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Siebenunddreißigstes Kapitel.
Onkel Ewen bekommt den letzten Urlaub

»Onkel, Onkel! Wach' auf, vom Kriegsschauplatz sind gute Nachrichten angelangt. Eine Schlacht ist geliefert und unser Kaiser Sieger! Wach' auf! Ich bin's, Marcelle.«

Der Korporal lag wie schlafend in seinem Lehnstuhl, aber seine Augen waren weit offen und er atmete schwer. Marcelle, die mit einer Zeitung in der Hand erregt eingetreten war, glaubte zuerst, der Alte schlummere und schüttelte ihn sanft. Als sie jedoch bemerkte, daß er bewußtlos und krank sei, schrie sie entsetzt auf. Die Witwe kam eilig aus ihrem Kämmerchen, wo sie gerade beschäftigt war, herab und nun bemühten sich beide Frauen um ihn, rieben ihm die Hände, wuschen das Gesicht mit Essig, träufelten ihm Cognac ein, aber alles war vergebens.

»Er stirbt!« jammerte Marcelle händeringend. »Mutter, hole doch rasch Plouët, damit er ihm zur Ader lasse! Meister Arfoll sagte neulich, dies sei die einzige Rettung!«

»Soll ich nicht lieber den Geistlichen holen?« fragte die Witwe zögernd. Sie hatte angst, ihr Schwager könne ohne die heiligen Sterbesakramente zu seinem Schöpfer gehen. Die weltlichere und praktischere Marcelle bestand darauf, daß sie zuerst den Barbier hole; wenn jede Hoffnung geschwunden sei, das fliehende Leben zu erhalten, dann könne man darauf bedacht sein, die Seele für das ewige Leben vorzubereiten.

In allerkürzerster Zeit trat der kleine Barbier mit seinen Instrumenten ein und waltete mit gewohnter Geschicklichkeit seines Amtes. Dickes, schwarzes Blut tröpfelte in die Schale. »Er ist sehr schwach und wird sich schwerlich mehr erholen! Wir wollen ihn zu Bett bringen.«

Erst nachdem dies geschehen, öffnete der Patient die Augen und nickte Plouët mit erzwungenem Lächeln zu. Marcelle kniete weinend vor dem Bette, er legte wie segnend seine Hand auf ihr Haupt, Thränen verschleierten seine Augen.

»Kopf hoch, Nachbar! Wie geht's? Besser – was? Ich werde Ihnen etwas erzählen, das Sie sofort gesund machen wird. Unsere Avantgarde hatte einen Zusammenstoß mit den verfluchten Preußen und hat einen glänzenden Sieg davongetragen!«

Onkel Ewens Augen leuchteten auf und seine Lippen bewegten sich, ohne jedoch einen Laut hervorzubringen.

»Vater Plouët spricht die Wahrheit!« bestätigte Marcelle.

»Das ist eine gute Nachricht,« stammelte der Kranke und sank erschöpft in die Kissen zurück.

Die Aufregungen der letzten Wochen hatten seine Kräfte vollständig aufgezehrt. Tag für Tag war er ins Wirtshaus gehumpelt, um seine gewohnten Kaisertiraden vom Stapel zu lassen. Sein Puls raste, in seinen Ohren brauste es beständig wie Meeresrauschen. Die ganze Welt lehnte sich gegen den kleinen Korporal auf und der kleine Korporal sollte mit Gottes Hilfe die ganze Welt schlagen! Sein eigener Stolz und seine hohen Erwartungen standen auf dem Spiel; mit dem Glück des Kaisers stieg und sank das seinige! Der Fall des Kaisers hatte ihm fast das Leben gekostet; nun da dieser sich wie die Sonne aus einer düstern Wolke erhoben hatte, gewann auch Onkel Ewen seinen verlorenen Einfluß zurück. Stolz und glücklich führte er wieder das große Wort zu Hause sowohl wie im Wirtshaus. Aber auch die Freude kann unter Umständen gefährlich werden und so brachte die beständige Erregung die in Derval schlummernde Krankheit zum Ausbruch.

