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Achtes Kapitel.
Der rote Engel

»Denn ich will in dieser Nacht durch Ägyptenland gehen und alle Erstgeburten schlagen … Und das Blut soll euer Zeichen sein an den Häusern, darin ihr seid, daß, wenn ich das Blut sehe, vor euch übergehe …«

Diese Worte flüsterte Jehova in Ägypten vor langer Zeit Moses und Aron zu, und die Osterlämmer wurden geschlachtet, und der Engel des Herrn überging die Häuser, auf denen das Blutzeichen zu sehen war. So wurden die Auserwählten des Herrn gerettet und die Scharen des Herrn verließen das Land Ägypten.

So geschehen in Ägypten vor langer Zeit. Dort waren wenigstens jene, die der Herr liebte, in Sicherheit. Anders in Frankreich am Anfang dieses Jahrhunderts; der Herr war fern und verhielt sich schweigend, auch gab's keinen Moses und keinen Aron, die seine Erwählten aus dem sündigen Lande geführt hätten.

Statt Gottes Passah und statt des Blutes von Lämmern an den Häusern des Volkes herrschte eine große Finsternis. Wohl funkelte auf fast jeder Schwelle ein rotes Zeichen, aber es war nicht ein Gottes-, sondern ein Kainszeichen, keines der Befreiung, sondern eines der Verurteilung.

Wie ein erschöpfter Sturm über die Erde flieht, war Napoleon von Moskau nach Paris geeilt, durch den Verlust einer halben Million Menschen wenig entmutigt, das Wehgeschrei und die Thränen zahlloser Witwen und Waisen kaum beachtend. Wie war er von den Völkern seines Reichs begrüßt worden? Mit Flüchen und Seufzern, mit leidenschaftlichen Bitten und Beschwörungen? Nein, mit Segnungen und begeisterten Zurufen. Die großen Städte seines Reichs – Rom, Florenz, Mailand, Hamburg, Mainz, Amsterdam – legten ihr schönstes Festkleid an und trugen Lilien im Haar. Die hohen Beamten überboten einander in Beglückwünschungen. Der Präfekt von Paris rief aus: »Was sind Menschenleben im Vergleich zu den ungeheueren Interessen, die auf dem geheiligten Haupt des Erben des Reichs ruhen!« Und der Universitätsgroßmeister sagte: »Der Verstand hält inne vor dem Geheimnis der Macht und des Gehorsams und überläßt dessen Erforschung jener Religion, die die Personen der Könige nach dem Ebenbilde Gottes geheiligt hat.« So und noch scheußlicher klang die Musik, nach welcher die gesalbten Erzpriester des kaiserlichen Baals tanzten und lästerten.

Inzwischen öffneten sich die Schleusen des Himmels und begruben die grande armée immer tiefer unter verschwiegenem Schnee. In jedem Heim gab's einen leeren Platz, in jedem Haus ein blutendes Herz, und allenthalben stieg der bittere Schrei auf: »Wir flehen dich an, uns zu erhören, o Herr!«

Aber der Herr, den die Leute anflehten, war nicht Jehova, nicht ein unsichtbarer Allerbarmer, kein Gott des Himmels, von dem der die Toten bedeckende Schnee herabfiel. Der Herr der gebrochenen Herzen war Napoleon, der den Thron Gottes an sich gerissen hatte und sein furchtbares »Es werde!« über eine verwüstete Welt hinrief.

»Wir flehen dich an, uns zu erhören, o Herr!«

Er brütete inmitten seiner Hauptstadt und seine Augen überblickten die stille Erde. Wie eine Spinne im Herzen ihres Gewebes, lag er und lauerte im Herzen seiner Hauptstadt. Das von Paris unter Revolutionswehen geborene Geschöpf, das Kind jenes weltbewegenden Aufstandes, der mit dem Aufschrei befreiter Seelen begann und mit dem Geklirr gefesselter Seelen endete, der aus Feuer geformte Soldat, der Vernichter und Befreier von Königen – er war jetzt als das bekannt, was er wirklich war: ein Avatar, der Beherrscher Europas, der Meisterer und Diktator der Erde. Kein Wunder, daß Verrückte in ihrem Wahnsinn vor ihm wie vor Gott betend niedersanken.

»Wir flehen dich an, uns zu erhören, o Herr!«

Wenn er hörte, lächelte er. Wenn er verstand, lächelte er ebenfalls. Aber wir dürfen annehmen, daß er weder verstand noch hörte. Ein Avatar kann nicht verstehen, denn er hat keinen Verstand; er kann nicht hören, denn er hat keine Ohren. Er besitzt auch keine Augen und kein Herz. Er blickt nicht nach oben, denn er kann Gott nicht begreifen; er sieht nicht nach unten, denn er kann die Menschheit nicht wahrnehmen. Blind, taub, vernunftlos, unbarmherzig, furchtbar ist er, ein Götze, tödlich und sterblich.

