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Zweiundzwanzigstes Kapitel.
Hunger und Kälte

Man mußte, wenn man Rohan Gwenfern wirklich dem Hungertode preisgeben wollte, wie der ehrenwerte Grallon es angedeutet, ihm von allen Seiten die Lebensmittel abschneiden. Das that denn auch der erboste Pipriac. Die Klippen wurden von nun an noch aufmerksamer bewacht als bisher. Es handelte sich nur noch um die Frage, ob die belagerte Festung, das heißt die Grotte, im Sturm genommen werden oder ob man geduldig warten sollte, bis der Deserteur kapitulieren oder vor Hunger umkommen werde. Als Mann der That plädierte Pipriac für einen sofortigen Angriff und entsandte auch infolgedessen einige seiner Leute ins Dorf, um Leitern herbeizuholen. Da sie jedoch mit leeren Händen zurückkehrten, mußte die Belagerung fortgesetzt werden. Niemand sollte dem alten Pipriac nachsagen können, daß ein Bauer ihm auf die Dauer habe Trotz bieten können.

Vorläufig blieb ihm jedoch nichts übrig, als nach St. Gurlott um Leitern zu schicken, die man, wenn schon zu keinem anderen Zwecke, dazu gebrauchen würde, um die Leiche des Deserteurs aus dem verfluchten Loch oben zu holen. Die Rückkehr der Abgesandten wartete er mit der Miene eines Generals ab, der, von seiner Armee umringt, eine Festung belagert.

Das ist jedoch nur bildlich gesprochen, denn infolge der wechselnden Ebbe und Flut eignete sich die Kathedrale durchaus nicht zum Hauptquartier. Auch mußte ja Pipriac von Zeit zu Zeit die auf Posten stehende Wache inspizieren und ihr seine Befehle erteilen. Volle vierundzwanzig Stunden verstrichen, ohne daß der Gefangene ein Lebenszeichen von sich gegeben hätte, trotzdem man kein Mittel unversucht ließ, ihn dazu zu bewegen. Drohungen, wiederholt abgefeuerte Salven, Ermahnungen blieben erfolglos. Um ganz sicher zu gehen und ihm jede Verbindung mit der Außenwelt abzuschneiden, verweigerte Pipriac den Dorfleuten das Betreten der Kathedrale. Marcelle mußte schon zweimal mit Hilfe der Bajonettespitzen weggejagt werden, da die Gendarmen vermuteten, daß sie in der Absicht komme, dem Belagerten Proviant zuzustecken.

Am Morgen des zweiten Tages erhob sich ein heftiger Wind, das Meer war sehr bewegt; gegen Mittag hatte sich der Wind in einen Sturm verwandelt und ehe die Nacht hereinbrach, erhoben sich die Wellen haushoch. Ein wahrer Wolkenbruch ergoß sich, den ein Orkan begleitete. Zwei Tage und zwei Nächte wütete dieses Unwetter immer heftiger sowohl zu Lande als auch zur See. Die Gendarmen verließen ihren Posten nicht und wechselten fluchend und brummend in regelmäßigen Zwischenräumen ab.

In dem Aufruhr dieser stürmischen Nächte hätte Rohan vielleicht flüchten können; aber er versuchte es gar nicht, denn wo in aller Welt sollte er ein nur annähernd sicheres Versteck finden? Vom Dunkel der Nacht geschützt, wagte er zweimal den gefährlichen Aufstieg in jene Nische, wo er damals vor Grallon und den anderen Häschern entdeckt worden war. Das erste Mal vergebens; das zweite Mal ließ dieselbe unerschrockene Hand dasselbe Proviantkörbchen, Schwarzbrot und kräftigen Käse enthaltend, hinabgleiten, so daß er die nächsten Tage vor dem Hungertode geschützt war.

Auf den Sturm folgte eine Reihe ruhiger Tage und heller Mondscheinnächte. Die Belagerer versuchten gar nicht mehr, zu ihm zu gelangen; sie schienen thatsächlich die Absicht zu haben, ihn auszuhungern. In der fünften Nacht machten sie eine wichtige Entdeckung. Als die am obersten Felsen patrouillierende Wache ihre Runde antrat, bemerkte sie eine dunkle, fast auf dem Boden kriechende Gestalt sich langsam fortbewegen. So oft der Mond aus den Wolken trat, lag sie ganz flach auf dem Boden; kaum hatte er sich aber wieder verkrochen, da erhob sich die Gestalt und lief, so rasch sie laufen konnte. Einer der beherzteren Gendarmen folgte ihr auf allen Vieren. Er blieb stehen, wenn sie sich niederkauerte und lief ihr nach, wenn sie lief. Endlich überwand er mit größter Willenskraft seine abergläubische Furcht, faßte sich ein Herz, nachdem er sich zuvor bekreuzigt, sprang vor, hielt die Gestalt an und fand, daß sie aus Fleisch und Blut sei.

