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Elftes Kapitel

Ein andrer Tag und ein andrer Himmel. Das sonst so blaue Wasser des Golfs von Mexiko ist bleigrau und undurchsichtig wie die Nordsee in schwerem Sturme, und der Himmel, der sich darüber wölbt, ist ebenfalls in düsteres Grau gehüllt.

Der Dampfer rollte heftig in der schweren See, die ihn von der Seite traf, und der Eisenbeschlag seines unteren Decks glänzte, als ob er frisch gefirnißt wäre, wenn man ihn sehen konnte. Das war jedoch nicht oft; denn meist war das Deck mit einer zischenden, tosenden Wassermasse bedeckt, die durch neue Sturzwellen ersetzt wurde, noch ehe sie ganz durch die Speigaten wieder abgelaufen war.

Es war gegen Abend, zwanzig Stunden nach Unterdrückung der Meuterei, und die drei Männer auf der Kommandobrücke waren die einzigen, im Freien sichtbaren, menschlichen Wesen. In der Mitte klammerte sich ein Schiemann in die Speichen des Steuerrades und hielt die Augen mechanisch auf die tanzende Kompaßscheibe gerichtet. Je nach der Bewegung der Brücke unter ihm bald bergan, bald bergab steigend, machte der dritte Steuermann in Gummistiefeln, die ihm bis an die Mitte des Oberschenkels reichten, und mit den Händen im Leibgurt seiner Beinkleider, seinen Gesundheitsspaziergang. Als wachhabender Offizier wandte er jedesmal, wenn er am Kompaßhäuschen vorbeikam, pflichtgemäß seine Augen nach vorn und musterte den nebligen Gesichtskreis mit vollkommen gleichgültigem Blick. Es war ein ältlicher Mann, für den das Meer keine Ueberraschungen, kein Interesse, keine Freuden mehr hatte.

Der dritte Mann des Kleeblatts auf der Brücke saß auf einem Feldstuhle in Lee der Wetterwehr aus Segelleinwand. Sein Kopf war vornüber geneigt, so daß sein spitzer, roter Bart seine Brust berührte. Die mit Pantoffeln bekleideten Füße hatte er gerade vor sich ausgestreckt und seine Hände tief in die Taschen seiner Jacke begraben. Jedesmal, wenn sich die Schritte des dritten Offiziers näherten, öffnete er die Augen und sah sich einen Augenblick um, dann schlief er weiter. Dieser Fähigkeit, buchstäblich Augenblicke schlafen zu können, verdankte es Kapitän Kettle, daß er am Ende seiner zwanzigstündigen Wache auf der Kommandobrücke so frisch war, als ob er eben eine ganze Nacht erquickend geschlummert hätte, und diese Wachsamkeit war notwendig, denn der erfahrene Kapitän wußte sehr wohl, daß sich die Hälfte seiner Leute ein wahres Vergnügen daraus machen würde, ihn über Bord zu werfen, wenn es ohne eigene Gefahr geschehen könnte.

Jetzt schüttelte er den letzten Rest der Müdigkeit ab und wandte sich vollkommen wach nach der Brückentreppe um. Dort erschien ein schwarzer Kopf mit sauber rasiertem, aufgewecktem, entschlossenem Gesicht, dem der dazu gehörige schlanke und sehnige Leib folgte.

»Aha, Mr. Onslow, bringen Sie mir etwas zu beißen? Besten Dank. Was denn? Belegte Brötchen und Thee? Könnte gar nichts Besseres sein.«

»Ich habe auch noch Whisky in der Tasche.«

»Das ist jetzt nichts für mich. Warten Sie, bis wir an Land sind, dann will ich mit jedem um die Wette trinken.«

Der dritte Offizier pflanzte sich soweit vom Kapitän auf, als seine Pflicht es gestattete, wie wenn er jedem zufälligen Beobachter zeigen wollte, daß er mit dem unbeliebten Kapitän keinen außerdienstlichen Verkehr unterhalte, und Kettle machte seinen Gefährten mit einem essigsauren Grinsen auf diese Bewegung aufmerksam.

»Was wird der da diese Nacht anfangen, wenn der Spaß losgeht?« fragte Onslow.

»Ausreißen wie eine Ratte. Vielleicht würde er Mut zeigen, wenn er dafür bezahlt würde, aber da das nicht der Fall ist, wird er sich die größte Mühe geben, seine häßliche Haut in Sicherheit zu bringen. Der ist nicht der Mann danach, um der Gefahr selbst willen an einer gefährlichen Ecke Gefallen zu finden.«

»Sie sind gerade das Gegenteil, Kapitän,« rief Onslow lachend.

