Ohren trauen, von diesen exklusiven Herrschaften förmlich angefleht, ihren Bräuten oder jungen Töchtern die Blume abzunehmen, da sie der Heirat im Wege sei. – Worauf solch ein Fremder aufs großartigste bewirtet, geehrt und beschenkt wurde. Vielleicht aber gelang ihm beim Tafeln mit seinen exotischen Gastgebern das innere Feixen nicht so breit, wie er zuerst gedacht: als ob sein Selbstgefühl bei diesem Handel doch irgendwie zu kurz gekommen wäre. Überlisten, Sich-Heranpürschen, Verschlagenheit, Überwältigung hatten eben gefehlt. Wo war hier jener Schaden an Leib und Seele geblieben, ohne dessen Zufügung ein Don-Juaneskes Unternehmen den inneren Sinn und Reiz verliert? Statt Tränen, Entsetzen, gestammelten Klagen um Unersetzliches, nur ein flüchtiger, freundlicher Dank. Schien das denn möglich: so einem samtäugigen Mädchenkind alles getan zu haben und ihr nichts zu sein? Denn darüber hatte man den Fremden nicht im Zweifel gelassen: eine zweite Nacht, etwas wie ein Wiederholungsversuch, wäre sein sicherer Tod. Also war man kaum andres gewesen als der Domestique am Wagenschlag oder, freundlicher gesprochen, einer, der gönnend andern die Türe öffnet zu froher Fahrt.

Heimgekehrt von gelungenen Reisen voller Abenteuer und Gewinn, wird der portugiesische Handelsmann bei behaglichem Bramarbasieren nicht eben diese Seite des skurrilen Erlebnisses betont haben, das, was Wehmut und Verzicht daran war. Was verschlug denn auch so einem Weltfahrer mit seiner guten Ladung an Elfenbein und Kopra diese oder jene Episode! Doch wenn ihm, es mochte Jahre später sein, ein Kind geboren wurde, ein Mädchen gar, dann wollte sich im ganzen christlichen Kalender mit allen lieben Heiligen schlecht und recht kein Name finden, der den Vater so aus tiefster Seele anzumuten schien.

Schließlich, wohl entgegen dem gekränkten Einspruch einer Gattin, gar entgegen priesterlicher Mahnung, hieß das Mädchenkind: Naïr.


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