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Nordamerika

Das indianische Antlitz des Mutterrechts ist immer selbstbewußt, starkknochig, doch nie herrscherisch-hart gewesen, mit einer Ausnahme, als es sich vom Mond ab- und der gewaltsamen Sonne zukehrte: bei den Natchez.

Es blieb das erfahrene Gesicht der alten Frau, die nie stirbt, und war zu Hause von Alaska bis nach Mexiko hinab, der pazifischen wie der atlantischen Küste entlang und durch die ungeheure Mitte der Prärie hin, voll Büffelherden im wehenden blauen Gras, dort, wo jetzt ein Schwarm grellackierter Gespensterheuschrecken aus Metall von Horizont zu Horizont in ewigen Weizen beißt und ratternde Fordflöhe auf schnurgeraden Kreidestrichen sich im rechten Winkel kreuzen.

Gewiß hat es auch patriarchalische Indianerstämme gegeben, im großen ganzen aber ist Nordamerika ein überwiegend mutterrechtlich-demokratischer Kontinent, und dies so stark, daß, wer einwandert, langsam der Ahnenseele seines Bodens auch körperlich verfällt. Nach dem bekannten Experiment ergeben tausend, bereits in der dritten Generation angesiedelte Weiße verschiedenster Rasse, übereinander photographiert, das Bild eines – Indianers. Soweit die Tradition reicht, ist es auch wegen dieses mütterlich-demokratischen Urgrunds nie und nirgends zu einer echten Monarchie gekommen, nur beauftragte Häuptlinge, lokale Vorbilder des Präsidenten der Union, wurden im Fall der Gefahr vorübergehend mit besonderer Macht belehnt.

Für den Durchschnitt indianischen Mutterrechts gilt ungefähr, was Père Lafiteau von den fünf großen Stämmen des Irokesenbundes im Osten sagt: »In den Frauen ruht alle wirkliche Autorität des Landes. Die Felder und alle Erträge gehören ihnen, sie sind die Seele der Ratsversammlungen, die Herren über Krieg und Frieden, sie verwahren den Fiskus oder öffentlichen Schatz: sie sind es, denen man die Gefangenen übergibt, sie begründen die Ehen, ihrer Herrschaft unterstehen die Kinder, und ihr Blut bestimmt die Erbfolgeordnung.« Über den Durchschnitt streng erging es nur gerade bei einigen dieser Stämme den unverheirateten jungen Männern in sexueller Hinsicht. Sie wurden von den Mädchen des eignen Clans abgesperrt und von ihren Müttern exogam in einen fremden verheiratet, meist an weit ältere Frauen. Dieses typische Symptom für Mutterrecht entstammt nicht durchaus einseitigem Egoismus, weil ja die Jünglinge dieser Gesellschaftsordnung lange an die Mutterimago fixiert bleiben; ihre späteren Ehepartnerinnen – Indianer heiraten viele Male – wählen sie dann aus beliebigen Altersklassen völlig frei. Absperrung von jungen Mädchen der eigenen Sippe aber dient dem Gesetz der Exogamie, die wieder ganz andrer Wurzel entspringt.

So sehr überwiegt bei Indianern die Bedeutung weiblicher Erbmasse, daß die Kayugas, im XVI. Jahrhundert, fast aufgerieben durch ewige Kriege, die Mohawks ersuchen ließen, ihnen Männer für ihre Gattinnen zu schicken, damit ihr Stamm nicht verlösche. Biologisch hat das manches für sich. Bei Vaterrecht wären die Kayugas, um nicht auszusterben, umgekehrt nach fremden Frauen aus gewesen; ihnen jedoch galt als alleiniger Rasseträger das weibliche Blut.

Urbild matriarchalischen indianischen Gemeinlebens sind vielleicht am ehesten die Senekas, der Hauptstamm der Irokesen. Sie bewohnten vor Ankunft der Europäer von Frauen erbaute Langhäuser; rechts und links lagen abgeteilte Schlafräume, in der Mitte der Eßsaal mit der Feuerstelle. In dieses 60 bis 100 Fuß lange Mutterhaus, das hodensote, wurden Männer fremder Clans zwar als Gatten aufgenommen, doch regierten die Frauen, überwachten und verteilten die Vorräte, und »wehe dem glücklosen Mann oder Liebhaber, der verabsäumt hätte, seinen Anteil Lebensmittel beizusteuern. Mochte er noch so viele Kinder gezeugt, noch so viel privaten Besitz im Hause haben, jeden Moment konnte er dann gewärtig sein, auf Befehl seine Decke zu nehmen und abzuziehen. Ungehorsam galt weder für ratsam noch für bekömmlich. Falls nicht im letzten Augenblick noch eine alte Tante oder Großmutter zu seinen Gunsten intervenierte, hieß es Umschau halten nach anderer Frau in anderem Clan«. Die Scheidungszeremonie selbst bestand lediglich darin, dem Mann sein Bettzeug vor die Tür zu setzen.

Doch war auch er zu gehen völlig frei, tat es oft, fast immer bei Delawaren und Irokesen, sobald die Frau gravid wurde, oder während der langen Stillungsperiode, um es bei der nächsten Gattin ebenso zu machen. Über die meisten befreundeten Stämme hin gab es demnach lauter Halbbrüder und Halbschwestern verstreut, die einander als solche gar nicht kannten, ruhig heirateten, waren sie doch nach Mutterrecht nicht miteinander verwandt.

Auch Polygamie und Polyandrie herrschten vielfach als Rest uralter brüderlich-schwesterlicher Gruppenehe, die dem Mann alle Schwestern seiner Frau oder der Frau alle Brüder ihres Mannes mit zum Sexualverkehr gab, so bei den Senekas und andern Irokesen, den Denè in Alaska, den Kiowas, Mandan, Omahas, auch den Sacks und Foxes am Mississippi. Solches war Brauch, doch niemals Zwang. In Vancouver erhielt der Gatte das Jagdrecht nur durch seine Frau, »nach der Scheidung fiel es an sie zurück und bildete ihre Mitgift für die nächste Ehe«. Sexuelle Beschränkungen gab es, wie schon Vater Theodat jammert, außer dem Gesetz der Exogamie fast keine: »Die jungen Männer haben Freiheit, sich dem Bösen hinzugeben, sobald sie dessen fähig sind, und die jungen Mädchen gleichfalls, sogar Vater und Mutter dienen als Kuppler für die Töchter. Bei Nacht laufen die Mädchen und Frauen von einer Schlafstelle zur andern, die jungen Männer tun das gleiche und nehmen sich ihr Vergnügen, wo sie es finden, doch ohne jede Gewalt; sie vertrauen ausschließlich auf den guten Willen der Frauen. Der Gatte tut dasselbe in bezug auf die nächste Nachbarin, und die Frau in bezug auf den nächsten männlichen Nachbarn. Von Eifersucht ist dieserhalb nichts an ihnen zu vermerken, und sie empfinden darob weder Scham noch Schande.« Diese spezielle Schilderung gilt den auch politisch vollkommen matriarchalen Huronen (Wyandots).

