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Siebzehntes Kapitel.
Korporal Derval reitet sein Steckenpferd

Eines Abends vergrößerte Vater Rolland den Kreis in der Dervalschen Küche. Die Witwe saß wie gewöhnlich spinnend in einer Ecke, an ihrer Seite Marcelle, mit einer Näharbeit beschäftigt. Vor dem Feuerherd stand ein bequemer altmodischer Lehnstuhl, in welchem sich's der Geistliche gütlich that. Er hatte seine steife Halsbinde gelockert, damit sein Lieblingsgetränk – Kornbranntwein – leichter hinunterrutsche. Alain und Jannick – nunmehr die alleinigen Vertreter der »Makkabäer« – lungerten auf den Bänken herum, während Mikel Grallon sich Marcelle gegenüber aufgepflanzt hatte und keinen Blick von ihr wandte.

Der alte Korporal starrte sinnend ins Feuer und schien die ganze Gesellschaft total vergessen zu haben. Im Geiste verfolgte er den Marsch der »Großen Armee.« Der kleine Curé paffte eine Weile energisch an seiner kurzen Pfeife und wärmte seine erstarrten Füße, denn es herrschte, trotzdem es Mai war, eine bittere Kälte.

»Korporal Derval! Ihre Gedanken weilen wohl wieder auf dem Kriegsschauplatz und scheinen uns vergessen zu haben?« bemerkte Vater Rolland lächelnd.

Der Korporal erwachte wie aus einem Traume, runzelte die Stirne und that mehrere kräftige Züge aus seiner Pfeife.

»Finden Sie die Behandlung, die er dem Heiligen Vater zu teil werden ließ, gerechtfertigt?« fuhr der Geistliche fort.

Die Blicke aller richteten sich gespannt auf den alten Haudegen; Mutter Derval vermochte einen tiefen Seufzer nicht zu unterdrücken.

»Verzeihen Sie, m'sieu le curé, aber das verstehen Sie nicht,« entgegnete Derval mit überlegener Miene. »All das ist ein Abkommen zwischen dem Kaiser und dem Papste! Es giebt viele, die da behaupten, der Kaiser habe den Heiligen Vater in den Kerker gesperrt – bei Wasser und Brot. Das ist Unsinn! Seine Heiligkeit bewohnte einen prächtigen Palast, speiste auf Silber und ward wie ein Heiliger geehrt. Sie befinden sich in einem Irrtum, wenn Sie unseren Kaiser für profan halten; das ist er nicht, er fürchtet Gott. Ich, der es Ihnen sagt, weiß es bestimmt. Habe ich es denn nicht mit meinen eigenen Augen gesehen, mit meinen eigenen Ohren gehört? Der Kaiser ist gottesfürchtig, das sag' ich Ihnen, der ich noch nie eine Unwahrheit gesprochen habe. Er ist von Gott gesandt worden als Geißel für die Feinde Frankreichs.«

Mikel Grallon nickte zustimmend und rief begeistert: »Bravo, Onkel Ewen! Er hat die verfluchten Deutschen und Engländer ordentlich tanzen lassen!«

Ohne Mikels Rede zu beachten, fuhr der Korporal zu dem Pfarrer gewendet fort: »Ah, es ist eine große Sache, einen Menschen wie Napoleon zu kennen, mit ihm gesprochen, ihn von Angesicht zu Angesicht gesehen zu haben, wie ich. Ja, ich, der ich hier sitze, ich habe in seine Adleraugen geblickt, wie ich jetzt in Ihre Augen blicke; ich habe seinen Atem gespürt, seine Stimme vernommen, zuerst in Cismone und dann noch zweimal. Ich sehe ihn noch immer und höre seine Stimme so deutlich wie die Ihrige, Vater Rolland! Wie oft höre ich sie im Schlafe und springe auf, um nach meiner Kanone zu sehen, sie zu bedienen. Ich glaube, wenn er an mein Grab käme und mich riefe, ich würde aus dem ewigen Schlaf erwachen, um ihm zu folgen.«

Die letzten Worte flüsterte er fast schon, seine Lider senkten sich, wie die eines schlafenden Adlers, während er traumverloren in die helle Torfglut blickte, in der er eine gespensterhafte Armee an seinem geistigen Auge vorbeiziehen sah.