In der Sorge um den Onkel vergaß Marcelle fast ihren eigenen Kummer. Seit dem Verschwinden Rohans hatte man nichts mehr von ihm gehört; sie wußte also nicht, ob er lebe oder tot sei und verbrachte sorgenvolle Tage und angstvolle Nächte. Der Anfall des Alten ging diesmal nicht so rasch vorbei wie die früheren. Infolge der ungeheuren Schwäche mußte er das Bett hüten. Mutter Derval drang in ihn, den Geistlichen holen zu dürfen, aber er wollte nichts davon hören; so angenehm ihm der kleine Curé auch persönlich gewesen – durch seinen offenen Übertritt ins Lager der Feinde hatte er's gänzlich mit ihm verdorben. Dagegen mußte man ihm täglich die Zeitungen vorlesen; zum Glück brachten sie nur gute Nachrichten.

Nach einer Woche hatte er sich wieder so weit erholt, daß er aufstehen und in seinem Lehnstuhl sitzen durfte. Eines Tages trat ganz unerwartet der Wanderlehrer in die Küche. Marcelle erschrak zuerst; als sie aber sah, daß der Onkel ihn freudig begrüßte, schwand ihre Angst. Arfoll vermied jedes heikle Thema, denn er war nicht der Mann, einem Mitmenschen unnötige Qualen zu bereiten. Als er sich nach einer Stunde entfernte, sagte der Korporal: »Ich war ungerecht; er ist ein ganz vernünftiger Mann!«

Arfoll wiederholte am nächsten Tage seinen Besuch und plötzlich sprachen die beiden Männer von Politik. Der Wanderlehrer vermied jeden Widerspruch; ja, er gab rückhaltlos zu, daß nur ein großer Mann so viel Liebe gewinnen und solche Begeisterung erwecken könne wie Napoleon. Seit er den Kaiser mit eigenen Augen gesehen, wundere er sich nicht mehr, daß seine Anhänger mit solcher Bewunderung an ihm hängen! Und ehe Marcelle recht wußte, wie es kam, las er dem Onkel Stellen aus der Bergpredigt vor, denen der Patient andächtig lauschte: »Der Krieg ist doch eine furchtbare Sache und der Frieden das beste!« bemerkte Arfoll, das Neue Testament zuklappend.

»Das ist ganz richtig,« gab der Korporal zu, »aber der Krieg ist notwendig!«

»Er wäre es nicht, wenn die Menschen einander wirklich liebten!«

»Zum Henker, wie kann man seine Feinde lieben? Diese Preußen! Diese Engländer!« knurrte Derval grimmig. Arfoll seufzte und ließ den Gegenstand fallen. Als er sich verabschiedete, folgte ihm Marcelle auf die Straße und fragte zaghaft: »Meister Arfoll, wird er sich erholen?«

»Das weiß ich nicht, er ist ernstlich krank und kein junger Mensch mehr! … Hast du keine Nachricht von deinem Vetter, mein Kind?«

Sie verneinte und kehrte traurig in die Küche zurück. In derselben Nacht herrschte im Dorfe große Aufregung; bonapartistische Gruppen durchzogen singend und lärmend die Straßen; die Nachricht von der Schlacht bei Ligny und dem Sieg der französischen Armee war bis Kromlaix gedrungen.

»Es ist wahr, Onkel, der Kleine hat die feindlichen Ungeheuer von Preußen besiegt und er wird wohl auch die Engländer vernichten!« sagte Gildas mit lallender Zunge. Er hatte, wie so oft in der letzten Zeit, im Wirtshaus wieder einmal über den Durst getrunken.