Die Neigung der Indianer, während der Gravidität ihrer Frauen einfach wegzuziehen, bewog diese naturgemäß zu häufiger Schwangerschaftsunterbrechung. Auch die jungen Mädchen, besonders bei den frohen Stämmen der Ebene, Creeks, Cherokesen und andern, abortierten geschickt, sicher und fast ausnahmslos, stieg doch ihr erotischer Wert mit der Anzahl der Geliebten. Diese voreheliche Karriere mit vorzüglichen Heiratschancen sollte keiner vorzeitigen Störung zum Zufallsopfer fallen; Naturvölkern erscheint ja »Keuschheit« oder »Jungfräulichkeit« bei Erwachsenen eher in der Bedeutung von Schwachsinn, der mitleidig belächelt wird. In den Muttergesellschaften führt das freie Verfügungsrecht über den eignen Körper zu einer guten Beherrschung seiner Gesetze. Afrikanerinnen sind besonders berühmt für natürliche antikonzeptionelle Methoden durch frühgeübte Muskelkontraktion, während bei extrem vaterrechtlichen Völkern, wo manchmal erst das dritte Kind am Leben bleiben darf, die geschlechtlich verkümmerten und unwissenden Frauen alle Qualen der Gravidität und Geburt vergeblich zu leiden haben. Auf einer Salomonsinsel müssen alle eignen Neugebornen auf Befehl der Männer lebend begraben werden, und man importiert, um die Schererei der Aufzucht zu ersparen, von auswärts ältere Kinder.

Die Creeks hatten auch weibliche Häuptlinge, wie nicht wenige andre Stämme, so die Narraganset auf Rhode Island, die zu den kanadischen Algonkin gehörigen Potavatami, die Winnebagos vom Jägerstamm der Sioux. Gewiß im ganzen gesehen eine starke Minderheit. Das ist vielfach gegen die praktische Auswirkung des Matriarchats eingewendet worden. Wohl mit Unrecht. Wo der Akzent auf magischen Fähigkeiten liegt, beordert ein weiblicher Priesterclan eben den seelisch abhängigen Jäger und Krieger, der trotzdem im Physischen überaus kühn und tapfer sein kann, zum äußeren Dienst; dort, wo die Frauen sich nicht vorwiegend priesterlich betätigen, wie bei den zentralasiatischen Nomaden, führen sie auch vielfach persönlich das Heer. Nun ist aber gerade im demokratischen Amerika der Häuptling meist nur primus inter pares, erreicht nirgends eine Macht, die ihm, wenn nötig, nicht leicht wieder könnte entzogen werden. Von der Bedeutung indianischer Priesterinnen, Prophetinnen, Zauberärztinnen, auf der Prärie und bei primitiven Stämmen mehr noch als bei Ackerbauern, künden hingegen außer Heldengesängen und Kultbräuchen auch viele Bekehrungsberichte: »Sie haben große Ehrfurcht vor diesen alten Hexen, und obwohl sie nur Unsinn reden, folgen die Männer ihren Eingebungen, und diese Frauen sind die Herrinnen.« »Wie viele von ihnen mußten allein die guten Patres vom Missionshaus des heiligen Franz, dem heutigen San Franzisko, verbrennen, ehe diese Heiden herangereift waren zur Religion der Liebe.«

Der Drang nach sexueller Abwechslung lag offenbar im starken indianischen Temperament, gefördert wurde er durch die Bedeutungslosigkeit des Vaters für den Mutterclan, den ewiggleichen, aus dem sich zu eigener Familiengründung nie junge Paare ablösten. War die Ehe von Dauer, so verlor der Mann sogar bisweilen seinen Namen, wie bei den Creeks, wurde nur »Vater des soundso« genannt, also nach seinem Kind, nicht das Kind nach ihm – bei Matriarchat ein nicht seltener Brauch, etwa in Patagonien oder dem alten Arabien, bei Kantabrern und Lokrern. Bei den Alëuten des russischen Amerika, jenen, die auch ihre Mütter nie lange allein lassen, nimmt der Gatte bei der Eheschließung sogar den Namen der Gattin an. (Holmberg.)

Bei den Tlinkit in Alaska, den Navachos, Ojibways, Cherokesen, Arapahos, Dakotastämmen, um nur einige zu nennen, verkündet ungeheures Getöse das Herannahen der Schwiegermutter. Alles schreit und benützt Schwirrhölzer, um den Schwiegersohn zu warnen vor ihr, die in der Navachosprache »dojischini« heißt: »sie, die ich nicht sehen darf«. Übertretung dieses Verbotes soll je nachdem Erblindung, Tod, Selbstmord, Sterilität bescheren oder noch wüsteren Jammer ungeahnter Art. Ein Australneger starb schon fast vor Schreck, weil der Schatten seiner Schwiegermutter, während er schlief, auf seine Füße gefallen war. In Melanesien meidet ein Mann den Strand, solange ihre Fußspur noch nicht vom Meer verspült ist, in Neu-England geht er ihrer Person meilenweit aus dem Weg. Während ein Missionar in Neu-Guinea Schule hielt, fiel ein sechsjähriger kleiner Bub plötzlich wie ein Klotz Holz unter den Tisch, weil die Schwiegermutter seines großen Bruders soeben am Hause vorüberging. Für Reisende durch Australien, Afrika, Melanesien, Amerika wird dieses Tabu zu einer unversieglichen Quelle der Erheiterung.

»Vielleicht der ergötzlichste Anblick meines Lebens,« schreibt schmunzelnd Captain Bourke, »war ein verzweifelter Chiricahua-Apache, Ka-e-tenny genannt, berühmt als verwegenster und mutigster Mann seines Volkes, als er der Begegnung mit der Schwiegermutter zu entrinnen suchte. An Steine geklammert, das Gesicht verborgen, hing er an exponierter Stelle und wäre zerschmettert worden, hätten sie sich gelöst.« Frau und Schwiegermutter hingegen trifft bei matrilokaler Ehe keinerlei Beschränkung im Verkehr mit Gliedern des angeheirateten Clans.