Eine Pause trat ein. Um seine heftige Erregung zu bemänteln, nahm der Korporal eine glühende Torfkohle aus dem Herd und legte sie in seine ausgegangene Pfeife, aus der er dann dichte Dampfwolken in die Luft blies. Niemand wagte die andächtige Stille zu unterbrechen. Endlich fragte der Pfarrer: »Wie lange ist es her, seit die kleine Affaire in Cismone stattgefunden hat?«

Die Augen des Alten blitzten auf, ein befriedigtes Lächeln glitt über seine verwitterten Züge. Bedächtig legte er die brennende Pfeife auf den Kaminsims, stöberte mit seinem Stelzfuß das Feuer auf, zog, wie in tiefem Sinnen, die Stirne kraus, rieb sich die schwieligen Hände und entgegnete mit einer Donnerstimme, als ob er ein ganzes Regiment zu kommandieren hätte: »Es war in der Nacht des 17. September im Jahre 1796.«

Wenn diese Worte eine Zauberformel enthalten hätten, würde die Gesellschaft auch nicht ehrfurchtsvoller und verzückter dreingeblickt haben. Wir müssen jedoch, um der Wahrheit die Ehre zu geben, gestehen, daß diese Verkündigung an demselben Orte und mit demselben Pathos von Derval schon wiederholt abgegeben worden war. Aber manche Geschichten klingen eben immer neu und diese gehörte in jene Kategorie. Onkel Ewen erzählte sie unzähligemal unter demselben Beifallsgemurmel, denselben Ausrufen des Erstaunens und der Ehrfurcht seiner Zuhörer. Alle jene, die ihn zu kennen glaubten und die denkwürdige Begebenheit von Cismone von ihm noch nicht gehört hatten, kannten den Alten eben noch nicht ganz und waren sicherlich nicht würdig, sein volles Vertrauen zu genießen. Sämtliche heute Anwesenden hatten die Geschichte mindestens schon ein Dutzend Mal gehört und lauschten ihr – mit Ausnahme Mikel Grallons, der ziemlich gelangweilt dreinblickte und mit seinen verliebten Augen Marcelle anstarrte – heute mit eben solchem Interesse wie das erste Mal. Mutter Derval hatte zu spinnen, Marcelle zu nähen aufgehört, die beiden Bursche saßen mit offenem Munde da und auch der dicke Geistliche zeigte lebhaftes Interesse.

Der Stolz des Propheten, der ausnahmsweise im eigenen Vaterland anerkannt wird, leuchtete aus den Augen des Veteranen, als er fortfuhr: »Wir verließen Trient am 16. September in frühester Morgendämmerung; nach einem forcierten Marsch gelangten wir spät am Abend in ein Dörfchen, dessen Namen ich vergessen habe. Wir waren so müde, daß uns in jener Nacht nichts hätte wach erhalten können als das Losungswort, daß der Kaiser – damals war er noch General, General Bonaparte – in unserer Mitte weile. Wir fühlten, daß es wahr sei, denn jeder einzelne spürte seine Nähe, ja, wir hätten darauf schwören können. Sie müssen wissen, Vater Rolland, es verhielt sich mit ihm so wie mit dem Arzt im Lazarett – wenn er kommt, blickt jeder Verwundete freudig auf; wenn er geht, sinkt jeder stöhnend und verzweifelnd in sein Kissen zurück. In jeder Abteilung fühlt man sein Nahen, jedes Herz schlägt rascher, wenn er sich dem Bette nähert, jedes langsamer, wenn er sich entfernt. So war's auch in unserem Lager. Unsere Pulse schlugen rascher, als es hieß: »Der General kommt, der General ist hier!«