Man wird vielleicht einwenden, daß Napoleon das war, was sonderbare Schwärmer zu allen Zeiten einen »großen Mann« genannt haben, und daß er als solcher, wie ja in der That manche seiner Äußerungen und Handlungen zu zeigen scheinen, eminent menschlich gewesen sein muß. Die Erklärung für diese Ansicht ist einfach. Große Männer einer gewissen Gattung sind lediglich infolge ihres Mangels an einzelnen menschlichen Eigenschaften groß. Wie Rousseau groß war, weil er der Scham unfähig war, galt Napoleon für groß, weil er sich als Herrscher unfähig erwies, die Folgen seiner Handlungen zu ermessen, mit anderen Worten: weil er weniger als die »gewöhnlichen kleinen« Menschen imstande war, diese Folgen zu unterscheiden. Wenn er Leiden sah, empfand er Mitleid; er konnte physische Schmerzen in keiner Form mit ansehen, und darum vermied er, gleich Goethe, ihren Anblick sorgfältig. Als ein menschliches Wesen hatte er menschliche Anwandlungen. Als ein »großer Mann« jedoch, als der Eroberer Europas, war er lediglich eine unwissende, unverantwortliche Macht ohne Augen und Ohren, ohne Herz und Vernunft, ein durch einen blinden erbarmungslosen Willen zu düsteren Plänen und verhängnisvollen Thaten gedrängter Automat.

Somit hatten jene nicht ganz unrecht, die von ihm behaupteten, er sei stets von einer gewissen, rotgekleideten Person begleitet gewesen, die sein Vertrauter war. Nur war dieser geheime Vertraute seine eigene wunderbare Erfindung. Thatsächlich war Napoleon der Frankenstein des von ihm selber geschaffenen Kriegsungeheuers, das ihn seit seiner Erschaffung niemals in Frieden schlafen ließ. Dem Volke mochte er ein Gott dünken – dem Ungeheuer gegenüber war er ein Sklave.

»Du hast mich aus dem Chaos geschaffen,« schrie das Ungeheuer, »jetzt füttere mich auch! Meine Nahrung ist: Menschenleben. Du hast mich aus den mächtigen demokratischen Elementen heraufbeschworen – kleide mich! Mein Gewand soll von vaterlosen Kindern gewebt werden. Du hast mich in Gottes Namen geformt – verschaffe mir eine Braut, damit mein Geschlecht sich vermehre und die Erde bevölkere.« Und die Braut hieß – Tod.

»Wir flehen dich an, uns zu erhören, o Gott!«

Vielleicht hätte er diese Bitten vernehmen können, vielleicht vernahm er sie wirklich und zögerte; aber das Ungeheuer ließ ihm nicht Zeit, sondern fuhr fort: »Rasch! Mehr Futter, denn ich bin hungrig! Mehr Gewänder, denn ich habe nur Lumpen auf dem Leib! Eine andere Braut, denn die erste ist mir zu kalt! Weigerst du dich, so verschlinge ich dich mitsamt deinen Nachkommen, deinem Reich und deinen Hoffnungen!«

So antwortete denn der Kaiser dem Ungeheuer (es war 1813): »Sei ruhig und ich will dir zu Willen sein.« Den roten Vertrauten im Dunkel der geheimen Kammer zurücklassend, begab er sich, von seinen Kreaturen angebetet, hinaus und Blumen wurden vor ihm her gestreut, während Musik an sein Ohr drang. Bald war mehr Futter bereit, ein neues Gewand gewebt, eine andere schreckliche Braut herbeigeschafft: Gemetzel, die jüngste von drei Schwestern; die zwei anderen hießen Hungersnot und Feuer. Napoleon kehrte zu dem Monstrum zurück und rief: »Sei mein roter Engel und eile im Dunkel der Nacht durch das Land! Versieh' jedes Haus mit einem blutroten Zeichen und jedes Haus soll seine Geliebtesten dir und deiner Braut überlassen. Denn ich bin Napoleon! Und das Blut sei als Zeichen auf den Häusern, wo unsere Opfer sind!«

»Wir flehen dich an, uns zu erhören, o Herr!«

Der Schrei stieg auf, aber vergebens. Der rote Engel war über das Land hingeflogen und am Morgen befanden sich seine blutigen Zeichen an den Thüren. Zweimalhundertundzehntausend Kinder Frankreichs waren auserwählt und folgten dem Rufe. Wohl wurden keine Osterlämmer geschlachtet, aber jedes der zweimalhundertundzehntausend Kinder des Landes stellte sich selber als Opferlamm.


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