»Wo ist die Zeitung?« fragte der Alte, am ganzen Körper zitternd. Gildas reichte sie ihm, er vermochte aber nicht zu lesen, die Buchstaben verschwommen ineinander, so daß er das Blatt Marcelle geben mußte, die dann laut daraus vorlas. In jener Nacht konnte Derval vor freudiger Aufregung nicht schlafen. Als Marcelle am nächsten Morgen in die Küche kam, fand sie ihn phantasierend und in heftigem Fieber. Er wälzte sich unruhig im Bette herum, rief seine alten Kriegskameraden mit Namen und sprach zu ihnen von Austerlitz. Ja, er sprang sogar aus dem Bette: »Man bläst zur Reveille!« rief er. »Wo sind meine Kleider?«

Nach vielem Zureden gelang es Marcelle, ihn wieder ins Bett zu bringen. Bald darauf trat der Wanderlehrer ein, aber der Korporal erkannte ihn nicht. Arfoll, der in solchen Dingen große Erfahrung besaß, erklärte den Zustand für sehr bedenklich, was Frau Derval veranlaßte, sofort nach dem Geistlichen zu gehen. Als dieser kam, fand er Onkel Ewen unfähig, die Sterbesakramente zu empfangen, da er das Bewußtsein verloren hatte und seine Seele auf dem großen Schlachtfeld weilte; seine Lippen murmelten beständig die Namen längst verstorbener Kameraden oder den Napoleons. Die Witwe war untröstlich.

»Ach, soll er denn ohne die Segnungen der Kirche sterben?« schluchzte sie.

»Er soll sie empfangen, wenn er mich nur versteht, Mutter Derval,« erklärte der Geistliche und wandte sich dann mit sanfter Stimme an den Sterbenden. »Hören Sie mich, Herr Korporal? Ich bin's, Vater Rolland.«

Marcelle seufzte, Gildas schluchzte wie ein Knabe, Arfoll stand ernst vor dem Bette und fühlte den Puls des Kranken: »Ich fürchte, seine letzte Stunde hat geschlagen!«

»Er war ein braver Mensch, aber ein großer Enthusiast und dieser Sieg von Ligny ist ihm zu Kopf gestiegen,« bemerkte Vater Rolland. »Er hat seinem Kaiser und auch Frankreich treu gedient!«

Der Name des Kaisers schien den Korporal aus der Ohnmacht zu erwecken; er schlug die Augen auf und richtete sie fest auf den Priester, den er aber nicht erkannte.

»Onkel, Onkel, fühlst du dich besser?« fragte Marcelle.

»Ach, du bist's, Kleine? Was hast du von der großen Schlacht gelesen?« – – –

»Jetzt ist's nicht an der Zeit, von Schlachten zu sprechen, Herr Korporal,« unterbrach ihn der Priester, »denn Sie sind sehr krank und werden bald vor dem Richterstuhl Gottes stehen. Ich bin gekommen, um Ihnen die Sterbesakramente zu verleihen und Ihre Seele für die große Reise vorzubereiten. Machen Sie Frieden mit dem Himmel, Herr Korporal!«

Alle Anwesenden zogen sich still aus dem Gemach zurück; Vater Rolland blieb eine halbe Stunde mit dem Sterbenden allein, dann rief er die Anwesenden zurück: »Es ist geschehen; der Ärmste ist nicht ganz bei Sinnen und hat mich nicht erkannt; aber da Gott gut ist, wird es genügen. Der Kranke ist jetzt bedeutend ruhiger und wird demütig und friedlich vor seinem Schöpfer erscheinen.«

»Amen!« rief die Witwe erleichtert.

Während die Anwesenden sich dem Bette näherten, schlug der Sterbende die Lider auf und blickte mit klaren Augen umher. Jetzt erkannte er auch den Priester; ein leichtes Rot färbte seine fahlen Wangen; er erhob mühsam seinen Kopf und rief mit lauter Stimme: » A bas les Bourbons! Vive l'Empereur!«

Mit diesem Kriegsschrei auf den Lippen schwebte er in das große Bivouac der Armee der Toten hinüber.


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