Mutter Derval seufzte tief auf. Die Ärmste dachte aber nicht an den »Großen Kaiser,« sondern an ihre beiden Söhne, die in seiner Armee standen. Der Korporal hatte den Seufzer gehört und beeilte sich, fortzufahren: »Der Mond leuchtete noch am Himmel, als wir wieder aufbrechen mußten. Wir marschierten in drei Kolonnen und stürmten wie ein Wirbelwind auf die überraschten Österreicher ein, die in starker Macht vor Primolano lagen. Das nennt man überrumpeln, Vater Rolland! Wir fuhren mitten unter sie hinein! Mikel Grallon, hast du schon ein Boot in Grund und Boden bohren sehen? Krach – hin ist es! So machten wir's! Unsere Kavallerie schnitt dem Feinde den Rückzug ab, Tausende legten ihre Waffen nieder. Dieser Sieg hätte einem gewöhnlichen General genügt; nicht so unserem ›kleinen Korporal‹. Vorwärts! lautete sein Kommando. Wurmser lag vor Bussano, Mezaros marschierte nach Verona und wir mit aufgepflanzten Bajonetten nach Cismone. Es war stockfinstere Nacht, als wir anlangten, und wir jauchzten, als man uns ›Halt!‹ gebot, denn wir waren todmüde. In jenen Tagen besaß ich einen guten Kameraden, treu wie Gold; er hieß Jacques Monier und war an der Rhone geboren. Wir lebten wie Brüder, teilten Speis' und Trank und lagen uns gar manche Nacht in den Armen, um uns gegenseitig zu erwärmen. Nun, in jener Nacht lag Jacques auf dem Bauche, um ein Feuer anzufachen, während ich mich auf den Weg machte, Trinkwasser zu suchen. Als ich nach kurzer Zeit mit meinem gefüllten Blechtopf zurückkam, fand ich Jacques in Positur stehen, mit einem halben Laib Schwarzbrot in der Hand und – was glauben Sie, wen erblickte ich neben ihm? Den General, wie er leibte und lebte. Er war von Kopf bis Fuß mit Kot bespritzt und sah wie ein gemeiner Soldat aus, aber ich erkannte ihn auf den ersten Blick. Er saß vor dem Feuer und wärmte seine erstarrten Hände, während Jacques ihm das Brot reichte und sagte: ›Nehmen Sie das Ganze, mein General!‹ Das Gesicht Bonapartes war schneeweiß vor Hunger. Bedenken Sie, was das bedeutet; ich weiß, was Hunger ist!«

Ein allgemeines Gemurmel des Erstaunens ging durch das kleine Gemach.

»Nehmen Sie das Ganze; ein halber Laib Brot ist ohnehin nicht viel,« drängte Jacques. »Sie hätten das Lächeln des Generals sehen müssen, Vater Rolland. Stillschweigend nahm er das Brot, brach ein Stückchen davon ab und begann daran zu knabbern, während er den Rest Jacques zurückgab. Nun kam ich an die Reihe. Ich trat aus dem Schatten hervor, leerte aus meiner Feldflasche den Rest des Schnapses, den ich aufgespart hatte, in den halb mit frischem Wasser gefüllten Topf und reichte ihn dem General. Hier ist der Topf, ich bewahre ihn als heiliges Andenken an jene denkwürdige Nacht,« bemerkte Derval, seine Erzählung unterbrechend, ein unscheinbares Blechgeschirr, das an einem Nagel über dem Kaminsims hing, herunterlangend und es dem Pfarrer reichend, der es aufmerksam von allen Seiten betrachtete.

»Trinken Sie, mein General!« bat ich salutierend. »Ah, in jenen Tagen gebrach es mir nicht an Mut – das dürfen Sie mir glauben! Als er den Schnaps roch, setzte er das Gefäß an den Mund und trank gierig; dann lächelte er wieder und fragte nach unseren Namen, die wir ihm sagten. Er durchbohrte uns beinahe mit seinen scharfen Blicken, hüllte sich fester in seinen Mantel und verschwand im Dunkel der Nacht. Jetzt lagerten wir – Jacques und ich – uns vor das Feuer, aßen das Brot auf, tranken das Wasser aus und sprachen bis zum Morgengrauen von unserem ›kleinen Korporal‹.«

»Bei Gott, das war eine interessante Begegnung!« bemerkte der Pfarrer. »Der General hat euch doch zweifellos für euren Liebesdienst belohnt?«

»Neun Jahre später hat er sich daran erinnert. Der General vergißt nichts!«

»Neun Jahre später? Das ist eine lange Wartezeit, Onkel Ewen! Wie hat er Sie belohnt?«

»Wie würden Sie eine Kruste Brot und einen Schluck Wasser mit Schnaps belohnen? So was reicht man ja jedem Bettler vor der Thüre, ohne dafür eine Belohnung zu erwarten! Ein General hat an ganz andere Dinge zu denken; übrigens geschah die ganze Geschichte rasch wie im Traum. Sie müssen aber nicht glauben, daß wir keine Belohnung erhielten« – – – grollte Derval.