Dieses Tabu schien rätselhaft eingeboren, und nie wurde sein Sinn bisher befriedigend erklärt. Warum nicht einfach jene fragen, die es halten? denkt der Laie hier erstaunt. Weil echte Bräuche Taten des Blutes sind, zu tief natürlich, um bis in die Fläche der Begründung heraufzureichen. Das macht ja die Erforschung von Naturvölkern so schwer. »Diese Menschen sind durchaus unfähig, auch nur ihre Sitten zu schildern (so selbstverständlich sind sie ihnen), geschweige denn sie zu erklären, also ihre Anschauung in Worte zu kleiden, ihre Empfindung anders als in unbewußten Gebräuchen zum Ausdruck zu bringen.« (Frobenius.) Lord Avebury meinte, dies müsse mit »Frauenraub« zusammenhängen, eine seinerzeit beliebte Erklärung für alles zwischen Himmel und Erde; die Schwiegermutter solle gemieden werden, denn man habe ihr die Tochter gewaltsam weggenommen, entführt. Abgesehen davon, daß bei gewaltsamer Entführung doch weit eher die Brüder oder der Vater als zu Meidende in Betracht kämen, hat I. B. Tylor auch gezeigt, daß dieses Tabu am häufigsten wie strengsten in der matrilokalen Ehe gilt, wo die Tochter das Heim gar nicht verläßt, bei Völkern mit dem weit späteren »Frauenraub« dagegen äußerst selten und in abgeschwächter Form. Dann wieder hieß es, die Gefahr »unehrbarer Annäherung« solle ausgeschaltet werden; so erblühte auch für die Psychoanalyse hier ein prächtiger Ödipuskomplex.

Der Navacho umgeht nun das ganze, so bedrohliche Tabu auf überaus einfache Weise: er heiratet erst die Schwiegermutter, dann die Tochter. Den gleichen talentierten Ausweg fanden auch die Cherokesen, sowie die Karaiben Südamerikas; bei den Wagogo und Wahehe in Ostafrika aber muß ein Mann sogar, der Sitte gemäß, erst mit der Mutter sexuell verkehrt haben, ehe er die Tochter heiraten darf. Die Theorie vom übertragenen Inzestverbot fällt somit dahin. Wo das Tabu milder wirkt, kann die Schwiegermutter auch durch ein Geschenk versöhnt werden, so bei den Dakotas durch den Skalp eines Feindes.

In neuester Zeit hat R. Briffault dieses weltumgreifende Tabu als Mutterrechtserscheinung angesprochen. Dem exogamen Mann steht kein Recht an die neue weibliche Gruppe zu, deren Haupt er nunmehr untersteht; für ihn ist dieses Haupt eine fremde, »beleidigte« Mutter. Von ihr darf er sich als Eindringling weder erwischen, noch vor ihr sich blicken lassen, ohne rächender Folgen gewärtig zu sein, es sei denn, er versöhne sie durch ein Geschenk oder trete als ihr eigner Sexualpartner in den Clan.

So lebe, meint Briffault, in der vagen Größe dieses Tabu, wenn auch nur schattenhaft, noch etwas nach von der ehrfürchtigen Scheu, die der primitiven Menschenmutter galt und ihrer natürlichen Dominanz in der Urfamilie, deren Schöpferin sie einstmals war. »Gefühle, so weitverbreitet und so tief, daß unter den unkultivierten Rassen in fünf Weltteilen kein Brauch hartnäckiger, kein Familiengesetz bindender erscheint als ... diese absurden Hemmungen und traditionellen Regeln, wie sie sich überall gerade an die Mutter der Frau heften ... solche Gefühle sind niemals bloße Alfanzereien, vielmehr in ihrem Ursinn so bedeutsam wie vital. Als Überlebsel, hohl und albern jetzt, stellen sie doch Teile einer primitiven menschlichen Gruppe dar, die, entwickelt aus der tierischen Familie, nur mit Hilfe der Exogamie sich ihre mütterliche Grundgestalt bewahren konnte.«

Bei Kultivierten klingt das Tabu in »Bösen-Schwiegermutter«-Scherzen mit ihrem hämisch-läppischen Umwitzeln gerade dieser Figur noch leise nach, denn Kichern ist bekanntlich überkompensierte Furcht.

Unter europäischem Einfluß wechselten allmählich eine Reihe Indianer-Stämme von der Mutter- zur Vaterfolge, ehe sie ihren Rassentod durch Flintenkugeln starben oder ihn – überlebten in läppischen Reservaten, wo Häuptlinge federnbespickt auf Bahnsteigen hocken, um durchreisenden Versicherungsagenten aus Chikago Kriegsbeile oder Friedenspfeifen, je nach Wunsch, aus tätowierten Musterkoffern gegen Dollar anzudrehen.

Wie unbeugsam jedoch die Urgesetze der Frauensippe fortbestanden, zeigt am besten jener Chokta-Indianer, der ganz offen dem Missionär Dr. Byington in den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts erklärte, er wolle nur deshalb Bürger der Vereinigten Staaten werden, damit er den eignen Kindern seinen Besitz vermachen könne, sonst fiele dieser unweigerlich an die Mutterseite zurück.

So selbständig universal erwiesen sich diese Indianerinnen, so einfach jeder Situation ganz allein gewachsen, daß eine, kanadischen Stammes, nachdem sie waffenlos, werkzeuglos, fast nackt aus feindlicher Gefangenschaft entsprungen war, nach sieben Monaten mitten in der Wildnis unter behaglichsten Verhältnissen lebend aufgefunden wurde, in einer hübschen, selbstgebauten Hütte voller Vorräte und mit einer warmen, geschmackvoll bestickten, funkelnagelneuen Garderobe; alles gleichsam aus dem Nichts erschaffen. Erst hatte sie ingeniöse Fallen gelegt für Wild und Vögel, um von dem Fleisch zu leben, die Felle zu gerben, mit den Sehnen einen Bogen zu bespannen; auch Messer und Nadeln hatte sie fabriziert, war vorzüglich in Form, munter und wohlhabend. (S. Hearne, nach Briffault zitiert.)

Viel vom original indianischen Wesen hat sich seltsamerweise gerade an seinem höchsten und primitivsten Stamm erhalten: den Pueblos und den Seri, beide rein matriarchal.

Die Seri-Indianer am Kalifornischen Golf waren infolge von Feuersteinpfeilen und allgemeiner Fremdenfeindlichkeit bisher fast unbekannt. Sie entzogen sich prinzipiell jeder Antwort, indem sie den Frager erschlugen, und somit auch ethnologisch ehrbarer Annäherung. Sie auszurotten, lohnt keiner Regierung, auch besorgen sie das durch ewige Fehden langsam selbst. Dr. MacGee gelang es, wenigstens jene auf dem mexikanischen Festland in der Provinz Sonora zu beobachten, und durch Dolmetscher erfuhr er das Wichtigste vom Leben der übrigen Sippen auf der Insel Tiburon, ihrem Hauptversteck. Die sozialen Einheiten sind Mutterclans, an deren Spitze je ein Urweib hockt. In der Hierarchie von Töchtern und Enkelinnen verkörpert sich ihr höchster Stammesstolz: die Blutreinheit. Selbst nennen die Seri sich »Kunkak«: »Frauenschaft«. Ihr Totem ist der Pelikan. »Zu sagen, sie lebten steinzeitlich, wäre Schmeichelei und Übertreibung«, außer den Pfeilspitzen aus Feuerstein verwenden sie nichts Zubereitetes. Um einen Knochen zu zerreiben, wird einfach ein Kiesel vom Boden genommen, gibt man ihnen Messer, wissen sie nicht, was damit tun, und wollen es auch nicht lernen.

