Edward Bulwer-Lytton
Godolphin oder der Schwur
Edward Bulwer-Lytton

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zwei und zwanzigstes Kapitel.

Lucillas Flucht. – Verlegenheit der Lady Erpingham. – Veränderung in Godolphin. – Allgemeine Wahlen.

Konstanze schickte noch an demselben Abend nach dem berühmtesten Arzte in London, jenem feinen, geschmeidigen Manne, der für die Krankheiten eines Boudoirs geschaffen scheint, der aber unter seinem zuvorkommenden Wesen eine tiefe und genaue Kenntnis verbirgt, genau freilich nur in Vergleich zu Andren, denn eine positive Kenntnis der Pathologie besitzt eigentlich niemand in unsern civilisirten Ländern. Man heilt uns nicht; das höchste ist, daß man uns nicht umbringt. Konstanze erzählte diesem Arzte mit möglichster Schonung den unglücklichen Zustand Lucillas und die Angst, welche ihr deren geistiger und körperlicher Zustand einflößte. Der Doktor versprach, Tags darauf vorzusprechen; er fuhr schon Mittags hin – Lucilla war fort. Geheimnisvoll, wie ein Traum, war sie gekommen, um zu warnen, zu schrecken und zu verschwinden. Niemand wußte, wohin sie sich gewendet hatte, die Mohrin allein hatte sie begleitet.

Konstanze machte diese Nachricht tiefen Kummer, denn sie hatte bereits Luftschlösser gebaut, welche die arme Lucilla mit hergestellter Gesundheit und ohne den Schmerz der Vergangenheit bewohnen sollte. Noch hoffte die Gräfin, daß Lucilla ihr wenigstens schreiben und ihr ihren Aufenthaltsort anzeigen werde, aber Tage gingen vorüber und es kam kein Brief.

Konstanze erkannte, daß ihre freundlichen Absichten in Bezug auf Lucilla unerfüllt bleiben sollten. Sie wußte nicht, ob sie Godolphin ihre Unterredung mit Lucilla mittheilen sollte, oder nicht. Sie sah, welch tiefes, schmerzliches Interesse das Andenken an ein so ungewöhnliches, phantastisches Geschöpf in einem Herzen weckte, welches so gern sich zu düsteren Betrachtungen hinneigte und sie zitterte bei dem Gedanken, welche Gefühle die Schilderung der Geisteszerrüttung einer Person in ihm erregen müßte, deren Leben er so schrecklich zerstört hatte. Sie beschloß daher, für den Augenblick und bis jede Hoffnung verschwunden sey, Lucilla wieder zu entdecken, Godolphin Alles zu verschweigen. Sie wurde in diesem Entschluß nur bestärkt, als sie sah, daß er nach und nach sich überredete, Lucilla's Erscheinen am Fenster sey nur eine Wirkung seiner erhitzten Phantasie gewesen. Seine Nächte blieben wieder frei von den schrecklichen Träumen, welche ihn bisher gemartert hatten und selbst die kalte, überlegte Konstanze konnte sich kaum des Gedankens enthalten, daß, als Lucilla in der Nähe war, eine geheime Sympathie zwischen Godolphin und der Sternenseherin auf seine Träume gewirkt habe, die mit ihrer Entfernung verschwunden sey.

Zum erstenmal zeigte sich auch jetzt eine merkliche Veränderung in Godolphins Gewohnheiten, die nach und nach selbst seine Denkweise ergriff. Die Verschwendung hatte keinen Reiz mehr für ihn, der leichte Witz seiner Schmeichler machte keinen Eindruck auf ihn, und derselbe Durst nach Idealen, welcher ihn in den höheren Zweck des Lebens verstimmt hatte, verleidete ihm auch dessen schimmernde Freuden.