»Erzähle doch, wie die Sache endete; Vater Rolland weiß es ja noch nicht,« drängte Marcelle.

»Ja, ja, lassen Sie mich den Schluß hören, ich bin schon sehr neugierig darauf,« rief der Pfarrer.

»Große Veränderungen waren vor sich gegangen, der kleine Korporal war mittlerweile zum Erbkaiser von Frankreich erklärt worden, aber Jacques und ich, wir dienten noch immer als gemeine Soldaten. Wir dachten, der General habe uns längst vergessen, was auch kein Wunder gewesen wäre, wenn man bedenkt, wie sehr er davon in Anspruch genommen war, die Kronen von den Häuptern der Könige zu schlagen. Die Große Armee kampierte vor Boulogne – wir zählten das Jahr 1805 – und wir Grenadiere standen in der Front. Der Krönungstag war zur allgemeinen Verteilung von Verdienstkreuzen und Medaillen bestimmt worden. Welch ein Tag! Der Nebel stieg vom Meere auf, wie Rauch aus der Mündung einer Kanone. Auf einer Anhöhe vor der Stadt hatte man einen Thron errichtet – den großen eisernen Stuhl des mächtigen Königs Dagobert – unterhalb des Thrones kampierten die Lager der Großen Armee und zu Füßen des Thrones brauste das unendliche Meer. Nachdem der Kaiser Platz genommen, klang es aus Tausenden von Kehlen: › Vive l'Empereur!‹ Man hätte glauben können, daß die Meereswellen mit ihrem Gebrüll die Luft so erschütterten. In demselben Augenblick zerteilte sich der Nebel und die Sonne strahlte in vollster Pracht. Mein Gott, die Banner und Fahnen flatterten, die Bajonette und Schwerter blitzten im Sonnenschein, daß es einen fast blendete. Einen solchen Anblick genießt man nur einmal im Leben. Ich könnte Ihnen die ganze Nacht hindurch von all den Herrlichkeiten erzählen, ohne daß Sie den zehnten Teil all der Wunder jenes Tages erführen. Jetzt will ich Ihnen nur mitteilen, was mir und Jacques passierte. Wir standen, wie ich bereits erwähnt habe, in der Front, als der Kaiser seine Grenadiere musterte. Als er an uns vorbeischritt, blieb er plötzlich stehen – so! – nahm eine Prise Schnupftabak aus seiner Westentasche, neigte den Kopf, wie ich Ihnen zeige, auf eine Seite und prüfte unsere Gesichter. Mit einem Mal kam es wie eine Erleuchtung über ihn; er trat ganz dicht an uns heran und sagte – ach, ich wollte, ich könnte seine Stimme wiedergeben: ›Ich habe weder Cismone, noch den Geschmack des Schwarzbrotes und des Wassers mit Schnaps vergessen;‹ dann wandte er sich lachend an den Marschall Ney, der neben ihm stand und erzählte ihm rasch etwas; auch Ney lachte so herzlich, daß seine weißen Zähne sichtbar wurden und nickte uns freundlich zu. Darauf wandte sich der Kaiser wieder an uns, heftete uns mit eigener Hand das Verdienstkreuz an die Brust und begrüßte uns als seine neuesten Korporale. Ich will Ihnen eingestehen, Vater Rolland, daß meine Augen feucht wurden und ich Mühe hatte, nicht wie ein schwaches Weib aufzuschluchzen; aber ehe wir wieder recht zur Besinnung kamen, war er verschwunden!«

Derval fuhr sich mit dem Ärmel an die Augen, die in Erinnerung an jene Auszeichnung ganz feucht geworden waren und bückte sich über das Feuer, um seine ausgegangene Pfeife zu entzünden, während die Anwesenden in ehrfurchtsvollem Schweigen verharrten, bis der kleine Curé bemerkte: »Der Kaiser scheint ein gutes Gedächtnis zu haben. Man sagt, daß ein guter Schäfer jedes Schäfchen seiner Herde kenne; aber das ist noch merkwürdiger. Wie viele Jahre waren seit Cismone bis zu jener Begegnung verstrichen?«

»Neun!«

»Und in jenen neun Jahren hatte Napoleon zahllose Schlachten geschlagen, zahllose Gesichter gesehen und zahllose große Gedanken ausgeheckt! Er ist doch ein großer, ein bedeutender Mensch! Haben Sie ihn seither nicht wiedergesehen, mein Korporal?« fragte der Pfarrer ernst.