Auf seinen Pfiff eilten Kameraden mit Blendlaternen herbei und siehe da: sie leuchteten in das Antlitz der Mutter Gwenfern, die am ganzen Leibe bebend vor ihnen stand. Sie konfiszierten ein Körbchen mit Lebensmitteln und ein dickes Hanfseil. Es schnitt den Leuten ins Herz, die Alte jammern zu hören und ihr verstörtes Gesicht zu sehen. Einige hätten sie auch am liebsten unbehelligt laufen lassen, aber die brutaleren wollten nichts davon wissen und trieben die Arme mit ihren Bajonettspitzen in ihre Hütte zurück, die von dieser Stunde an von Spionen umzingelt wurde. Kein Mensch konnte mehr das Dorf verlassen und sich unbeobachtet den Klippen nähern. – – – – – – – – – – – – – –

»Er wird Hungers sterben!«

»Er wird nicht sterben, Mutter!«

»Jede Hoffnung ist verloren, ihm helfen zu können. Fluch über Pipriac und die ganze Häscherbande!«

»Laß uns beten, Mutter, daß Gott uns aus der Not helfe!«

»Wie kann ich beten, da Gott uns verlassen hat! Gott und der Kaiser sind gegen uns. Mein armes Kind muß sterben, muß Hungers sterben!«

Die alte Gwenfern und Marcelle saßen allein in der Hütte. Sie hielten sich innig umschlungen und weinten bitterlich, denn der letzte Versuch der armen Mutter, ihrem Sohne Lebensmittel zuzuschmuggeln, war gescheitert und schon der Gedanke, daß er nun vergebens auf Hilfe warte, zerriß ihr das kummervolle Herz. Was sie ihm bisher zuführen gekonnt, hatte kaum genügt, Leib und Seele zusammenzuhalten – was sollte nun aus ihm werden? Seit mehr als dreißig Stunden hatte er keinen Bissen Brot zu sehen bekommen; dazu die Finsternis, die Kälte und die vollständige Einsamkeit in der Grotte; es war rein um den Verstand zu verlieren!

Die Angst und die Aufregungen der letzten Monate waren an der armen Frau nicht spurlos vorbeigegangen. Noch viel hagerer und abgezehrter als sonst, ein Skelett, das nur durch die aufopferndste Mutterliebe aufrecht erhalten wurde, beobachtete sie den Lauf der Dinge. Die sich immer häufiger blaufärbenden Lippen deuteten auf ein rasch fortschreitendes Herzleiden. In jenen einsamen Stunden bildete Marcelle, die mit kindlicher Liebe und mehr als kindlicher Pflicht ihr treu zur Seite stand, ihren einzigen Trost.

*

Es ist Zeit, daß wir wieder nach unserem Flüchtling sehen. Die grausame letzte Versuchung, die den stärksten Willen zu brechen vermag, ist an ihn herangetreten: Hunger, quälender Hunger nagt in seinem Magen. Vergangene Nacht hat er die letzte Brotkruste gegessen und heute war ihm kein neuer Proviant zugesteckt worden. Unten am Strande gab es wohl Schellfische genug, aber er wagte es nicht, ihn aufzusuchen. Er mußte wie eine Ratte in der Falle aushalten. Wenn er wenigstens noch etwas Hauttang zum Knabbern gehabt hätte, aber auch das nicht – nichts als das kalte Wasser, welches von den Wänden herabrieselte. Was Wunder, wenn er mit wilder Verzweiflung seine Blicke übers weite Meer schweifen ließ, wo eine Reihe von Fischerbooten wie eine ungeheure schwarze Seeschlange dahinglitt? Wie freudig hatte er sich vor nicht zu langer Zeit dem Fischzug angeschlossen und nun war all das verloren, die Welt für ihn ein verschlossenes Paradies! Ach, wie gerne wollte er sein Kreuz tragen, wenn er nur seinen nagenden Hunger stillen könnte! Bald wurde ihm vor Schwäche schwarz vor den Augen, dann wieder kroch er zur Mündung des »schwarzen Loches« und starrte verzweiflungsvoll in die Tiefe, als ob ihm von dort Rettung kommen sollte.

