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Lesbos

Der Mythos spült einen abgerissenen Kopf ans Land. Auf einer Leier treibt er übers Meer daher, metallische Locken haften spiralig zurückgeworfen in den Saiten, gallartige Augäpfel starren schon das Nichts an, die Lippen aber spaltet ein wundervoller Gesang, so demütigend vollkommen, so erbitternd überirdisch, daß die Mänaden oben in Thrakien, durch seine schiere Harmonie in ihrem orgiastischen Unmaß gestört, den Sänger Orpheus in Stücke zerrissen hatten. Die Lesbier auf ihrer Insel aber sind götternah, aus prääolischem Blut, weiser noch als die Arkadier, älter noch als der Mond. Ehrerbietig empfangen sie das erstorbene singende Haupt und legen es zu Grab.

Der Kopf im Boden trägt Frucht. Sehr langsam. Längst ist rundum taghelle Geschichte mit Defizit und tätigem Geschrei, da steigt aus dieser Erde ein sinnlich-übersinnlicher Dämon ins Dasein. Sein Name wird auf der Welt zu einem Klangsymbol, das in brennendere Räume der Seele zieht, in tiefere Lebens- und Todesspannung hinein: Sappho, oder äolisch weicher: Psappha. War es ein Pseudonym? Sappho bedeutet Lapislazuli.

Zweieinhalb Jahrtausende sind an diesem Namen vorübergeglitten, er steht hoch oben, wie mit Flügeln gegen die Zeit gestemmt, sehr groß und ziemlich leer, langsam blässer auch. Denn das, wofür er steht, hat sich wie ein Edelgas verströmt; alle höheren Organismen wandeln in ihm, ohne es zu wissen, von ganz woanders her, im Rückstrom über Um- und Abwege hat es sie oft und oft unerkannt durchdrungen als längerer Atem, beschwingterer Rhythmus, Weite und Wandlung. Bei Solon fängt das an. Sein Neffe singt nach Tisch zum Wein ein Gedicht; etwas ganz Neues, eben kommt es in Mode unter einer Elite junger Athener. Der achtzigjährige Solon beginnt zu zittern, bittet den Neffen, ihn, der nahe dem Tod, doch das Gedicht noch zu lehren, mit seinem Klang im Ohr möchte er sterben. Pindar kommt unter Sapphos Einfluß, er imitiert sie nicht nur, übernimmt von ihr die »Goldlust«, jenes Umspielen des Wortes Gold in Klang und Sinn, schreibt auch wörtlich eines ihrer viel hundert Epigramme ab. Der zweiteDichter ist eben schon der erstePlagiator. Von ihr hat die griechische Tragödie, haben Sophokles und Euripides die mixolydische Tonart entlehnt als besonders sinnlich und erregend. Das Wort vom »bittersüßen« Eros haben Plato und die gesamte Weltliteratur übernommen. In unzähligen Paraphrasen geht durch die Lyrik und Epik ganz Europas, was sie in Liebeshymnen sagt: »Eros, Löser der Glieder, die bittersüße Qual, das Ungetüm, die wilde Bestie, der keiner widerstehen kann, verfolgte nie ein wehrloseres Opfer...« Denn Eros erschüttert ihr alle Sinne »wie der Sturm, der sich im Gebirge auf die Eiche stürzt«. Sie ist es, die Sokrates im Gastmahl durch den Mund der Mantineerin Diotima über die Mysterien der Liebe belehrt. Sapphisch ist die Klangfarbe der platonischen Eros-Philosophie: »jeder bleibt im Schatten und ohne Ruhm, den der Gott nicht berührt hat«. Im Phädrus nennt Sokrates »Sappho die Schöne an der Spitze derer, die sein volles Herz wie Ströme ein Gefäß erfüllt und ihm den Stoff zu seiner begeisterten Lobrede auf Eros geliefert hätten. Die Adonisgesänge durch die Völker und Zeiten hin gehen auf sie zurück, den Stil ihrer Oden hat Euripides unter den Dramatikern, Isokrates unter den Rhetoren zuerst kopiert. Theokrit, Catull, Vergil, Horaz sind ihre Imitatoren, in England, um nur die wichtigsten zu nennen: Swinburne, Byron, Tennyson, Keats, William Morris, Robert Burns, Shelley. Swinburne ist »ganz in Sappho getaucht«: »Ich halte mit der gesamten griechischen Tradition dafür, Sappho ist über alle Frage und Vergleich der größte Dichter, der je gelebt hat. Äschylus war der größte Dichter und Prophet zugleich, Shakespeare der größte Dramatiker unter den Dichtern, aber Sappho ist einfach nichts anderes, nicht mehr und nicht weniger als der überhaupt größte Dichter, den es je gegeben hat. Das wenigstens ist das aufrichtige und schlichte Bekenntnis meiner lebenslangen Überzeugung.« Plato nennt sie »wunderbar«, Lukian den »bezaubernden Ruhm der Lesbier«, Strabo sagt von den übrigen Genies des genialen sechsten Jahrhunderts: »Sappho schlägt sie alle.«

