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Athen, das übrige Griechenland und Großgriechenland

Aristophanes mokiert sich einmal über das Tollhäuslergetue zu Hause und sagt, das einzige, was in Athen noch nicht da war, sei Weiberherrschaft. Gerade die aber war dagewesen, nicht gar viele Jahrhunderte früher; so rasch schlüpft gewaltsam Verdrängtes unter das Bewußtsein zurück. Ihre Spuren sind allerdings nur schwach am Abglanz von Mythos, Tradition und Königslisten, in Worten, in ein paar Bräuchen erhalten. Die Tradition sagt, daß in Athen früher genau wie in Sparta Promiskuität geherrscht habe und vaterlose Zeugung. Die patriarchale Ehe sei durch Kekrops, den Gründer der Akropolis, kurz vor der deukalischen Flut, eingeführt worden. Er war der erste, der Männer und Frauen in Ehen zusammenfügte, vorher waren die Menschen unilateral. (Justin, Klearch, Charax, Joh. von Antiochia.)

Die berühmteste Bruchstelle zwischen Vater- und Mutterrecht enthält die Orestessage mit ihrer ketzerischen Sühnbarkeit des Muttermordes, eine andere, rein politische Bruchstelle ist der Kampf zwischen Athene und Poseidon um den Besitz von Athen. In der Ratsversammlung waren Frauen wie Männer stimmberechtigt. Die Frauen entschieden mit einer Stimme mehr für Athene. Darauf überflutete Poseidon Attika. Um ihn zu beruhigen, wurde folgende Strafe über die Frauen verhängt: sie sollten das Bürgerrecht und damit das Stimmrecht im Staat verlieren, und Kinder sollten nicht mehr nach der Mutter genannt werden. Andere Sagen, über das Orakel von Dodona, Einsetzen von Priestern für Priesterinnen, umkleiden den Sturz der geistlichen Weibermacht.

Die Königslinie von Athen war weiblich. Die alten zyklopischen Mauern wurden, nach Pausanias, noch von den Pelasgern erbaut. Diese alte Rasse, durch Fremde und von Eleusis her bedrängt, ruft die Achäer zu Hilfe. Ein Achäer heiratet die Tochter des alten pelasgischen Königshauses. Auch Kekrops herrschte nur, weil er Gatte einer Prinzessin war. Ein späterer König, Kranäus, hatte drei Töchter, nach der einen, Attis, wurde das Land Attika genannt. Einer späteren Dynastie gehört dann Erechtheus, einer noch späteren Ägäus, der Vater des Theseus, an.