»Das ist richtig,« erwiderte Kettle, aber sein Gesicht verdüsterte sich dabei. »Manchmal bin ich so; hol der Teufel mein kampflustiges Blut!«

»Ihre Schwäche in dieser Richtung kam mir gestern sehr zu statten.«

»Da haben Sie recht, Mr. Onslow. Bei Gott, ich war drauf und dran, mit diesen Spitzbuben gemeinsame Sache zu machen und zu nehmen, was ich konnte. Es war keine kleine Versuchung, und was die Ehrenhaftigkeit anlangt, so wär's ziemlich Hose wie Jacke gewesen, ob ich das gethan, oder Ihr und Shelfs sauberes Plänchen ausgeführt hätte. Aber das Gesalbadere des verdammten Holländers konnte ich nicht verknusen. Hätte er seinen albernen Mund gehalten, so wüchsen jetzt Korallen durch die Kielplatten der ›Port Edes‹, und ich wäre ein Mann mit drei- bis fünftausend Pfund. So liegt die Sache.«

»Dann muß ich mich wohl bei dem Holländer bedanken, daß ich jetzt noch eine heile Gurgel habe?« fragte Onslow.

»Nein,« entgegnete Kettle, »das glaube ich doch nicht. Ich denke mir, sie würden Vernunft angenommen und mitgeteilt haben, und außerdem hätte ich Ihnen zur Seite gestanden, besonders wenn diese Menschen gemeint hätten, es wäre besser, Sie zu beseitigen. Was haben Sie denn diesen Nachmittag getrieben?«

»Hauptsächlich habe ich Doktor bei einem kranken Heizer gespielt. Die Temperatur da unten war einhundertundfünf Grad Fahrenheit, und da er sich damit amüsierte, kondensiertes Wasser literweise zu trinken, waren Magenkrämpfe die ziemlich natürliche Folge. Man schaffte ihn durch den Ascheschacht nach oben, und Ihr Steward doktorte ihn mit Chlorodine, Opiumtinktur und Rhabarber. Die Wirkung war nicht gerade ermutigend.«

»Ja, ja, man weiß nie, was man mit der Innerlichkeit eines kranken Heizers anfangen soll. Aber eine von diesen Arzneien hätte ihn doch 'rumbringen müssen.«

»Das hat vielleicht auch eine gethan, aber die andern zwei schienen nicht für sein Leiden zu passen.«

»Na, er hat sie ja umsonst bekommen, und da sehe ich wirklich nicht ein, daß er Grund hätte, sich zu beklagen. Wie versessen diese Kerle auf Arznei sind! So was ist noch nie dagewesen. Sie haben die große Kiste schon fast leer getrunken, und wenn ich ihnen den Willen gelassen hätte, so hätten sie das Dreifache vertilgt. Was haben Sie denn mit dem Kerl angefangen? In der Kiste sind zehn Sorten Pillen, einige davon wundervoll. Sie hätten's einmal mit ein paar von den silberüberzogenen versuchen sollen, die mit C. bezeichnet sind. Das sind die richtigen Rachenputzer.«

»Ja, sehen Sie, er war schon ausgeputzt genug, und wenn ihn nicht einer festgehalten hätte, wäre er über Bord gesprungen, um seine Schmerzen gründlich los zu werden. Deshalb habe ich ihm ein großes Glas unverdünnten Whisky gegeben, und das schien ihn nach und nach wieder auf den Damm zu bringen.«

»Sie sind doch noch grüner als ich dachte, Mr. Onslow,« knurrte Kettle. »Wenn unsre Reise noch länger dauerte, würde die halbe Mannschaft krank werden, um eine solche Arznei zu bekommen. Sie sind schon schlimm genug hinter richtiger, bitterer Doktorarznei her, aber ein Wasserglas Whisky und ein paar Stunden faulenzen, dafür läßt sich jeder Seemann ein Ohr und drei Zehen an jedem Tage abschneiden. Indessen werden der erste Maschinist und der Oberheizer schon dafür sorgen, daß er sich nicht allzu lange drückt. Die haben alle miteinander keine Lust, die Arbeit eines andern zu thun. Holla! Sehen Sie die Brandung dort in Lee?«

»Die Tortugas?«

»Ja, die Dry Tortugas. Auf einer von den Inseln ist ein Yankeezuchthaus.«

»Bitte, sprechen Sie nicht davon!«

»Wir sind bald weit genug westlich,« entgegnete Kettle grinsend, »und dann müssen wir einen ziemlich genau nördlichen Kurs einschlagen, damit wir dem Golfstrom aus dem Wege gehen und das Schiff Ihrer Einfahrt so nahe als möglich bringen, ehe wir uns die Mannschaft vom Halse schaffen,« fügte er leise hinzu.