Und dann stürzen sich Grammatiker, Lexikographen, Rhetoren, Kommentatoren, Metriker auf das, was »die kleine, ins Unendliche hinausgespannte Gestalt« von innen brennend mühelos aus sich herauswirft; erkaltet und zerhackt bauen sie es in die Sprache ein. Plutarch erzählt, daß Erasistratos, ein damaliger Psychoanalytiker, die Diagnose seiner Patienten nach den Erossymptomen bei Sappho stellte. Eines ihrer Lieder ist die Vorform von »Gretchen am Spinnrad«, italienische, französische, spanische wie moderne amerikanische Lyrik sind von ihr beeinflußt. Sie aber von niemandem. Sie lehnt sich an keinen an, entlehnt von keinem. Hat alles aus sich selbst. »Jedes Gedicht ist eine unmittelbare Inspiration, jeder Vers ein Liebesbrief, jeder Brief ein lebendes Geschöpf mit heißem Atem.« – »Die Charis ihres Wesens, das alles so einfach, so durchsichtig, so unstilisiert ist und doch so schön, das ist das Wunderbare und das Sapphische.« (Wilamowitz.)

Der Name wächst und wächst. »Es war der Ruhm, der mit der Zeit sich um ihn legte wie ein Feierkleid.« Doch wo ist das Oeuvre zu ihm? Buchstäblich in Scherben und Fetzen, auf Vasensplitter gekritzelt, auf Papyri verwischt, nur »stürmische Fragmente«, um solches Leben auszumessen, denn der Vorsehung hat es in ihren unerforschlichen Kram gepaßt, uns das öde Gewäsch der Grammatiker, Lexikographen, Rhetoren über sie zu erhalten, statt sie selbst. So ein Typ schmiert dann in Alexandrien 4000 Bücher über Bücher, erhält den Spitznamen Chalkenteros: ein Mann von eisernen Eingeweiden. Und wenn das Gezücht wenigstens noch reichlich Originalzitate gebracht hätte, aber nein, alles nur »Kommentare«. Dabei gab es doch so viel: noch zu römischer Zeit zwei Luxusausgaben, eine dem Inhalt, die andere den Metren nach geordnet; kultische Hymnen, Oden, heroische Mythengesänge, die Hochzeits-, Trink-, Liebes-, Totenlieder. Neun Bände Lyrik und Elegien, ungezählte Epigramme, von denen jetzt Ungewißheit besteht, welche von ihr, welche ihr nur zugeschrieben sind; auch eines über sie:

»Weich sind Sapphos Küsse, weich die Umarmungen ihrer leichten Glieder, alles ist Weiche an ihr, doch ihre Seele unnachgiebiger Diamant. Denn ihre Liebe endet an ihren Lippen. Der Rest gehört ihrer Jungfräulichkeit an. Wer ist's, der das ertrüge? Doch wer es ertrug, ertrüge dann leicht das tantalische Dürsten.« (Zitiert nach Robinson.)