Die Veränderung war natürlich und die Ursache nicht schwer zu ergründen. Godolphin hatte jetzt ein Alter erreicht, wo der Karakter eines Menschen immer einem großen Wechsel unterliegt, wo eine Krisis in dem Fieber des Lebens eintritt und unser moralischer Tod oder unsere Wiedergeburt feierlich besiegelt wird. Es traf sich, daß durch einen Zufall in dieser kritischen Periode das lange gelockerte, aber nie zerrissene Band mit Konstanze wieder enger angezogen wurde. Das Reich der Leidenschaft, des unaussprechlichen Sehnens war freilich vorüber, aber es wurde von einer Freundschaft ersetzt, welche in den beiden so lange getrennten Herzen fast wie durch ein Wunder hervortrat. Die Erfahrung der letzten Jahre hatte Godolphin aber gelehrt, wie schaal und unbefriedigend alle andern Banden waren, denen er sich so ganz hingegeben hatte. Er staunte, wenn er neben Konstanzen saß, und ihre Zärtlichkeit an die Vergangenheit erinnerte, ihr Witz die Gegenwart belebte, und seine Phantasie noch Glück und Ruhm über die Zukunft ergoß, daß er so lange gegen die Wonne unempfindlich geblieben war, welche er jetzt in dem Umgange mit ihr empfand. Er vergaß, daß Beider Gefühle und Neigungen mehr geneigt waren, sich in einander zu schicken, daß Konstanze willig seinen Aussichten von einem idealen, falschen Spiritismus zuhörte, und daß er zu ihren sanguinischen Träumen und Plänen ihrer Politik nur noch freundlich, nicht mehr verächtlich lächelte. Zum Glück für sie war es auch eine Zeit, wo jeder, selbst wenn er nie an politisches Treiben gedacht hatte, in den gewaltigen Kampf der Interessen hineingezogen wurde, welcher wenige gleichgültig, niemanden neutral ließ. Jede Coterie hatte ihr politisches Losungswort, jedes Diner ertönte von der Suppe bis zum Kaffee von den Verdiensten der Bill; wohin sich Godolphin auch flüchten mochte, überall verfolgte ihn die Reform, und so drängte sich nach und nach die anfangs verspottete, allgemeine Bewegung auch seinem Geiste auf.

– Warum – sagte er eines Tages zu Radclyffe, dem er im Park begegnete, denn seit der letzten erwähnten Unterredung zwischen Konstanzen und Radclyffe kam dieser nur selten mehr nach Erpingham-Haus – warum sollte ich nicht einen noch unerprobten Versuch machen? Ich hatte mir einen Plan ersonnen und ihn strenge befolgt. Ich habe nur für mich und für das Vergnügen gelebt. Ich habe einen Zauberkreis um mich gezogen, aber dem Zauberer selbst blieb alles schaal und nüchtern. Ich habe geträumt und bin erwacht. Aber welche Lebensweise soll nun an die Stelle derer treten, die ich verlasse? Soll ich wieder England verlassen, irgend einen unbereisten Winkel der Erde aufsuchen? Soll ich mich auf das Land zurückziehen und schreiben, oder soll ich mich mit meinen Zeitgenossen in den großen Schlund der Ereignisse stürzen und den Streit mitkämpfen? Sie sind ein verständiger Mann, Radclyffe, rathen Sie mir.

– Ach – antwortete Radclyffe – es nutzt nicht, jemandem zum Glück zu rathen, der nichts als sich zum Zweck hat. Es gehört entweder Enthusiasmus oder die äußerste mechanische Kälte dazu, uns mit den Sorgen und Kränkungen des Lebens zu versöhnen. Man muß nichts, oder für andere fühlen. Schließen Sie sich einem großen Zwecke an, verfolgen sie ihn muthig, hoffen Sie zuversichtlich auf dessen Erfolg, und Sie werden auf dem Strome desselben, zwar bewegt von Stürmen, aber doch unerschüttert von dem Hauche hingleiten, welcher die individuellen Anstrengungen vernichten würde. Die größern öffentlichen Zwecke lassen uns unseren geringern Privatkummer vergessen. Um glücklich zu seyn, lieber Godolphin, muß man nicht an sich denken. Ein poetisches, begehrliches Temperament nagt an Ihrer Zufriedenheit. Lernen Sie Wohlthun; es ist das einzige Mittel gegen ein kränkliches Gemüth.