»Rohan! Rohan!«

Herr im Himmel, ist's ein Traum, ist's Wirklichkeit? Etwas Schwarzes gleitet dort unten. Es ist zu finster, um es deutlich zu erkennen, aber was er jetzt hört, das sind Ruderschläge, sie kommen immer näher.

»Rohan! Rohan! lebst du, bist du oben?«

Das ist Wirklichkeit, das ist Marcelles süße Stimme! Ja, ein winziges Boot hält dicht unter dem Altar und hebt sich, von der auf- und niedersteigenden Flut getragen, in rhythmischen Bewegungen. Eine männliche und eine weibliche Gestalt sitzen darin. Die weibliche erhebt sich und flüstert: »Rohan, um der Barmherzigkeit willen, gieb doch ein Lebenszeichen, wenn du oben bist! Ich bin's, Marcelle. Aber sprich leise, denn wir werden bewacht.«

»Wer ist mit dir im Boote?«

»Jan Goron; wir sind, von der Dunkelheit begünstigt, durch die Porte d'Ingal gerudert, haben jedoch keine Minute zu verlieren. Wir bringen dir Lebensmittel.«

Rohans Augen blitzen freudig auf und er macht sich sofort an den Abstieg, aber plötzlich hört er ein verdächtiges Geräusch. Zwischen Himmel und Wasser schwebend, horcht er aufmerksam auf. Ja, vom Thore her vernimmt er deutliche Ruderschläge. Er klettert wieder schleunigst in sein Versteck zurück und ruft hinab: »Rettet euch, so rasch ihr könnt, die Feinde kommen! Seht, dort dicht unter dem Altar ist noch ein trockenes Fleckchen, dorthin legt den Proviant; sobald die Luft rein ist, hol' ich ihn. Um des Himmels willen, macht, daß ihr fortkommt! Rudere nur dicht im Schatten der Wände, Jan! So könnt ihr den Bluthunden entwischen!«

Marcelle neigt sich rasch aus dem Boote und wirft das Körbchen auf das trockene Fleckchen, erhebt die Arme sehnsüchtig zu Rohan empor, als ob sie ihn umarmen wollte, während Jan das Boot geschickt wendet und, der Weisung folgend, im Schatten der Wände aus der Kathedrale hinausrudert. Kaum haben sie das Thor hinter sich, als eine rauhe Stimme sie anruft: »Hallo, wer da?!«

Im nächsten Augenblick ist ein Boot der Küstenwache hinter ihnen her und zwingt Jans Boot, stillezustehen. Bajonette blitzen im Dunkel auf und die bekannte rauhe Stimme Pipriacs läßt sich vernehmen: »Alle Teufel, das ist ja ein Weib! Die Laternen her, damit wir erkennen, wer zur nächtlichen Zeit Mondscheinfahrten unternimmt.« Man leuchtet Marcelle ins Gesicht und auch Gorons Anwesenheit wird fluchend zur Kenntnis genommen.

»Himmel und Hölle, das schmeckt nach Verrat!« wettert Pipriac. »Was zum Teufel sucht ihr in der Geisterstunde an dem verwunschenen Orte? Wißt ihr, was euch bevorsteht, wenn man euch dabei erwischt, dem Deserteur Vorschub zu leisten? Der Tod, der sichere Tod, auch dir, Marcelle Derval, obgleich du ein Mädchen, ja noch ein halbes Kind bist! In solchem Falle giebt es keinen Pardon! Pflicht ist Pflicht!«

»Mein Gott, es wird doch noch in Kromlaix Fischersleuten erlaubt sein, aufs Meer hinauszurudern?« entgegnet Marcelle mit der unschuldigsten Miene von der Welt, wenngleich ihr Herz unter dem Mieder vor Schreck zu zerspringen drohte.