Den gesündesten Instinkt bewies auch hier, wie immer, Ägypten. Mit seinem unerschütterlichen Sinn für Echtheit legte es auf den Import von Grammatikern, Rhetoren, Kommentatoren oder sonst Leuten mit eisernem Sitzfleisch aus Hellas wenig Wert, sammelte dafür die Originale äolischer Dichtung mit ihrem Ausbruch von Temperament und Tiefe, der verglichen Ionisches, selbst Dorisches schal erscheint. Dank so gutem Geschmack und trockenem Klima haben sich dort relativ viele sapphische Fragmente erhalten. Mit diesen neuen Funden aus dem letzten Jahrzehnt sind sie jetzt im ganzen auf 191 gestiegen. Von Attika konnte dagegen nie viel erwartet werden. Kaum zweihundert Jahre, nachdem Sappho dem Solonkreis als holdes Wunder erschienen war, stand sie nur noch als komische Figur »pasquillartig« verzerrt auf der Bühne der Konjunkturschreiber. Der Theatermob von Schnodder-Athen war damals bereits viel zu ungebildet geworden, die schöne äolische Mundart überhaupt zu verstehen, auch viel zu faul, sie verstehen zu wollen, überdies voll Todeshaß gegen jede lebendige Tradition. »Wer aber auch Verse nicht mehr versteht, versteht immer noch den Skandal.« In sechs Komödien, »Sappho« betitelt, wird sie verhöhnt, weil sie noch immer keine Männer, in zweien, »Phaon« betitelt, weil sie angeblich immer noch Männer liebt.

Weniger verlottert, dafür philiströser, an platter Ahnungslosigkeit aber der athenischen Komödie verwandt, wirkt Ovid, wenn er Sappho in Sachen Phaon, bei dieser, übrigens frei erfundenen, Herzenswendung dem Männlichen zu, solche Unmöglichkeiten sagen läßt, wie:

»Pyrrhas Töchter ergötzen mich nicht, noch zieht das übrige Heer lesbischer Mädchen mich an,
Anaktoria gilt mir nichts, nichts Kydno die weiße,
Meinen Augen gefällt Attis wie früher nicht mehr,
Noch die Hunderte sonst, die ich liebte – nicht ohne Verbrechen.
Was sich so vielen ergab, hast du, o Frevler, allein.«

»Quas non sine crimine amavi«, verbrecherisch wird doch Sappho selbst ihres Lebens Tat, Ruhm, Sinn: den Thiasos, die heiligen Mädchenmysterien, nicht nennen, welchen Ritus – Bräuche sind ja Taten des Blutes – sie ihnen auch gegeben haben mag. Ein Geschöpf mit ihrer Ehrfurcht vor jeder Flammenform! Fehler am Ort war noch selten ein »cant«. Er liegt schon halben Wegs zu der famosen deutschen »Sappho für Jungens«; da wird durch Umwandlung der begehrten Lieblingin in einen Liebling die Aphrodite-Ode erst gymnasialfähig gemacht. Sogar die recht tüchtige Geibelsche Übersetzung trägt diese puritanische Korrektur, um so schwerer erträglich bei einem Aufrausch, derart einfach, sinnlich und völlig frei.

Kein einziges Werbe- oder Liebeslied läßt sich im Original auf einen Mann deuten, bis auf jenes von Tucker übersetzte Fragment, auch das eigentlich nur Fragment eines Korbes:

»As friends we'll part
Winn thee a younger bride,
Too old I lack the heart
To hold thee at my side.«

Deutsch klingt es zu behäbig. Hier liegt ja das Grundübel. Übersetzungen schwellen auf durch Hinzufügen oder verarmen durch Ändern. Fast unmöglich, etwas an Wohllaut so rhythmisch und sublim Geordnetes wie ein sapphisches Gedicht in andere Sprachen hinüberzuschmeicheln. Bleibt das Wort genau, so ohne Musik, ist jedes Wort klanglich in Harmonie mit andern Worten, so überdehnt sich der Rhythmus, sind Rhythmus, Harmonie und Klang beisammen, verliert sich der Sinn. Sappho selbst dachte ja nie daran, sich hinzusetzen, um zu »dichten«, übermächtige Gefühle lösen sich von ihr, die wechselnde Erregung ihres Atems wird zum Versmaß, jede Strophe Erfindung der Natur.