Die Frauen herrschen unumschränkt. Der Gatte ist schwer erkennbar, weil unverhältnismäßig jünger als seine Frau, und ohne irgendwelche Autorität. Seine Beziehung zum Haus wird niemals klar, denn so elend und flüchtig die Hütte auch gebaut ist, darf er sie nicht betreten; sie mit zu bewohnen ist nur dem Bruder erlaubt. Ob Vaterschaft überhaupt anerkannt wird, bleibt ungewiß, jedenfalls gibt es kein Wort dafür. Um in dieses elende Leben einzuheiraten, wird jeder Bräutigam erst den härtesten Proben durch ein Matronenkollegium ausgesetzt, sonst darf er sich der Sippe nicht gesellen.

Die Männer jagen, fischen und kämpfen, bei jedem Streit wird die Clanmutter angerufen, lammfromm angenommen ihr Entscheid, alle Rechtsprechung geht von den Frauen aus, die ihre Brüder zur Exekutive entsenden. Ein männlicher Häuptling wird von den Weibern nur für äußere Kriegführung gewählt, und zwar im Hinblick auf die Zauberkräfte seiner Frau, da er in freien Stunden auch zum Regenmachen verwendbar sein soll, dem Urbezirk weiblicher Magie, und das allein nicht fertigbringt. Jedenfalls bleibt er »ein heimatloser Potentat«, wandernd nach den Jahreszeiten und dem Gutdünken der Frauen, die in ihren eignen Ratsversammlungen alle Bewegungen des Stammes bestimmen und auch im Kriegsrat der Männer Sitz und Stimme haben.

Angesichts der Australneger, vieler anderer Stämme und jetzt der Seri-Indianer hat sie doch etwas für sich, die oft belächelte Manie der Kunsthistoriker, jeder wichtigen Rasse krampfhaft eine »Urheimat« zu suchen, als wäre es beleidigend für bessere Leute, dort, wo man sie findet, auch entstanden zu sein.

Alle begabten Menschen gehen eben irgendeinmal von »zu Hause« fort, wo immer dieses »zu Hause« auch liegen möge; nicht aus Not, sondern aus Drang. Große Schweifende, halten sie es seit der älteren Steinzeit so und machen sich dadurch bei kleinen Leuten unbeliebt. Diese großen Schweifenden, verhaßt bei denen, über die sie hinschweifen, sind allemal jubelnde Formträger, und das phänomenale Gestrahl, das sie »sinnlos« hinaustreibt, treibt dann gebremst, sinnvoll aus ihnen den monumentalen Stil. »Ureinwohner« hingegen können nirgends bis fünf zählen, und stellenweise müssen sie noch jeden Tag mit Pfeilen nach ihrem Frühstück schießen, wie jemand einmal treffend bemerkt haben soll.

Doch große Form erfordert Opfer. Die Taten ihrer schweifenden Träger sind nie moralisch gewesen, moralisch ist, nach Goethe, stets nur der Zuschauer.

Die Seri brachten es nie über eine Art schlampigen Unterschlupfs aus Gestrüpp, die Pueblos (Hopi, Moki, Zuni) hingegen zeigten New York, wie man Wolkenkratzer baut. Zuerst legten sie in den Steilwänden der Cañons von Neu-Mexiko und Arizona terrassenförmig mit Flachdächern ihre zwanzig- und mehrstöckigen Häuser an, von außen mit »Feuerwehr«leitern zugänglich, und gerade durch dieses Motiv wie »Skyscrapers« anzusehen.

Als riesige Ruinen stehen diese Anlagen noch überall im Südwesten herum und gehören zu den berühmtesten Sehenswürdigkeiten Amerikas. Später adoptierten die Pueblos diesen Stil auch in der Ebene für ihre festungsartigen Dörfer von solider Ziegelkonstruktion. Alles von Frauen erfunden und mit eigenen Händen von den Fundamenten auf erbaut. Bis zur Ankunft der Europäer war es noch keinem Mann eingefallen, sich um Architektur zu kümmern; als der erste auf Befehl der Padres eine Mauer errichten sollte, stand er elend beschämt und fehl am Ort, von höhnenden Frauen und Kindern umjohlt. »Die spanischen Missionäre erzählen mit Stolz von den schönen Kirchen und Klöstern, die ihnen die Eingebornen errichteten, und zwar ganz allein die Frauen, Mädchen und kleinen Jungen, denn bei diesen Völkern ist es Sitte, daß Frauen die Häuser bauen.« Von den Fundamenten und Mauern an stellten sie das ganze Gebäude innen und außen schlüsselfertig her. So war es wenigstens vor der europäischen Invasion und ist es bei den Zuni noch heute.

Außer Terrassen und Höfen an den eigentlichen Wohnhäusern liegen noch mindestens ein halbes Dutzend sonderbare, beinahe unterirdische Rieseneier in jeder Pueblostadt herum, Klubs: halb Schwitzbad, halb Tempel, weil die Dampfreinigung mit Weihen und dem Eintätowieren eines besonderen Seelenstoffs, so dem Orenda oder Wokanda bei den Algonkin, tief zusammenhängt. Wie es in der Südsee »mana«-Träger gibt, so ist bei Indianern ein guter Jäger, wer eben »[Wokanda]« besitzt, die Tätowierung eigner Art scheint es zu bannen, anzuziehen, zu vertiefen oder beweist auch wohl nur seine Anwesenheit in Tätowierten.