Töpfer und viele andere haben die athenische Königsliste gegen die Zweifel von Wilamowitz erfolgreich aufrechterhalten. Das Vernünftigste zu dieser Sache hat wohl Professor Ridgeway gesagt: »Es kann nicht oft genug darauf hingewiesen werden, wie das periodische oder tägliche Opfer auf Königs- oder Ahnengräbern Namen und Art des Verehrten im Gedächtnis zu stärken pflegt. Wiewohl das Christentum alle ‹heidnischen› Opfer ausgerottet hatte, war die mündliche Tradition so stark, daß junge norwegische Bauern von Gokstad noch nach achthundert Jahren jenes Grab mit dem jetzt berühmten Wikingerschiff und seinem toten Seekönig finden konnten. – In Athen hatten bestimmte Priesterfamilien selbst aus altem Königsblut, das Erechtheion und den Schrein des Kekrops in ihrer Obhut. Das Erechtheion aber wird schon in der Odyssee erwähnt. Warum sollte man, durch das Zeugnis Homers gestützt, bezweifeln, daß im XIV. Jahrhundert v. Chr. ein wirklicher König mit Namen Erechtheus in Athen geherrscht habe. Der Eigenname ist immer etwas Lebendiges, sein Beharren durch Jahrtausende zeigt die Kraft des Lebendigen in ihm. – Der mythisierende Prozeß belehnt mit den ältesten Zügen immer nur die stärkste Persönlichkeit. Genealogien werden stets, besonders wo es sich um Ahnenkult handelt, sehr sorgfältig geführt, sogar wo die Schrift fehlt. Die Inka von Peru hatten ein Memorierungssystem von Schnüren verschiedener Farbe, verschieden geknüpft und gekreuzt. Die alten Männer hielten Schule und lehrten die Kinder den Ursprung der Rasse und ihre Genealogie mit Hilfe dieser Schnüre. Sogar die Eingeborenen der Torresstraße führen Chroniken mit Hilfe von Schnüren und Knoten. Geschichte, insofern sie nur fortlaufend Geschriebenes gelten läßt, wird immer weniger des Menschengutes wissen. Das wichtigste Menschheitsgeschehen wird sich außerhalb abspielen und in andern Zeichen gesammelt werden müssen. Die herrschende Tradition eines Priesterkönigtums, in einer priesterlichen Familie und Opferbräuchen fortgeerbt, hat doch mehr Dauer und Gewalt als fortlaufend geschriebene Tageszeitungen, wiewohl diese mit Rotationspressen ihre Tendenzlügen in Millionen Exemplaren den Leuten um die Ohren klatschen.« Wer den Menschenkönig Kekrops anzweifelt, weil sein Wesen symbolisch als Schlange dargestellt wurde, »müßte die reale Existenz der halben Menschheit bezweifeln, vor allem der Totemrassen. Indianer mit Regentotem werden als Regenstreifen dargestellt, andere Stämme als Windrichtung oder in Tiermasken«. Wie die athenische Königslinie weiblich, Attika selbst nach einer Frau benannt ist, so heißen die männlichen Mitglieder der athenischen Sippen: homogalaktes, mit gleicher Milch Genährte, also Muttersöhne. Halbgeschwister väterlicherseits galten für nicht nahe verwandt, durften unter sich heiraten, bei uterinen Halbgeschwistern zählte eine Verbindung schon als Inzest. Der Bruder selber heißt griechisch: adelphos, von delphys = Gebärmutter. Auch zwischen den beiderlei Onkeln bestand ein Rangunterschied als letzter Rest blutmäßigen Mutterrechts; einen Rest des politischen erwähnt Plutarch; denn bis um 300 v. Chr. nahmen auch die Frauen an großen öffentlichen Prozessen als Stimmberechtigte teil.

In den altertümlichen, pelasgisch unterlagerten Stämmen – Arkadier, Äolier, Böotier – und ihren Kolonien war das Matriarchat viel deutlicher erhalten. Mantinea in Arkadien feierte die ganze klassische Zeit hindurch reine Frauenmysterien. Diotima, die liebesweise Frau im platonischen Gastmahl, ist Mantineerin. In der »hohlen« Elis – Stadt und weite Ebene des Peloponnes – verwalteten nach Pausanias sechzehn Matronen das höchste Richteramt. Tätowierung galt als Zeichen mütterlichen Adels in Thrakien. Lokri heißt Mutterland, Stammutter der Lokrer war Aphrodite in Person. Sie führt den Beinamen Zephyritis, nach ihr nannte die lokrische Kolonie in Unteritalien Hauptstadt und Vorgebirge Epizephyrion und sich selbst epizephyrische Lokrer. Sie kamen mit einer Art »Mayflower« nach Italien. Von ihnen sagt Polybius: »Zuerst führen sie den Umstand an, daß aller Ruhm und Glanz der Abstammung bei ihnen von den Frauen und nicht von den Männern hergeleitet werden, daß für adelig nur die aus den hundert Häusern gehalten werden.« Einige Mädchen aus diesem Frauenadel befanden sich auf der »Mayflower« und übernahmen dann in der italienischen Kolonie das oberste Opferamt bei den religiösen Zeremonien. Pontifex, wörtlich der opfern darf, ist bei Matriarchat die Frau. Außer dem schönen, aphrodisischen Namen Epizephyroi haben die lokrischen Männer noch ein weniger schmückendes Beiwort: sie heißen »stinkende« Lokrer von der ewigen Beschäftigung mit dem Ziegenvieh, dem Böckehüten, der schweren und schmierigen Arbeit, die ihnen von den Frauen aufgepackt wurde. Sie sind ein Gegenbeispiel zu den Lydiern, deren Häuslichkeit und Putzsucht von Dr. Vaerting als ständig wiederkehrende Wirkung der Frauenherrschaft angegeben wird. Bei den Lokrern hatte das Matriarchat genau das Gegenteil zur Folge. Das ungeheure völkerkundliche und historische Material ist eben schwer unter ein Einheitshütchen zu bringen. Trotzdem – das verdient immer wieder betont zu werden – bleibt die Vaertingsche Theorie überaus anregend und fruchtbar.


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