Sonderbarerweise gelingen Übertragungen noch am ehesten ins Englische, das ja in zwei beinahe getrennte Sprachen zerfällt, eine fürs Geschäft, eine fürs Gefühl. Wer die flotteste Offerte vom Fleck weg diktiert, versteht noch lange keine einzige Zeile von Longfellow oder Burns. Bei solch reinlicher Scheidung kann sich nichts, kahl abgezweckt auf business, mit der über und über schwebend verzweigten Empfindung mischen. Ein Vorteil für beide Teile. Doch auch in einer Sprache besonders nuancierter Lyrismen braucht die Übersetzung 34, 42, bestenfalls 26 bis 24 Worte für die erste Strophe der ersten sapphischen Ode, wo das Original mit 16 auskommt. Höchstens Fragmente tropfen manchmal Wort für Wort herüber, so heißt es von der großen Zikade:

»And clear song from beneath her wings doth raise,
When she shouts down the perpendicular blaze
Of the outespread sunshine of moon.«

(Edmonds.)

Nun ein Bruchstück deutsch und englisch, die leere Umarmung einer durchwarteten Nacht:

»Der Mond ist untergegangen
Und die Plejaden.
Schon ist Mitternacht,
Die Stunde verging,
Und ich liege allein – –«

(W. Walther.)

»Sunk is the moon,
The Pleiades are set
Tis midnight; soon
The hour is past and yet,
I lie alone – –«

(Tucker.)

Der Oxyrhynchuspapyrus, die Entdeckung von 1922, enthält auch ein Stück der lange gesuchten Biographie, bestätigt frühe Vermutung, stützt Angaben aus zweiter Hand, denn immer drängt es, zu wissen: wer steht in diesem unermeßlichen Namen? Was ist sein konkretisierter Kern? Und doch, hat es wirklich so viel Sinn, den Leuten, wenn auch mit Recht, diese große Beleberin der Herzen als Präsidentin des Ersten Internationalen Frauenklubs vorzustellen, worauf jetzt andere Präsidentinnen internationaler Frauenklubs sich entweder ärgern werden, bei gleicher Stellung weniger berühmt zu sein, oder sich freuen, weil Sappho auch nichts anderes war.

Auf Lesbos zwischen 650 und 630 geboren, Tochter eines Patriziers und reichen Weinhändlers, lebte sie trotz Reisen und einer Verbannung den längsten Lebensteil dort in der Hauptstadt Mytilene. Die Insel trägt erst uralt eingewurzelte, als zweite Schicht mit den Äolern eingewanderte Gynaikokratie, und am Aufgang der Geschichte wirft das Schicksal auch noch als dritte Schicht einen silbrigen Schwarm Amazonen über Lesbos hin. Nicht feindlich. Fast am Ende ihrer weiten Fahrt, sind sie schon völlig reif und süß geworden vor lauter Siegen, zerstören nicht, da ihnen niemand widersteht, gründen vielmehr die Hauptstadt, geben ihr den Namen der Königin-Schwester: Mytilene. Ziehen heim. Nichts hält lokale Ortstradition so wert, wie als Amazonengründung zu gelten.

Ganz jung scheint Sappho verheiratet gewesen zu sein. Ob sie sich, wie die Frauen im benachbarten Lydien, wieder scheiden ließ oder, wahrscheinlicher, früh Witwe wurde, ist unbekannt. Jedenfalls gab es eine Tochter Kleïs. Vom Mann ist nie die Rede, wichtiger waren drei Brüder, wie stets bei dieser Sinnenrichtung. Es soll ja auch Inzestlieder gegeben haben. Zornige Sorge macht vor allem Charaxus, der älteste. Er übersiedelt als Importeur nach Naukratis, einer Hafenstadt im Nildelta, gibt dort zu viel Geld aus für jene weltberühmte thrakische femme entretenue, Doricha, die sich »im durchsichtigen Hemd an ihn drückt mit ihrem (falschen?) Toupet«. Sapphos Willkommenbrief bei seiner Rückkehr ist die neuentdeckte sogenannte Nereidenode, von einer welligen Zornes- und Meeresstimmung, wie sie leider keine heutige Sprache wiedergeben kann. Die Wirkung auf den Bruder scheint Null gewesen zu sein, denn ein anderes zerrissenes Lied endet: »Und sie prahlten mit der Botschaft, daß Doricha zum zweitenmal in das ersehnte Liebesverhältnis getreten sei.« Das Fragment: »Denen wir das Liebste getan, die verletzen uns am tiefsten«, kann als reglementmäßige Lebenserfahrung nicht mit Sicherheit gerade auf Charaxus gedeutet werden.