»Das kannst du den Fischen weismachen, aber nicht dem alten Pipriac! Durchsucht das Boot, Gendarmen!«

André steigt, mit der Laterne in der Hand, von dem großen Boot in das kleine, durchsucht es sorgfältig, findet aber nichts. Es ist charakteristisch für den alten Haudegen Pipriac, daß er, wenn er flucht und wettert, am wenigsten gefährlich ist. Wehe, wenn er seinen Zorn verbeißt! Bei dieser Gelegenheit flucht und wettert er ganz schrecklich, als André im Boote nichts findet. Auf die Frage, ob er Marcelle und Goron verhaften solle, schüttelt Pipriac wie ein gereizter Löwe sein Haupt und brüllt: »Gottes Fluch treffe sie, laßt das Gesindel laufen! Künftig müssen wir aber besser aufpassen. Jan Goron, ich warne dich vor weiteren Mondscheinpartien! Du, Marcelle, stammst aus einer mir befreundeten Familie. Es thäte mir leid, wenn ich dich in Gefahr sähe. Der alte Pipriac hat euch beide nicht gesehen – macht, daß ihr ihm aus den Augen kommt, so rasch als möglich, und laßt es euch gesagt sein, wenn er euch noch einmal zur nächtlichen Stunde an verdächtigem Orte treffen sollte, giebt's keinen Pardon! Vorwärts, marsch!«

Goron läßt es sich gesagt sein und rudert schnell wie der Blitz aus der Sehweite des Sergeant, der heute Gnade vor Recht ergehen ließ. Dicht vor der Hütte Mutter Gwenferns, in der kleinen Bucht, zieht er das Boot ans Land. Pipriac läßt sein Boot durchs Thor des heiligen Gildas in die Kathedrale rudern; da aber hier Totenstille herrscht und die Flut noch im Steigen ist, befiehlt er, umzukehren, denn auch ihm ist dieser Ort zur Nachtzeit nicht recht geheuer. Kaum ist der Ruderschlag in weiter Ferne verklungen, als Rohan mit Katzengeschicklichkeit den Abstieg unternimmt, sich den Proviant sichert und rascher als er hinuntergeklettert wieder hinaufklimmt, sich in seine Grotte zurückzieht, um seinen bittersten Feind, den Magen, zu beruhigen. Mit Hilfe seiner Freunde ist er wieder auf einige Zeit vor dem Hungertode gerettet.

Vierzehn Tage dauert bereits die Belagerung und der Deserteur macht noch immer keine Miene, sich zu ergeben. Das ist geradezu unbegreiflich, unerklärlich, denn der Zugang zur Grotte ist von allen Seiten abgeschnitten. Mutter Gwenfern, Marcelle und das Haus des Fischers Goron werden strengstens bewacht, keine Fliege kann Rohan Nachricht bringen. Wenn er sich nicht gelegentlich in der Mündung des »schwarzen Loches« zeigte, würde man ihn bereits für tot halten. Aber er lebt und ist auf seiner Hut. Die Geduld seiner Verfolger hat die äußerste Grenze erreicht. In Pipriac gewinnt der Gedanke, daß er es mit einem Geist zu thun habe, immer festere Gestalt, denn kein irdisches Wesen könnte auf die Dauer dem Kaiser und den Hütern des Gesetzes so kräftig Widerstand leisten und sich so der Unbill des Wetters, dem Hunger und der vollständigen Einsamkeit aussetzen. Ein Mensch von Fleisch und Blut müßte schon längst den Verstand verloren oder sich ergeben haben. Auf welche Art der Deserteur sein Leben fristete, gehörte mit zu den ungelösten Rätseln, denn daß ihn niemand aus dem Dorfe mit Lebensmitteln versah, das war sicher. Um zu leben, mußte er essen, es konnte ihn also nur ein geheimnisvoller Engel oder ein Abgesandter des Höllenfürsten mit Proviant versehen, oder er war ein überirdisches Wesen, das der Nahrung nicht bedurfte, und dann war seine Verfolgung einfach lächerlich. Mit Pipriac war absolut nicht auszukommen, sein Jähzorn brach bei der geringsten Veranlassung mit elementarer Gewalt hervor.

Was dem offenherzigen, einfachen Soldaten ein unergründliches Rätsel schien, das brachte nach vielen Tagen und Nächten der ausdauerndsten Spionage der heimtückische Mikel Grallon ans Licht. In all der Zeit hatte er den Belagerern seine Dienste geweiht; er kam und ging wie es ihm gerade paßte, äußerte seine Meinung, erteilte Ratschläge oder war als Spion eifrig thätig. Er war Pipriac ein Dorn im Auge, was dieser ihn auch deutlich genug fühlen ließ; aber der Fischer hatte eine dicke Haut, an der alle bissigen Bemerkungen abprallten. Er ließ sich in seinen Nachforschungen nicht beirren; denn er war überzeugt, daß Rohan Gwenfern von menschlicher Hand Hilfe zu teil ward. Er stellte sich die Aufgabe, das Woher und Wie zu ergründen.