»Dann kommen wir aber ins Fahrwasser aller Schiffe, die von den nördlichen Golfhäfen nach Europa segeln.«

»Das weiß ich, und wir müssen's darauf ankommen lassen, daß wir nicht gesehen werden, obgleich sich eine regelrechte Handelsstraße nach den Dry Tortugas zieht. Da haben wir ja schon eins. Sehen Sie sich mal die alte Windmühle an.«

Er wies mit dem Daumen nach einer grün angestrichenen hölzernen italienischen Bark, die in einer Entfernung von noch nicht einer viertel Meile vorüberkam. Sie segelte fröhlich heimwärts, und ihr Bug durchschnitt die See, daß die Wellen bis zum Klüverbaum aufspritzten. Ihr Kapitän ließ gerade die Segel verkürzen, und ein Dutzend bunt gekleideter, malerischer Lumpenkerle stand auf der Voroberbramrahe und bemühte sich, die flatternde Leinwand in den Beschlagseisingen fest zu machen.

»Die feigen Welschen!« sprach Kettle verächtlich. »So machen sie's immer. Die Kreuzsegel werden gerefft, sobald es dunkel wird, und wenn auch nur eine Mütze voll Wind weht. Donnerwetter! Bei so 'ner Brise ließe ich alle Oberbramsegel auf dem alten Zuber stehen. Und doch sagen die Leute, daß in einem Fahrzeuge dieser Art Poesie stecke, während das bei einem Dampfer nicht der Fall sei und nie der Fall sein werde. Der Grund liegt wahrscheinlich darin, daß ein Dichter ein Mann sein muß, der von den Dingen, worüber er schreibt, nicht das mindeste versteht. Ich lobe mir ein flottes Dampfboot, Mr. Onslow, darin steckt so viel Romantik, als ein alter Seemann brauchen kann, besonders in den Heizern, und er weiß sie auch zu würdigen, wenn er sie auch nicht zu Papier bringen kann.«

»Ich glaube, Sie haben recht,« entgegnete Onslow nachdenklich, »und eines schönen Tages wird ein neuer Dana oder Michael Scott von der Kommandobrücke, oder einer elektrisch erleuchteten ersten Kajüte oder einem Maschinenraum mit künstlich gesteigertem Zug ans Land gehen und uns alles schildern. Aber,« fuhr er, plötzlich ernst werdend, fort, »lassen wir für jetzt das einmal in Ruhe. Sie und ich haben in der unmittelbaren Gegenwart mehr zu bedenken, als daß wir Zeit hätten, Vermutungen über die Möglichkeit des Erscheinens eines zukünftigen Propheten aufzustellen.«

»Sehr richtig; aber so vieles kann erst im letzten Augenblick entschieden werden, daß ich nicht einsehe, was es nutzen soll, jetzt darüber zu reden. Nebenbei bemerkt, sind Sie auch sicher, daß Ihre Explosion im Zwischendeck nicht zu stark werden wird? Es wäre ein fauler Zauber für uns, wenn diesem alten Kasten der Boden in vollem Ernst durchgeschlagen würde.«

Die Sonne war inzwischen völlig untergegangen, der junge Mond segelte hoch oben am Himmel zwischen jagenden Wolken, und in diesem weißen, wechselnden Lichte sah Onslow bleich und besorgt aus.

»Nein, ganz sicher bin ich nicht und das ist's, was mich beunruhigt. Ich wage es nicht, meine Bombe zu schwach zu laden. Wenn unsre Explosion nichts wird als ein Sprühteufel und die Bemannung keine wirkliche Angst kriegt und ausreißt, so werden sie das Schiff nach New Orleans bringen, wir mögen wollen oder nicht. Dort würde es untersucht werden. Das Zulaßventil könnte ein Blinder sehen und wegerklären läßt es sich nicht. Sie wissen ja selbst, daß es so groß ist wie ein Schleusenthor.«

»Alle Schlagpumpen im Golf von Mexiko zusammengenommen, könnten gegen das Ventil nicht aufkommen, wenn es einmal ordentlich aufgedreht ist. Es ist die rascheste und schlaueste Art, ein Dampfboot unter Wasser zu setzen, wovon ich je gehört habe. Aber ich sehe nicht recht, wie das Ventil aufgedreht werden soll.«

»Das können Sie ruhig mir überlassen.«

»Sie scheinen Uebung in diesem Spiel zu haben,« entgegnete Kettle mit einem höhnischen Grinsen.