Godolphin wurde von dieser Bemerkung um so mehr ergriffen, als er das höchste Vertrauen in Radclyffes innigste Aufrichtigkeit und in seine bewährte Klugheit setzte. Er blickte seinen Rathgeber scharf an und antwortete nach einer kurzen Pause: – Ich glaube wirklich, daß Sie recht haben und daß ich in wenigen kurzen Sätzen das Geheimnis eines unzufriedenen Lebens erfahren habe.

Godolphin hätte gern Gelegenheit gesucht, mehr darüber mit Radclyffe zu sprechen, aber die Ereignisse trennten sie. Das Parlament wurde aufgelöst. Welch eine Masse historischer Begebenheiten liegt in diesen Worten? Im Augenblick, wo der König in diese Maßregel willigte, zeigte auch jedem weitsichtigen Blicke sich die ganze Folge der späteren Ereignisse wie in einem Spiegel. Da das Parlament zur Zeit des wärmsten Enthusiasmus des Volkes aufgelöst wurde, so mußte eine große Majorität wiedererwählt werden. Eine zweite Bill mußte durchgehen, den Pairs vorgelegt werden, und wer sah nicht ein, daß sie, übermüthig und doch ohnmächtig, nachgeben oder untergehen mußten? Von diesem Augenblick an war das Volk geborgen.

Konstanze sah mit dem ersten Blicke, was kommen würde; sie sah es und frohlockte. Die Herrlichkeit war auf immer von den Pairs geschwunden! Ihr Vater war gerächt. Sie hörte ihn verächtlich aus der Tiefe des Grabes herauflachen.

London wurde auf einmal leer. England war nur ein Wahlplatz. Godolphin blieb fast allein. Zum erstenmal überkam ihn ein Gefühl von Erniedrigung, von Bedeutungslosigkeit, welches seine Eitelkeit verletzte und erbitterte. Er war nichts in diesem großen Kampfe. Der bewunderte, geistreiche, glänzende Godolphin, sank unter den gemeinsten Abentheurer, unter den gewöhnlichsten Schreier; ja der niedrigste Bürgersmann, der seinen Stand im Staate fühlte, mischte sich in die Wahl und half in der gewaltigen Schlacht zwischen dem Alten und Neuen. Dies Gefühl gab dem neuen Streben, welches in ihm keimte, einen höheren Schwung und Konstanze bemerkte mit lebhaftem Entzücken, daß er jetzt mit Theilnahme auf ihre Pläne hörte und das politische Feld mit forschendem Blicke untersuchte.

Als er eines Morgens langsam nach Whitehall ging, eilte Radclyffe an ihm vorüber.

– Wohin so schnell?

– Zu Ellice, um die Stadt zu bestimmen, welche ich repräsentieren möchte; kommen Sie mit, Sie können mir vielleicht von Nutzen seyn.

Godolphin nahm Radclyffes Arm an und sie gingen zusammen nach jenem Hause in Richmond-Terrace, welches damals einen merkwürdigen, lärmenden Schauplatz darbot, und als der Punkt, von welchem die Sieger in dem großen politischen Rennen ausliefen, ein gewisses Interesse in den Augen Aller haben muß, sie mögen nun für oder gegen das große Experiment seyn, in welchem gebildetete Leute auf die Probe gestellt werden, ob sie gesunden Menschenverstand in der Wahl eines Stellvertreters zeigen würden.