Eines Tages steht er in Gesellschaft Pipriacs am Fuße der Triffinesleiter. Sein Blick richtet sich zufällig auf die sich im Westen erhebende Klippe, die zur Kathedrale führt. Hoch oben, für keinen menschlichen Fuß erreichbar, spaziert irgend ein Wesen, das bald gemächlich stehen bleibt, dann wieder in der Richtung der Kathedrale seinen Weg fortsetzt, bis es gänzlich in der Gegend von Rohans Versteck verschwindet. Da kommt es plötzlich wie eine Erleuchtung über Grallon und er wendet sich erregt an den Sergeant, der, von seinen Gendarmen umgeben, verdrießlich auf einem Steinblock sitzt: »Blicken Sie doch dort hinauf.«

»Was zum Teufel giebt es dort zu sehen?« schnauzt ihn Pipriac wütend an. »Halte deine Großmutter zum Narren, nicht uns!«

»Sehen Sie denn die Ziege nicht?!«

»Hol' dich der Teufel mitsamt der Ziege! Was geht sie mich an?«

»Vielleicht mehr als Sie denken; denn marschiert sie nicht alle Tage unbehindert ins ›schwarze Loch‹, um ihrem Herrn Nahrung zu bringen? Wie thöricht von uns, nicht früher daran gedacht zu haben!« rief Mikel kichernd.

»Schneid' keine Grimassen wie ein Aff'!« schrie ihn Pipriac an, »sondern erklär' dich deutlicher, Schlaukopf, der du bist!«

»Ich hege den Verdacht, nein, jetzt weiß ich's ganz bestimmt, daß Frau Langbart mit im Komplott ist. Wandert sie nicht täglich von Gwenferns Hütte zu seinem Versteck und zurück? Kann man in ihrem dichten Fell nicht ganz bequem ein Stück Brot oder dergleichen verstecken? Das genügt, um den Menschen am Leben zu erhalten. Sehen Sie doch, sie ist im ›schwarzen Loch‹ verschwunden; wenn wir noch ein Weilchen aufpassen, können wir sie den Rückweg antreten sehen.«

Pipriac durchbohrte Grallon förmlich mit seinen, wie feurige Kohlen glühenden Augen; dann erhob er sich und hielt mit seinen Leuten eine längere Beratung, die zu dem Beschlusse führte, die Ziege fortan genau zu beobachten.

Schon am nächsten Tage wurde die arme Jannedik während ihres gewöhnlichen Streifzuges über die Klippen abgefaßt, aber da man trotz der sorgfältigsten Untersuchung ihres Felles nichts Verdächtiges fand, wieder laufen gelassen. Am darauffolgenden Morgen war Pipriac glücklicher, er entdeckte, hinter ihrem langen Bart verborgen, ein kleines Proviantkörbchen, das mit einem Bande am Halse befestigt war und Brot und Käse enthielt. Nun kam es an den Tag, daß wirklich Jannedik ihrem Besitzer Lebensmittel überlieferte und ihn unbewußt vor dem Verhungern rettete.

»Es wäre nur gerecht, wenn wir das Vieh wegen Verrats am Kaiser sofort niederknallten,« meinte Pierre.

»Laßt es laufen, denn es versteht's ja nicht besser,« brummte Pipriac. »Die vierfüßige Samariterin wird heute ohnedies nicht so willkommen sein wie sonst.«

Die Gendarmen thaten sich an dem für Rohan bestimmten Brot und Käse gütlich und lachten sich ins Fäustchen, als sie daran dachten, daß der Gefangene sich nun bald werde ergeben müssen. Tag und Nacht stand ein Posten vor Mutter Gwenferns Hütte, der alle Ein- und Ausgehenden streng bewachte, namentlich die Ziege, die aber immer seltener ihr Plätzchen am Herde verließ, da sie eines Nachts einem Zicklein das Leben geschenkt und nun getreulich ihre mütterlichen Pflichten erfüllte. Leider starb es schon nach wenigen Tagen; Jannedik schien untröstlich. Der Gendarm schrieb diesem Vorkommnis keinerlei Bedeutung zu – mit Unrecht, wie wir sehen werden.