Da griechische Männchen-Eitelkeit sich aus dem erotischen Schicksal der berühmtesten Frau einfach nicht wegzudenken vermochte, so gab man ihr alle bewährten Dichter weit und breit zu Liebhabern, auch Anakreon, obwohl er gut ein halbes Jahrhundert später lebte. Einer der »sieben Weisen« hat allerdings Macht über sie gehabt, doch nicht als Mann. Pittakus, Tyrann von Lesbos, verbannte Sappho nach Sizilien, ob aus politischen Gründen oder als Tribade, ist unbekannt. Das war dann allerdings etwas anderes als gelegentliche Abstecher nach Sardes hinüber, dem damaligen Paris, um neue lydische »Créations« zu probieren, Parfums und Schuhe einzukaufen. Unter der Amnestie 581 durfte sie wohl zurück, denn ihr Grab auf Lesbos wird oft erwähnt. Es gibt eine Tradition, durch einen englischen Reisenden bewahrt, daß ihre Aschenurne sogar noch in der türkischen, dem Schloß Mytilene eingebauten Moschee stand.

Aus der Verbannung stammt eine der neu gefundenen Hymnen: ein einziger Sehnsuchtsschrei nach Lesbos, Insel der Leidenschaft mit prachtvoller Rasse und Schönheitskonkurrenzen seit Homer, wo »der Traum des Lebens am schönsten geträumt wurde«. Heute noch sitzen die Fremden begeistert im Café, trinken den berühmten spottbilligen Wein und bestaunen die Frauen. Schon Herodot entzückt das Klima, kurze, bissige Winter, lange Frühlinge voll Veilchen, wo Kinder in Rosenknospen beißen wie im Blumenparadies Grasse an der Riviera. Aus den drei Ecken der triangelförmigen Insel steigen porzellanweiße Klippen ein paar tausend Fuß in die Höhe, von zwei Fjorden durchschnitten. Oben streicht das ganze Jahr champagnerfrische Luft über die Felsen voll Thymian, Anemonen und Rosmarin, mit Tempeln, Pergolen, Villen bebaut. Unten in den warmen Tälern stehen wilde Granatäpfel auf Zyklamenwiesen. Nach dem Schwimmen im warmen, fast flutlosen Meer, dem Baden in kühlen Quellen, Nacktkultur in den Turnhallen, werfen sich die müden Mädchen, aus aller Herren Ländern Sappho anvertraut, auf blumige Felder voll Tau.

»Um die Wasser des Teiches
Rauscht es kühl durch Quittenzweige,
Von den raschelnden Blättern rieselt
Traum zu Boden.«

(Fragment.)

»Wenn du ermattest, bette ich auf weiche Lager deine Glieder« – »Schwarzer Schlaf ist auf die Augen ausgegossen« – »Euch schönen Mädchen ist mein Sinn unwandelbar« – »Wohlgestalteter ist Mnasidika als die zarte Gyrinno« – »Arignota gleicht dem rosenfingrigen Mond« – »komm zurück, meine rosenknospige Gongyla in deinem milchweißen Cape« – »Wohl lehrte ich Hero, die schnellfüßige« – »Übermütiger als dich, Geliebte, habe ich nirgends eine gefunden« – »Nacht aber ist ein Ding mit tausend Ohren.« Eines nah an Anaktoria drüben in Lydien, und dann heißt es in memoriam Anaktoria:

»Erinnerung an sie, deren scheuer Schritt in der Ferne noch holder klingt,
Deren Antlitz unsichtbar strahlender glänzt als Blitz und Streitwagen,
Als die dröhnende Spur des glitzernden Fußvolkes,
Wie Lydiens Macht sie entfaltet.«