Bei den Pueblos erreichen diese Schwitztempel oder Gemeinschaftshäuser den größten Umfang. »Jedes Dorf hat eins bis sechs der kreisrunden Bauwerke. Ein großer unterirdischer Raum ist zugleich Badezimmer, Rathaus, Klublokal und Kirche. Er besteht aus einer weiten Vertiefung, denn das Dach ist beinahe auf gleicher Höhe wie der Erdboden, manchmal etwas höher ... Rundum an den Seiten sind Sitzbänke und mitten auf dem Fußboden ein viereckiger steinerner Behälter für Feuer, worin beständig aromatische Pflanzen verbrannt werden. Man betritt das Haus mit Hilfe einer Leiter durch ein Loch im Dach, das gerade über dem Feuerplatz gelagert ist und also zugleich als Ventilator und zum Abzug des Rauches dient.« Gegen die Deutung dieser Rotunden als typische »Männerbund«-Lokale spricht nicht nur das unzweifelhafte Matriarchat bei den Pueblos, nicht nur, daß diese Bauten ausschließlich Frauenwerk sind, sondern vor allem ihre Gestalt: rund, tief in die Erde gemuldet, mit dem einzigen engen Eingang, der Feuerstelle gegenüber. Ein »Männerbund« im Uterus? Wenn irgendwo, so mußte doch gerade hier, bei betontem Gegensatz zur Weibwelt, die mann-männliche sich eine echte Eigenform erschaffen haben, denn »nichts ist wesentlich, was nicht erscheint«. Auch fehlt das typische Emblem dieser Richtung hier vollständig, der Schädel: hartschaliger Gegenuterus, Geistei, dessen Verwendung als Kultobjekt und Zimmerzier den Ort der Männerbünde bei Primitiven überall zum reinen »Beinhaus« macht. (Bei studentischen Vereinigungen wird er durch die Fechtmaske ersetzt.)

Die isolierten Rundbauten der Pueblos erklären sich ohne Zwang aus der früher weit strengeren matrilokalen Sitte, die Männer nur auf Besuch ins eigene Haus ließ. So wurden ihnen diese, von den Spaniern »Estufas« genannten, Wohnstätten abseits errichtet, wo sie auch schliefen. Jetzt ist alles weit laxer geworden, mutterrechtliche Organisation besteht zwar noch, ist aber bereits im Übergang begriffen, und das bedeutet schließlich immer Untergang.

Kein Indianerstamm ist übrigens so oft, so genau und mit so viel Begeisterung geschildert worden. Man weiß, wie das Zuñimädchen um seinen jungen Mann wirbt, indem es ihm ein selbstgebackenes Brot in die Hand drückt, man weiß, wie er ihr dann als Bräutigam auf der Sonnenterrasse die Läuse auskämmt und Mokassins für sie näht, und schließlich die Art, wie Squaws Töpferei betreiben, die wirklich von antiker Anmut ist. Sie modellieren ihre Schalen nach der eigenen Brust, lassen die Stelle der Brustwarze bis zuletzt offen, verschließen sie dann unter großer Feierlichkeit mit abgewandten Augen, um nicht steril zu werden. Und das unschuldige Feuer zum Brennen der Gefäße entzündet stets ein kleines Kind.

Nach Kroeber scheiden sich die Puebloleute unaufhörlich, so daß Männer und Frauen in mittleren Jahren meist viele Ehepartner hinter sich gelassen haben, und selbst Alter schützt vor Scheidung nicht. Binden wie Lösen aber geht gewaltlos vor sich. Jegliches geschieht freiwillig zwischen den Geschlechtern. Jene schön gefärbten und zusammengesetzten Gewänder, Federschmuck und Lederarbeit, die der Mann so heiß begehrt, barsch zu verlangen, käme ihm nie in den Sinn. Schweigend wartet er ab, ob sie ihm geschenkt werden, und verbirgt seine Enttäuschung, ist dies nicht der Fall. Hat die Frau ihrerseits einen Mann satt, macht sie ein Paket aus seinen Sachen und setzt es vor die Türe, ohne Szene, ohne Zank.

Auch vor und neben der Ehe tut jeder so ziemlich, was er mag, und junge Mädchen schlafen bei verheirateten Männern ohne Scheu; Mutterrecht ist ja immer large in sexuellen Dingen, was sollte ihm auch an Jungfräulichkeit gelegen sein? Daß die Rasse deshalb nicht verlotterte, dafür sorgten auf dem ganzen Kontinent die Tapferkeitsproben als Teil der Reifezeremonien, wie fast alle Naturvölker sie üben, am härtesten freilich die reinen Kriegerrassen, mögen sie noch zum Teil matriarchal organisiert sein oder nicht. Die notwendige Zucht ist hier eben anders gelagert, nicht im Erotischen, das dadurch frei bleibt von Neurose.

Bei den Hopis, als ältesten Ackerbauern, erreichen die Agrikulturriten mit dem von der Ahnfrau gestifteten Schlangentanz ihre Höhe. Zu bestimmten Mondzeiten stößt ein Alter ins Stierhorn, während Männer, denen lebende Schlangen aus dem Mund hängen, den heiligen Felsen umtanzen; Frauen singen Litaneien dazu und streuen Maismehl auf Schlangen und Erde, bis beide weiß sind wie von Schnee, dann lassen die Männer alle Schlangen zu Boden fallen, wo sie abermals bedeckt werden mit neuem Mehl. Auf den Pueblodörfern wieder mischen Priesterinnen als Regenzauber Mehl und zerriebene heilige Wurzeln mit Quellwasser in selbstverfertigten, unter geheimen Bräuchen gebrannten Gefäßen, gleich denen der Vestalinnen Roms. Mond- und Wasserzauber, Quellen hüten, heilige Geräte nach ihrem eignen Wesen formen, weben und bauen sind ursprünglich immer Sache der Frau. Jeden Mondmonat führen sie Mirakelspiele auf in großem Kostüm, mit Masken, Tänzen und Musik. »Der Klerus besteht aus vierzehn Priestern; an ihrer Spitze steht die Schiwanakia, als Priesterin der Fruchtbarkeit. Sie bewahrt die Kultobjekte und kann jeden Priester sofort, ohne Angabe von Gründen, seines Amtes entheben, das ihre erbt sich von Mutter zu Tochter fort.«

Geheime Gesellschaften blühen hier wie bei allen Indianerstämmen; »Männer und Frauen haben die ihren streng gesondert, doch gibt es eine einzige Persönlichkeit, die Mitglied aller sein darf, und das ist eine – Frau«.

Pueblo-Mythologie scheint mehr als die andrer Stämme überrankt mit Riten und Nebenlegenden, wie barockes Christentum. Ihr zugrund aber liegt ein Demeterkult mit Fruchtbarkeitszauber verbunden, dessen Eleusinien zu eben jenem Mehl- und Schlangentanz geworden sind. Er ist das gemimte Mysterium der »Mutter des Samens« Muyenmut und ihres Sohngeliebten, des Schlangenheros, Mondgottes und Beherrschers der Schatten. Ewig sich häutender sterblicher Sohn der unsterblichen Mutter, steigt er zu ihr als Befruchter hinab; und was in Eleusis der Phallus in der Cista war, sind hier die Schlangen im Mehl. Denn daß die rote Rasse durchwegs ohne Götterpantheon gewesen sei und nichts als den »großen Geist« Manitu monotheistisch verehrt habe, ist längst als frommer Wunschtraum der Padres erkannt, die hier gern mit ihrem Jehova eingehakt hätten. Den Weltgeist gibt es eben noch außerdem entweder ungeteilt oder »weiß« und »schwarz«, »schön« und »häßlich«, in Dioskurenform gespalten zum Zwillingspaar der Mondgöttin und sich in seiner Zweiheit befehdend, wie Romulus und Remus.