Wieder vergehen einige Tage und der Deserteur lebt noch immer. Von Regen und Hagel begleitete Winde toben, das aufgeregte Meer brüllt Tag und Nacht, die Belagerer haben gar schlimme Zeiten und sind begreiflicherweise wütend und ungeduldig. Wie lange soll denn dieser aufreibende Patrouillendienst noch dauern? Der Deserteur befindet sich, von all diesen Wetterunbilden geschützt, in seiner sicheren Feste, während die Diener des Kaisers triefend, wie ertrunkene Ratten, ihre Häscherdienste versehen müssen. Namentlich Pipriac ist ganz aus dem Häuschen, denn er schämt sich dieses leidigen häßlichen Geschäftes; aber Pflicht ist Pflicht und er muß schandenhalber auf dem Posten ausharren.

Während die Gendarmen, bis an die Ohren vermummt, trotz Wind und Wetter die Belagerung im kleinen unentwegt fortsetzen, kommen ihnen vom großen Kriegsschauplatz drüben am Rhein vereinzelte Nachrichten zu, die nicht gerade rosig lauten. Napoleon hat einige kleine Niederlagen erlitten, mehrere seiner alten Verbündeten sind abgefallen, aber Pipriac und seine Leute lachen über die Thorheit der Abtrünnigen, die es wagen, an dem endgültigen Siege des großen Eroberers zu zweifeln. Gar bald werden Nachrichten von neuen Siegen Frankreichs die Welt in Erstaunen versetzen! Der umsichtige Mikel Grallon läßt ihnen nicht viel Zeit, sich mit anderen Gedanken als mit denen an Rohan zu beschäftigen. Sie stehen unterhalb der Klippe, Grallon lenkt die Aufmerksamkeit Pipriacs nach oben: »Sehen Sie doch, die verfluchte Ziege geht jetzt öfter denn je in den ›Trou‹.«

»Was ist weiter dabei? Sie geht ohne Proviant hin – dafür sorgen wir schon. Du bist ein Esel, mein superkluger Fischer!«

»Sie übersehen eines, verehrter Herr Sergeant! Wenn Sie daran gedacht hätten, würden Sie der Bestie längst den Garaus gemacht haben,« unterbricht Mikel, vor Zorn bebend, Pipriac. »Das Zicklein ist krepiert und der Euter der Ziege ist voll. Es thut ihr wohl, wenn er täglich geleert wird und Gwenfern besorgt dieses Geschäft – – –«

»Zum Teufel, bist du aber ein schneidiger Kerl! Woher hast du diesen Scharfsinn, Fischer? Ein Riese, wie Rohan, kann nicht von Ziegenmilch allein leben,« schnarrte Pipriac, den es verdroß, von Mikel übertrumpft zu sein. Wie gerne hätte er den zudringlichen Tropf statt Rohan niederknallen lassen!

»Eine Zeitlang doch! Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, Sergeant, würde ich der verfluchten Bestie je eher, je lieber das Lebenslicht ausblasen.«

Während er das sagt, klettert Jannedik in einer Entfernung von einigen hundert Metern grasend über die Klippe. Ein teuflischer Gedanke blitzt in den Augen Pipriacs: »Kannst du schießen, Fischer?«

»Ich kann ein Ziel treffen.«

»Ich möchte auf eine Flasche guten Branntweins wetten, daß du auf hundert Schritt Entfernung kein Scheunenthor treffen kannst! Nichtsdestoweniger sollst du dein Glück versuchen. Hoël, gieb ihm deine Flinte; schieß zu, Fischer!«

»Auf was?«

»Zum Teufel hinein, auf die Ziege! Ich will mal sehen, was du kannst, Maulheld! Also, los!«

Mikel läßt sich mit fest zusammengekniffenen Lippen aufs Knie nieder, erhebt die Flinte und zielt. Er zielt so lange, daß Pipriac höhnisch ruft: »Wird's werden? Donnerwetter, schieß doch, Kerl!«

Ein Schuß, ein Krach und die Kugel fliegt auf das gegebene Ziel los. Einen Augenblick scheint es, als ob sie es verfehlt hätte, denn Jannedik steht noch auf demselben Platze und blickt erschrocken um sich. Hoël entreißt dem Schützen mit einer höhnischen Bemerkung das Gewehr, aber Pipriac ruft, aufwärts deutend: »Alle Teufel! Das arme Vieh ist getroffen – seht, es stürzt ab!«

Die Nische, in der Jannedik steht, ist breit. Das brave Tier sinkt auf die Vorderfüße, sie scheint wirklich angeschossen zu sein, denn sie meckert schmerzlich und wankt, rafft sich aber bald auf und läuft rasch der Grotte zu, in der sie alsbald verschwindet.


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