Von Sapphos Erscheinung selber bestätigt das neue Biographiefragment nur alte und andere Tradition, nämlich daß sie körperlich armselig dran gewesen sei, in zu kurze Glieder eingeschlossen, »wie die winzige Nachtigall in mißgestaltete Flügel« – »Verächtlich und häßlich, weil klein und brünett von Haut«, was damals wirklich ein Unglück war, denn hoch, schlank, licht bleibt der einzig anerkannte Typus jenes »divinely tall, divinely fair«, nicht nur in Griechenland, dem Inselreich und den Kolonien, auch in ganz Kleinasien, sogar in Ägypten. Xanthos = blond steht im Altertum schlichthin für schön; Achill, Helena gelten dafür, in Griechenland, Lydien, auch im Kreis der Sappho ist daher sehr viel von Holzasche und Pflanzenfasern als »Blondin«mittel zum Haarfärben die Rede. Liebe aber ist ein Mysterium und eine lebendige Kraft. Obwohl klein und brünett, was damals ein Stigma war, gilt Sappho ihren Mädchen als »arbitra elegantiarum« und Wesensbildnerin in allem: »Ich liebe feines Wesen, und mir hat Eros der Sonne Glanz und Herrlichkeit geschenkt.« Sie haßt Weihelose und Unbekränzte, bejaht als große Dame Eleganz, die Ausgewogenheit der letzten Anmut, duldet nur Bestes in edelstem Material um sich, benützt Gold- und Elfenbeingefäße für Parfums und »königliche Salbe«, trägt wollüstig feine Pumps, Taschentücher aus Phönizien; berauscht von den lydischen »Créations«, erfindet sie selber neue Kleidungsstücke: eine kurze durchsichtige Casaque, »Beudos« genannt. Es gibt da eine Menge Fachausdrücke. Schade, daß Jean Patou oder Madeleine Vionnet nicht äolisch-griechisch können, um zu helfen, denn in der preußischen Akademie der Wissenschaften scheint man zuweilen etwas ratlos. Sie trägt nicht nur wundervolle Kleider wundervoll, sie lehrt auch ihre Mädchen, sie wundervoll zu tragen. Schleppen sind die neue Vogue. Andromeda, ein Intellektualtrampel, dabei Führerin einer gegnerischen Schule, rafft ungraziös den Rock um die Knöchel und wird deshalb von Sappho ironisiert. Trotzdem geht Attis, ein besonderer Liebling, zur Rivalin über. Sappho sucht die Abtrünnige zurückzugewinnen durch Erinnerung an zärtlich gute Zeit: »[Attis], ich schwöre, kommst du nicht jetzt, so will ich dich nicht mehr lieben. Steh auf, leuchte uns, löse deine geliebte Kraft vom Bett und wie eine Lilie neben der Quelle bade dich, hebe das feine Gewand aus Chios – und Kleïs soll von der Plätte Safrangewänder bringen, laß einen Mantel dir überwerfen und dich mit Blumen kränzen. Und dann komm, süß von all der Schönheit, mit der du mich toll gemacht! Und du, Praxinoa, röste uns Nüsse, damit ich den Mädchen ein süßeres Frühstück geben kann, denn ein Gott, Kind, hat uns eine Gnade gegeben. An diesem selben Tag noch hat Sappho, die holdeste der Frauen, geschworen, daß sie ganz gewiß nach Mytilene zurückkehren wird, der liebsten Stadt, zu uns zurückkehren, die Mutter zu ihren Kindern. Liebste Attis, kannst du all das vergessen, was in den alten Tagen war?« Attis aber hat es bei Andromeda offenbar vergessen.

»Frischer Tau ist ausgegossen, üppig prangen
Rosen und weiche
Gräser und blühender Honigklee.
Vielfach wandelnd in Erinnerung an die sanfte
Attis, legt sich schwere Sehnsucht
Auf die feine Seele, auf das Herz das Leid.«

(Nach W. Walther.)