Als reines Lebensprinzip ist »Manitu« gleich Odem, Geisthauch, Pneuma; wen er da »anniest wird wieder jung«, und wo dieser Allhauch sich rhythmisch abgrenzt, skandierend einen Namen formt, spricht er die Einzelseele aus. Kommunion mit »Manitu« zu suchen ist daher Um und Auf der Reifezeremonien; mögen sie auch sonst mancherlei bedeuten, ihr innerster Sinn ist Wiedergeburt, bei der sich diesmal der Knabe aus der großen Weltseele heraus selbst neu gebären muß zum vollwertigen Stammesglied. Erst dann werden ihm auch die Stammeszeichen eintätowiert. Wer diese Pubertätsriten nicht durchgemacht hat, kann nicht heiraten, und wäre er körperlich noch so viril, darf höchstens den Tanz der »nichtigen jungen Hunde« und andern Kinderhops tanzen, wird nirgends für voll genommen, und kein Mädchen rührt ihn an. Auch seine Mutter, weit entfernt, den Sohn zurückzuhalten, treibt ihn, wie einst aus sich, so jetzt mit aller Kraft der zweiten Geburt entgegen. Nach wochen-, manchmal monatelangen Fasten, Martern, Praktiken aller Art, damit er eben außer sich gerate, sinkt der »entrückte Knabe« fern ab, irgendwo allein in eine Art Trance, um den »Lebenstraum« zu suchen, der ihm seinen Privatmanitu, den Individualtotem, als »neuen Namen« und neue Seele offenbaren soll.

Indianer beschneiden zwar nicht bei ihren Pubertätsweihen, wie es Australier, Afrikaner, Semiten, Malaien tun, desto grausamer sind dafür die allgemeinen Tapferkeitsproben; ein häufiger Ausgleich bei besonders heroischen Rassen: Indianern, Spartanern, die jene scheußlichen lokalen Operationen an Geschlechtsorganen vermeiden.

Hochgefährlich, oft tödlich ist aber der eine wie der andre Brauch. Zahlreiche Völker tilgen ja auch sonst reuelos Stammesglieder für ein Gebrechen oder auch nur Versagen aus, das uns völlig nichtig scheint, weil wir es nicht bezogen sehen auf jenen mystischen Hintergrund eigentlichen Daseins, der sich für uns geschlossen hat. So wird bei den afrikanischen Eve jedes Kind, dem das Zahnen Schwierigkeiten macht, sofort getötet, doch dienen diese, in vielen Ländern scheinbar so wichtigen Vorderzähne, nicht etwa zum Beißen, sondern zum – Ausgeschlagenwerden bei den späteren Knaben- und Mädchenweihen. Indianische Geheimbünde bestrafen wieder Straucheln während eines rituellen Tanzes mit dem Tod. Lauter esoterische Gesetze, vor deren geheimnisvollen Fronten wir, Profane, ratlos stehen; für das, was wichtig, was unwichtig, versagt hier, weil auf andrer Daseinsfläche, unser Maß.

Ist die Form des Mythischen das Bild, so ist jene des Dämonischen der Tanz. Sein Rhythmus stößt den Tänzer aus der eigenen hindurch in eine fremde Schicht, und zwar besetzt jeder Tanz andres dämonisches Gebiet mit flatterndem Gefühl. Jeder Schritt, jede Gebärde hält da eine Geisterwelt in Schwebe; wer strauchelt, stürzt ein Chaos unbeherrschter Dämonie auf seine Mittänzer herab und zerbricht die Kollektivekstase. Mit jeder Weihenprobe steigt das Recht auf neuen Tanz. Mancher wieder ist erblich, mancher kann auch angeheiratet werden, ein andrer dagegen bleibt exklusives Frauengut. Um die Vorherrschaft eines Geschlechts zu beurteilen, genügt es also nicht, zu wissen, wem Haus und Kinder gehören, wessen Name erhalten bleibt, vielmehr: wer darf und unter welchen Voraussetzungen tanzen? Daß die Heilkunst unter natürlichen Bedingungen schon deshalb weibliche Domäne sein müsse, weil jede Mutter von Natur Zauberworte habe, die Schmerz stillen und beruhigen, dieser Annahme halten manche Ethnologen im Fall der Indianer die männliche Medizingesellschaft der Algonkin entgegen, die Midiwiwin. Wie steht es nun damit? Die Midiwiwin hat viele Stufen. Jede Stufenweihe besteht aus Tanz, Töten und Auferwecken des Initianden. Jeder neue, höhere Grad der magischen Heilkraft wird nun dem Ohnmächtigen vor seiner Wiedergeburt jedesmal in Form einer – Muschel in den Körper geschossen, somit in ihn hineinpraktiziert in Gestalt des weiblichen Genitals. Dieses erst beglaubigt ihn wie eine Mitgliedskarte, als von rechtens dem Bund der Zauberheiler zugehörig. Wer die symbolische Weltbedeutung der Kaurimuschel nicht kennt, für den kann es allerdings auch rein männliche indianische Medizin geben, für Indianer nicht.

Männersache dagegen bleiben die Büffeltänze und andrer Jagdzauber. Totemische Tänze beider Geschlechter werden nicht dem Totem zu Ehren aufgeführt, wie ein Ballett für einen illustren Gast, sie sind vielmehr mystische Kommunion mit ihm. Tanzt eine Sippe etwa den »Regen«, den »Präriewolf«, die »durchscheinenden Steine«, so stellt sie nicht nur durch Masken vor, was sie tanzt, sondern wird selbst dazu, geht zurück auf den Wesensgrund von »Regen«, »Präriewolf«, »durchscheinende Steine«; den gleichen Totem haben heißt daher viel mehr als gleichen Blutes sein, es heißt Teilhaben an der gleichen platonischen Idee. Wer bei solchem Tanz strauchelt, war in seiner Seele gefälscht und muß radikal zurückgeschickt werden.