»Nein, die habe ich nicht,« erwiderte der andre rasch. »Noch nie zuvor habe ich meine Finger in eine so häßliche und schmutzige Sache gesteckt, und gerade, weil ich diese Erfahrung nicht noch einmal zu machen wünsche, gehe ich diesmal auf einen so großen Nutzen aus, oder verliere mein Leben dabei. Ich habe dieses wilde, unstete Dasein satt. Ein Frauenzimmer hat mich soweit gebracht, aber ich glaube, wenn ich die Mittel hätte, mich irgendwo behaglich niederzulassen, würde ich sie vergessen und neues Interesse am Leben gewinnen.«

»Nun,« entgegnete Kettle, »dann hoffe ich, daß jeder von uns bei diesem Knall Geld genug verdient, eine Farm kaufen zu können; aber ich sage Ihnen ganz offen, daß ich nicht allzu viel Vertrauen in die Sache habe. Zunächst können wir beide allein dieses Dampfboot nicht in Fahrt halten; es ist ganz unbedingt notwendig, daß wir mindestens noch einen Mann haben, der uns hilft. Sie müssen das Steuer nehmen und uns durchlotsen, wenn Sie können, und ich muß unten im Raum sein. Wenn Not an Mann geht, kann ich die Maschine wohl im Gange halten, obgleich ich nicht allzu viel davon verstehe, aber ich kann nicht gleichzeitig sechs Kessel, jeden mit zwei Feuerungen, heizen und dazu auch noch die Kohlen aus den Bunkern ziehen. Ich glaube, der Oberheizer ist der Mann, den wir brauchen können. Er kennt sich da unten aus, ist stark wie ein Elefant, und ich glaube, er weiß, auf welcher Seite sein Brot mit Margarine beschmiert ist.«

»Ja, da bin ich mit Ihnen einverstanden. Wir wollen den Oberheizer nehmen, wenn er zu haben ist.«

»Warum sollen wir nicht gleich einmal bei ihm auf den Busch klopfen?« meinte Kettle.

»Um Gottes willen nicht! Wir dürfen keiner Menschenseele auch nur die kleinste Andeutung von diesem Höllenplane geben, bevor er in vollem Gange ist. Was denken Sie! Wenn nur davon geflüstert würde, erhöbe sich die ganze Besatzung wie ein Mann und würde sich an uns machen, ohne sich viel an unsre Pistolen zu kehren. Sie kriegten es so mit der Angst, daß sie sogar gerade auf ein Maximgeschütz losgehen würden. Nein, mein Hals juckt mich so schon genug, und wenn irgend jemand an Bord außer uns beiden wüßte, was diese Nacht vorfallen wird, hätte ich das Gefühl, als ob mir eine hanfene Schlinge innerhalb meines Kragens um den Hals läge, und als ob ein halbes Dutzend Leute am andern Ende des Strickes sachte zu ziehen anfingen.«

»Hören Sie, Mr. Onslow,« fragte der Kapitän, »reut es Sie, diese Reise unternommen zu haben?«

»Reuen?« entgegnete der andre mit einem rauhen Lachen. »Was haben Sie sich denn auf einmal in den Kopf gesetzt? Wenn ich mich auf irgend etwas einlasse, überlege ich mir alles vorher und erspare mir hinterher nutzloses Bedauern. Nein, Kapitän Kettle, was ich angefangen habe, vollende ich, einerlei, ob es sich ohne Schaden für ein einziges menschliches Wesen durchführen läßt, oder ob es sämtlichen in diesem Schiffe befindlichen Leuten den letzten Atemzug kostet. Aber ich gestehe Ihnen offen, ich bin unruhig. Das Einzige, was stets sicher eintritt, ist das Unerwartete; darauf können wir uns nicht vorbereiten, und dieser Mangel an Vorbereitung kann uns zu Grunde richten.«

»Es ist ein gewagtes Spiel,« stimmte Kettle zu, »und ich wollte, ich könnte sagen: Gott helfe der guten Sache; aber das kann ich nicht, Sie können's auch nicht, und am allerwenigsten kann's Shelf. Gehen Sie jetzt hinunter in Ihre Koje und sehen Sie zu, daß Sie ein paar Augen voll Schlaf kriegen. Sie werden ihn nötig haben. Aber wenn Sie's erlauben, möchte ich Ihnen erst noch einmal die Hand schütteln. Sie sind ein anständiger Mann, und ich glaube, wenn kein Frauenzimmer dazwischen gekommen wäre, würden wir schwerlich heute abend Schiffsgenossen sein.«

Beinahe verschämt sahen sie sich an und tauschten einen raschen Händedruck; dann stieg Onslow pfeifend die Treppe hinab, und Owen Kettle machte es sich wieder auf seinem Feldstuhle bequem. Beim nächsten Zusammentreffen dieser Männer sollte das Trauerspiel der »Port Edes«, in dessen Verlauf vielleicht beider der Tod in zehnfacher, furchtbarer Gestalt wartete, seinen Anfang genommen haben!



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