Von Plutarch bis Bachofen und Wilamowitz ist es üblich, auf die Parallele zwischen Sokrates und Sappho zu verweisen. Was die umworbenen Epheben Alkibiades, Charmides, Phädrus zwei Jahrhunderte später für ihn, waren Gyrinno, Anaktoria, Attis für sie, und ihren Rivalinnen Andromeda und Gorgo entsprechen in den Dialogen Protagoras, Prodikos, Gorgias, mit denen Plato seinen Helden um die Seele der Jünglinge ringen läßt, völlig hingegeben, besinnungslos vor Dämonie, weil Liebe, wenn mit einem wenigen schon an »Besonnenheit verdünnt, nur Sterbliches sparsam auszuteilen vermag«. Wie Sappho, weiß später auch Sokrates um die höhere Göttlichkeit des Liebhabers als des Geliebten, »weil in jenem der Gott ist, nicht aber in diesem«. Wie sie treibt es ihn, in körperlich Schönem Schönes auch aus anderm Reich zu zeugen. Hier nun schlägt jäh die Ähnlichkeit um: Sappho zeugt in der Seele, Sokrates aber im Geist, und zwar dialektisch, selber nicht immer frei von den Methoden der so heftig verpönten Sophisten. Sie aber formt und erhöht nicht aus dem Verstand, vielmehr aus der Essenz des Mysteriums selber heraus den Mädchenkindern ihr Dasein. Nicht das Geistige ist das Erste, sondern das Seelische, dann das Geistige. Erinna, Gyrinno, Dikta, Attis, Euneika, Anaktoria, Thelesippa, Megara, Arignota, Hero, Kydro, Agallis, die ganze wundervolle junge Meute, hetzt sie mit dem »Wahnsinn des Herzens« auf die Fährte der Vollendung. Nichts an den schönen, noch tierhaften Geschöpfen darf zurückbleiben. Und da auf diesem Weg der Selbstvollendung auch der Mann steht, trieb sie die Geliebtesten von sich weg zu ihm, richtete ihnen die Aussteuer, schwelgte mit ihnen in den feinen Schleierstoffen, wählte mit ihnen Schuhe, Stickereien, Elfenbeinnecessaires, Goldschmuck, das holde Drum und Dran.

Dann hoch »über dem Schicksal sang sie den firnen Lieblinginnen ihr Brautlied, erhöhte ihnen die Hochzeit, übertrieb ihnen den nahen Gemahl, damit sie sich zusammennähmen für ihn wie für einen Gott und auch noch seine Herrlichkeit überstünden«. (Rilke.) Manchmal freilich, für Augenblicke, wirft es sie hin, die tapfere Hymne zerklirrt. – »Der Mann macht mir den Eindruck, Götterkraft zu haben, der dir gegenübersitzt und in deiner Nähe auf deine süße Stimme und dein reizendes Lächeln hört – – die Zunge ist mir zerbrochen, feines Feuer überläuft die Haut, die Augen sind versunken, mit Macht dröhnen die Ohren. Und herunter strömt mir der Schweiß, und Zittern faßt mich ganz, blaßgrüner noch als Gras bin ich, und nur wenig fehlt, daß ich sterbe, Agallis. Aber alles muß ertragen werden – –.«

Es ist die Tragik im Wesen der gleichgeschlechtlichen Liebe selbst. Wie dem echten Männerhelden die Jünglinge abwandern zur Frau, so wechseln der echten Frauenheldin die Mädchen hinüber in die Umarmung des Mannes. Die mit Haltung – worauf es eben ankommt – und willig zu tragende Tragik. Hier steigt aus dem Frauenreich, der lesbischen Dreieckinsel, ein Wirbel bis zur Verstirnung hinauf, sein Sinnbild ist Phaon, der »Glänzende«, ein Sterndämon, wie Wilamowitz meint, der nach Westen in schöne Untergänge zieht, ein adonisartiges Geschöpf, Begleiter der Aphrodite. Adonis aber wird von der Göttin, um ihn für sich zu bewahren, unter Lattich verborgen; die Wirkung des Lattichs ist gegen aphroditische Potenz gerichtet, »so welkt er ihr selber ab«. (Wilamowitz.) Lesbische Liebe »ist Liebe zu Phaon, dem schönen, dem ewig kalten«, das Herrlichste bleibt unfruchtbar im vulgären Sinn, wird »Eros der Ferne«.