Ein tropischer Stamm hat den Ara zum Totem. Gefragt, ob sie das bildlich meinten, sagten die Leute, nein, ganz wirklich. Aber um Himmelswillen, sie könnten doch nicht sie selber und zugleich im selben Moment der meterlange Papagei dort oben sein? Der Identität mit dem Totem liegt eine »mystische Symbiose« zugrund. Den rationalen Menschen brechen nur ganz seltene Träume noch zuweilen aus der Zwangsjacke der Logik heraus, und geben ihm diese fluktuierende Welt mit ihrem Reichtum prälogischer Lebensformen frei. Auf einer ganz anderen Fläche liegen die indianischen Tapferkeitsproben im engeren Sinn. Sogar bei den in ihrer Häuslichkeit so gemütlichen Pueblos übersteigen sie jedes für europäische Begriffe erträgliche Maß. Schon die kleinen Kinder werden dabei öffentlich mit Bündeln der dolchscharfen Juccapalme gepeitscht, bis ihnen die Haut in Streifen hängt, doch kein Kind von über fünf Jahren darf auch nur eine Miene dabei verziehen, ohne entehrt zu sein. Bei den Stämmen Britisch Columbiens zerschneiden die jungen Kriegerkandidaten einander die Oberkörper, schlitzten die Fingerspitzen auf, legen sich trockene Fichtennadeln auf Arme, Hände und Brust, zünden sie an und halten unbeweglich still, bis die Asche zerfällt. Die Pubertätsweiheproben bei den Cheyennes, Crees, Arapahos, Mandan, Omahas waren sogar in Indianisch-Amerika berühmt. Nach viertägigem Fasten und Dürsten wurden den Knaben Schulter- und Brustmuskeln mit Messern durchbohrt, Holzpflöcke durch die Wunden gestoßen, Stricke an deren Enden befestigt und die Körper bis zur Decke hochgezogen, dann herumgeschwungen, daß sie sich wie Kreisel drehten. Herabgelassen, liefen die Jünglinge dann, schwere Gewichte an den gleichen Stricken nachschweifend, um die Wette, all die Zeit von ihren Richtern und dem ganzen Stamm scharf beobachtet, ob auch keiner mit der Wimper zucke, »doch sie lächelten ihren Quälern in die Augen und erfanden selbst immer noch neue Zutaten« denn jede Narbe war ein Stammes- und Ehrenzeichen mehr.

Dieses Ordale: die Echtheitsprobe soll der roten Rasse fürs ganze Leben jenes Unvergleichliche, Unersnobbare gegeben haben, was man Haltung nennt; etwas von dieser Haltung war wohl auch der Jugend Spartas eigen.

Als Ordale für das heroische Ethos der Indianerinnen gilt das Gebären. F. X. de Charlevoix berichtet voll Bewunderung, wie sie oft Tag und Nacht in Wehen liegen und, weil in diesem Zustand aufs höchste »tabu«, auch schutzlos im Freien, ganz allein, ohne einen Laut von sich zu geben. Zeigen diese Frauen den geringsten Schmerz, wären sie entehrt, unwürdig, Mutter zu sein, und ihre Kinder als Feiglinge verachtet. Bei vielen Stämmen Südamerikas wird eine Kreißende, die einen einzigen Schrei ausstößt, sofort getötet. Heroische Haltung in dieser Situation ist Ehrensache bei den meisten Frauen roter, schwarzer oder gelber Rasse.

Eine zweite, sehr strenge Disziplin wiederholt sich monatlich. In den Mondzeiten, wo die unheimlichen Säfte ihres mystischen Wesens überquellen, gilt die Frau fast auf der ganzen Welt als die Inkarnation aller Schrecken, »tabu« im Sinn von heilig-böse; ein Blick von ihr kann mit schauerlicher Krankheit schlagen, ein Gewehr im gleichen Raum mit ihr geht dann nie mehr los oder tötet den Besitzer. Meist soll sie sich in die Einsamkeit zurückziehen, überall Zweige streuen, damit niemand nach ihr den Weg benütze. In solchen Tagen ist sie ungefähr mit der Verantwortung eines Arztes beladen, der mit Pestkulturen manipuliert, auch wohl selbst gefährdet durch das ausbrechende Dämonentum ihres Geschlechtes, muß tagelang fasten, darf den eignen Körper nicht berühren, ist zu Brechkuren und allerhand inneren Reinigungen verpflichtet. Auch Europa kennt und respektiert bis zu einem gewissen Grad dieses »tabu«. Keine Französin, die ihren Mond hat, wird eine Majonnäse rühren, eine Süddeutsche wahrscheinlich nicht in den Keller zu jungem Wein gehen, eine Gärtnerin weder Obst noch Blumen pflücken, denn je nach seiner Art gerinnt, versäuert, welkt ein jedes Ding zu solcher Zeit in ihrer Nähe; Spiegel sollen sich trüben, Edelsteine erblassen, Metalle anlaufen oder rosten.

Die Indianerin muß bei der ersten Menstruation meist einen bis zwei Monate in der Einsamkeit und strenge fastend verbringen. »Merkt bei den Mohawks das Mädchenkind die ersten Anzeichen ihrer Reife, so flieht sie und verwischt ihre Spur. Wird ihr Verschwinden endlich bemerkt, macht sich ihre Mutter oder eine andre Verwandte auf die Suche, oft vergehen drei bis vier Tage, ehe die Vermißte gefunden wird; erst dann nimmt diese etwas Nahrung, die ihr gebracht wird, zu sich und kehrt nach etwa zwanzig Tagen zum Wigwam zurück.« Der weltbekannte Brauch, nicht unter einer Leiter durchzugehen, soll mit der Angst, eine menstruierende Frau könne oben sitzen, zusammenhängen. (Briffault.)

Eine allgemeine »Blutscheu« der Naturvölker kommt als Ursache dieses »tabu«, das auch ebenso bei hochzivilisierten Chinesen, Arisch-Indern, Persern besteht, nicht in Frage, Blut ist sogar meist etwas Hochbegehrtes; tabuiert ist nur die spezielle Herkunft, daher auch das weitverbreitete Gebot künstlicher Defloration vor der Ehe. Europäische Eltern in China sind meist wenig erbaut, wenn sie entdecken, wie weit chinesische Kinderfrauen in dieser Hinsicht schon recht früh die »pflichtgemäße Obsorge« für ihre Pfleglinge getrieben haben. Wo künstliche Methoden nicht Brauch sind, haben die meisten Priester, so in Indien alle Brahmanen, da sie durch ihren heiligen Stand immun sind, die Verpflichtung, diese Handlung zu vollziehen. Indianerstämme nähen bei der Reife die jungen Mädchen in Säcke, wie sonst nur Leichen, lassen ihnen gerade die kleinste Öffnung zum Atmen und räuchern sie mit reinigenden Dämpfen so lange, bis nicht wenige erstickt sind. So werden die Frauen schließlich die Opfer einer übertriebenen, wahrscheinlich von ihnen persönlich geförderten mystischen Scheu, die nicht nur den Mann, sondern wohl auch sie selbst vor dem Mondwesen ergriff, das an kritischen Schicksalstagen mit einer selbständig geisternden Dämonie verantwortungslos in ihnen kreist. Je weiter sich nun eine soziale Struktur vom Matriarchat entfernt, desto mehr schmilzt vom »heilig-bösen« dieses Weibheits-»tabu« das »heilig« weg, bis es für die Kirchenväter nicht mehr den Schauder vor kosmischer Kraft, vielmehr vor dem Satanischen an sich bedeutet. Und erst recht für den Puritanismus, dessen Pflicht vor Gott es geradezu ist, die Frau eisern in Ungefährlichkeit niederzuhalten, trägt doch jede von ihnen eine Miniaturdependance des Höllenpfuhls in sich.