Godolphin betrachtete dieses aufregende, tumultuarische Schauspiel mit ruhigen Blicken. Die beiden Zimmer waren mit verschiedenen Gruppen gefüllt, die eifrig sprachen, und erhitzt, fieberhaft aussahen. Hier überredete eine Deputation einen schwankenden Kandidaten, schnell zuzugreifen; hier feilschte ein Schottischer Baronet wegen der Kosten mit einem spitzen, bebrillten Advokaten, dessen rollendes Auge währenddes nach einem weniger knauserigen Kandidaten suchte. Dort stand ein bleicher, hagerer Mann, der seine Konstitution vor den Kopf gestoßen, weil er sie in Schedula A votirt hatte, und der jetzt fürchtete, auch sein ganzes politisches Leben möge von nun an in Schedula A liegen.

Wohin Godolphin blickte, sah er nur Leben, Geschäftigkeit, Lords, Abentheurer, Bankerutirer, Grauköpfe, bartlose Jünglinge. Alles drängte sich durcheinander, und doch schien auch hier Alles wieder durch selbstische Absichten geschieden, und jeder in dem andern zugleich einen Anhänger derselben Sache, und doch einen Nebenbuhler zu sehen. An einem Tische saßen mehre Leute und schrieben, und zuweilen schlich das Chaos durch das Zimmer, nicht ohne sogleich von hundert Armen festgehalten und von hundert Zungen angesprochen zu werden.

Es dauerte jedoch nicht lange, so wurde auch Godolphin von diesem Treiben aufgeregt. Niemand kann Alles sich um einen drängen sehen und dabei ganz ruhig bleiben. Alle seine Bekannten winkten ihm in der Eile zu und riefen: Ach, Godolphin! Und um welchen Platz bewerben Sie sich? Und Godolphin schämte sich zuletzt, nur immer antworten zu müssen: Um gar keinen. In diesem Augenblick trat ein berühmter Wahlagent zu ihm. – Kann ich Ihnen in etwas dienen, Herr Godolphin? Ich weiß einen vortrefflichen Sitz in Schedula A. Sie bekommen sein letztes Blut; aber es muß abgezapft werden. Sie verstehen mich?

– Ich denke doch, daß keine Wahl dabei Statt findet.

– Nicht die Geringste.

– Auch kein Diner?

– Auch nicht.

– Keine Reise?

– Nur bis zu Ihrem Bankier.

– Herrliches System! rief Godolphin energisch, und das will man abschaffen! Nein, Hr. *** ich suche keinen Sitz im Parlamente und danke Ihnen.

Der Agent zog ab. Godolphin bereute fast seinen Entschluß, er wollte den Agenten zurückrufen, aber er war bereits in eifrigem Gespräch mit einem andern jungen Mann.

Das wäre gerade das, dachte Godolphin, was für mich paßte. Ich hätte keine Mühe, gar nichts. Was würde Konstanze staunen, sich freuen! Es wäre doch eine Veränderung; und wenn es mich auch bald langweilte, so wäre ich doch mitten im Kreise dieser regen Interessen, die immer der Untersuchung werth sind, wenn auch nur, um über ihr vieles Lärmen um nichts zu lachen. Ich hatte Unrecht und will, um Konstanzens willen, es versuchen.

Godolphin ging zu dem Agenten.

– Ich bitte um Verzeihung, Sir – sagte Hr. ***, der noch den jungen Mann bearbeitete, in einem Augenblick stehe ich Ihnen zu Diensten.

– Nicht einen Augenblick – antwortete Godolphin.

Hr. *** wendete sich widerstrebend zu ihm.

– Hr. ***, Ihr Preis?

– Dreitausend Pfund.

– Was, für die wenigen Monate?

– Aber welche Bequemlichkeit! Nicht einmal eine Reise!

– Das ist wahr. Sie sollen das Geld haben.

– Abgemacht – rief der Agent sich verbeugend.

Wird es auch bei einem reformirten Parlamente sich so bequem machen lassen? dachte Godolphin.


 << zurück weiter >>