Wie das Satyrspiel stets die Tragödie begleitet, so gibt spätere Legende dem Fährmann Phaon als Geschenk der Aphrodite in einem Alabastertigel das Mittel ewiger Schönheit. Alle Weiber werden nun toll nach ihm. Er rettet sich vor dem Ansturm hinter Türen, immer neue Türen, jede von einem sehr potenten Dämon bewacht, an dem die Frauen erst vorüber müssen. Sappho, ebenfalls selber liebestoll, rettet sich aber, der Sage nach, durch den Sprung vom Leukadischen Felsen in das Meer des Vergessens.

Wieder zu andern Zeiten wurde dann dieser Leukadische Felsen ein Stück Sächsische Schweiz des Gefühls. Es gehörte zur Mode, sich als Heilmittel gegen unglückliche Liebe von ihm zu stürzen. Allerdings mit Schwimmgürtel und viel angeklebten Federn auf den Armen, um Sturz und Anprall zu dämpfen. Unten wartete immer schon eine Flottille von Kähnen auf die Lebensmüden; die Selbstmörderrettungsindustrie blieb lange Zeit ein blühendes lesbisches Geschäft.

Ein einziger Dichter reicht annähernd an Sappho heran: Anakreon, »der Krieger, Trinker, Erotiker«. »Knabenlieder zur Leier singend, stolpert er umher«, denn bei Wasser ist noch niemandem etwas eingefallen, und preist Dionysos: »Herr, den Eros, der Jungstier, und die blauäugigen Waldmädchen und die purpurne Aphrodite umtanzen, auf den Gipfeln des Gebirges, da du weilst!« – »Nun wirft mich Goldhaar Eros mit seinem Purpurball und fordert mich auf, mit der Dirne im bunten Schuh zu tanzen.« Gut, als Erfahrener, auf der Höhe des Lebens, weiß er die Jugend zu kirren: »Thrakisches Füllen, was fliehst du mich ohne Mitleid mit scheuem Seitenblick, du scheinst mir noch nichts Ordentliches zu verstehen. Glaub mir, ich könnte dir den Zaum richtig anlegen, mit festem Zügel dich an das Ziel der Bahn zu lenken!« Alternd aber fürchtet sich das müde, große Herz: »Da treibt mich wieder Eros mit allen Lockmitteln ins Netz, dem man sich nicht entwindet; und sein Blick unter den langen Wimpern ist so schmelzend, ja, ich zittre vor seinem Kommen wie das sieggekrönte Rennpferd, wenn es altert, ungern mit dem schnellen Wagen auf die Rennbahn geht.«

Sie, die große Liebende, aber wird nie schwach, fürchtet die ewigen Abschiede nicht, flüchtet nie in die Feigheit ausgeflachter Gefühlslagen.

»Wir wissen es wohl, Sterblichen ist nicht vergönnt
Ihres Daseins Wonne zu halten, doch süßer noch scheint
Leidvolle Sehnsucht nach verlorner Liebe
Als blasses Vergessen einstigen Glücks.«

Nie bricht sie der Flamme die Treue, mag sie ihr auch Haus und Habe verbrennen. Doch das Feuer selber wandert weiter, unbeständig hier, goldrot über Pindar, der als Greis in den Armen eines schönen Lieblings stirbt.

Unter den neuen Fragmenten ist ein Dialog mit Gongyla, »dem Knödelchen«, über den Tod. Sappho hat geträumt, Hermes als Todesbote sei gekommen, sie auf die elysische Seite des Mondes zu führen, wo sich die Seelen auflösen wie die Körper in der Erde. Ihr ist es recht:

»Nicht mehr lohnt mir das Leben,
Seit Liebe mich zu verlassen beginnt,
Bereit bin ich zum Tod
Trotz anderm Gewinn an Reichtum und Ruhm,
Nur bitte ich zu meiner Stunde, daß du (Hermes) mich
Pflanzest in das tauige Tal, um wieder aufzublühn vielleicht
In Schönheit und Duft, der Liebe herbeizieht,
Doch mit freundlichem Geschick
Nicht unedle, sondern große Seelen allein


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