Überaus interessant ist es nun, wie die Urkraft des eingebornen, nur unterbrochenen amerikanischen Matriarchats, die rabiat vaterrechtlich-puritanischen Einwanderungswellen geglättet hat. Sein Sieg war fast kampflos und von erheiternder Vollständigkeit. Mit dem Unterschied, daß der Mann jetzt als Dollar- statt als Büffeljäger weit mehr für den Frauenclan zu arbeiten hat als früher und kein Feuerwasser zu trinken bekommt, ist seine Lage in der Union ungefähr wieder so, wie sie im matronalen Langhaus bei den Seneka war, und wenn bei gelegentlicher Unart oder Unfolgsamkeit nicht irgendeine alte Tante in letzter Stunde ein gutes Wort für ihn einlegt, ist er ostraziert und hat so wenig zu lachen wie sein Vorgänger, der rote Krieger des Landes. Dies alles ist vom neuen oder eigentlich alten Matriarchat viel weniger durch Dauerlärm, Gewalt und Gesetze erreicht worden, als »einfach so«, was immer die geheimnisvollste und sicherste Art der Autorität bedeutet. Dabei sind die Indianer selbst zum Vaterrecht übergegangen unter dem mächtigen Einfluß eben jener puritanischen Pioniere, deren unmittelbare Nachkommen jetzt unter der stillen Gegenwirkung des seelisch noch gar nicht durch Hochkulturen ausgesogenen Bodens zu Mutterrecht regredieren. Vielleicht wandelt er sie partiell zu den Ureinwohnern, die, vorzeitig vernichtet, sich nicht zu Ende leben konnten. Der Fall Nordamerikas ist ja in jeder Hinsicht ohne Beispiel. Dort wird eine der gewaltigsten mechanisierten Zivilisationen aus spät europäischer Erbmasse einem fremden Riesenkontinent auf die blanke Seele gestellt. Sonst ist in Kolonien überall ein Puffer von Eingeborenen da, die das Bodenständige auch weiterhin aufnehmen und ausleben; oben bleiben die Eroberer aus Gründen der Selbsterhaltung seelisch und körperlich so streng für sich und dem Lande innerlich fern, wie nur irgend möglich, was die bekannte Zweischichtigkeit ergibt. Die Indianer eigneten sich jedoch nicht zur Unterrasse und starben lieber aus, die importierten Neger sind selber fremd, haben aber auf Jahrhunderte hinaus die afrikanische Wucht fast unwandelbar im Blut; die Weißen, diesmal hemmungslos, öffneten sich weit der andern Erde, als wäre sie erbmäßig ihre eigene.

Was kann nunmehr geschehen in dieser noch nicht dagewesenen Lage? Wird die Zivilisation nicht ihrerseits das Seelentum des Mutterrechts dort abwandeln? Denn der Typus des wurzelhaften Urweibes, als sein naturhafter Träger, ist in den hohen Formen der »Mechanei« (ein Frobeniussches Wort) gar nicht denkbar. Es wird also vielleicht eine Mannheit aus lauter infantilisierten Athleten, Rekordbrechern, Trustmagnaten unter Mutterrecht geben, aber keine Mütter dazu. Oder doch – in einer neuen Variante?

In seinem Amerikabuch meint Graf Keyserling, angeregt durch das in der Union Gesehene, gewiß mit Recht, ein erfreulicher oder gedeihlicher Sozialismus, ein gewaltloser also, habe nur Aussichten unter ausgesprochener Gynaikokratie. Da es »Mütter« nicht mehr gibt, die ältere Frau dem Mutterrecht aber unentbehrlich ist, so steht nach Keyserling Amerika momentan unter »Tantenrecht«. Ob der Tantentyp nur eine Zwischenstufe bildet, um etwas ganz Neuem – natura facit saltus – Platz zu machen, muß abgewartet werden.

Rückschlag ins Indianerhafte, zwar gigantisiert durch puritanische Zivilisation, aber ganz unzweifelhaft irgendwie indianisch, uneuropäisch, ist eine Erscheinung, wie Mrs. Eddy; dieser evangelischen Schamanin gelang es, das alte Mysteriumprinzipat der Frau, Zauberheilen durch Beschwörung im allergrößten Stil, mit der Christian Science wieder einzuführen, wie Dr. C. Jung als erster bemerkt hat. Andere Rothautsitten sind die Tanzrekorde. Tagelanges Tanzen bis zur Bewußtlosigkeit gehörte als Tapferkeits- und Widerstandsprobe zu den indianischen Pubertätsriten. Was schließlich die zahllosen männlichen und weiblichen »Geheimbünde« betrifft, so scheint der einzige Unterschied gegen früher, daß sie – annoncieren.

Nur eine Sonnensippe gab es in Nordamerika, die Natchez. Sonnenmatronen aber gibt es nirgends auf der Welt, nur Sonnenjungfrauen. Das alte Urweib nimmt auch hier nicht mehr die Mitte ein, es ist nach dem Hintergrund verschoben, dirigiert zwar von ihm aus noch die handelnden Personen, vorn auf der Bühne aber sind Töchter und ein Sohn. Dieser Töchterclan, von der cäsarischen Sonne zu selbstherrlichen, aristokratischen jungen Priesterinnen ausgebrütet, führt ein bevorzugtes, bis auf Agrikulturriten und Heilkunst verantwortungsloses Dasein, ein Bruder oder Sohn aus diesem, streng nach weiblicher Linie zählenden Adelskreis wurde jeweils von der Urmutter im Hintergrund mit der äußeren Macht und dem Titel »große Sonne« belehnt, blieb ihr jedoch verantwortlich, auch ausgeschlossen von dem sonst in solchen Fällen üblichen dynastischen Inzest mit seinen Schwestern.

Die Priesterprinzessinnen ihrerseits nahmen sich zu Sklavengatten oder Geliebten wen sie wollten aus dem Volk, da ja die männliche Erbmasse nicht zählte. Diese Sexualdiener blieben ohne Rang, wurden nach Belieben gewechselt oder getomahawkt, hießen die »Köter« und mußten in Gegenwart ihrer Herrinnen in demütiger Stellung verharren. Auch tötete man sie bei deren Tod oder beim Tod eines Kindes, das sie gezeugt, ganz ähnlich, wie in Dutzenden von afrikanischen Monarchien auch, nur daß bei diesen noch immer weit gewichtiger, als großer Mond, hinter dem Sohn- und Töchtergetriebe eine alte Königinmutter steht.


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