»Nur noch ein einziges Mal – am ersten Dezember, dem Vorabend der glorreichen Schlacht von Austerlitz!« entgegnete Derval mit stolz erhobenem Haupte und bemüht, ganz napoleonisch auf seine Zuhörer herabzublicken. Der Pfarrer fuhr zusammen, Mutter Derval blickte verstohlen auf den Stelzfuß ihres Schwagers, Alain und Jannick wurden ganz ernst und Mikel Grallon blinzelte neugierig zu Marcelle hin, über deren blasses Gesicht ein traurig-stolzes Lächeln huschte.

»Wir kauerten, 70-80 000 Mann, im Dunkel der Nacht, als es plötzlich jemandem einfiel, daß der kleine Korporal gerade vor einem Jahre gekrönt worden war. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Kunde. Im Nu hatten wir Scheiterhaufen von Reisig und Stroh errichtet und Freudenfeuer angezündet. In diesem Augenblick sah ich ihn auf einem schneeweißen Schimmel wie ein Gespenst die Front abreiten, sein Kopf war zwischen die Schultern gesunken, er blickte weder nach rechts noch nach links. Jacques meinte, er sehe wie der weiße Tod aus, der dahinreite, um die Russen zu verschlingen. Armer Jacques! Am nächsten Tag bekam er seinen ewigen Urlaub und ich meinen Marschallsstab!« schloß Derval, mit halb wehmütigen, halb humoristischen Blicken seinen Stelzfuß streifend.

»Und damals haben Sie Napoleon zum letztenmal gesehen?« forschte der Pfarrer teilnehmend.

Noch ehe der Korporal antworten konnte, wurde die Thüre heftig aufgerissen und Sergeant Pipriac stürmte, von seinen Gendarmen gefolgt, totenbleich und außer Atem in die Küche.

»Krähenseele! was ist denn los?« fuhr ihn Derval an.

»Man könnte glauben, der gute Sergeant habe ein Gespenst gesehen!« bemerkte der Curé, sich von seinem Platze erhebend.

Pipriac starrte erst den Korporal, dann den Pfarrer mit entsetzten Blicken an und brachte nur stoßweise und nach Luft schnappend die Worte hervor: »Zum Teufel, fast ist es so! Seht, wie ich noch vor Entsetzen zittere, ich, Pipriac, der bisher vor keinem Teufel erschrocken ist. Ein Glas Wasser, Mutter Derval, oder ich ersticke!«

Der Korporal humpelte zu einem Schränkchen und goß dort etwas Cognac in ein Glas, das er dem Sergeant reichte: »Trink' das, Kamerad, es ist besser als Wasser und wird dir endlich die Zunge lösen. Was ist geschehen und wen hast du gesehen?«

»Ich will dir sagen, was und wen ich gesehen habe, Alter!« rief Pipriac, sich den Schweiß mit einem großen baumwollenen Taschentuch, welches das Bildnis des auf seinem Schlachtroß sitzenden Marschalls Ney trug, von der Stirne wischend. »Alle Wetter, deinen sauberen Chouan von einem Neffen habe ich gesehen!«

»Rohan?!« schrie der Korporal mit Donnerstimme, während die beiden Frauen vor Angst und Entsetzen aufsprangen und der Geistliche erbleichte.

»Ja, Rohan Gwenfern, den Malefizkerl – oder seinen Geist, das bleibt sich gleich. Befindet sich jemand in diesem Gemach, der seine Kleider erkennen würde? Wir haben sie ihm vom Leibe gezogen, wie einem Aal die Haut! Man sagt dem Aal nach, daß er aus seiner Haut schlüpfen kann; nun denn, das kann auch der, von dem ich spreche. Pierre! André! Wer von euch hat den Plunder?«

Die beiden mit ihren Namen angesprochenen Gendarmen traten vor; der eine hatte eine zerfetzte Bauernjacke, der andere einen breitkrempigen Bauernhut in der Hand.

»Wenn ein Geist Kleider trägt, so gehören sie ihm. Doch das ist jetzt alles eins, denn er wird sie nie mehr brauchen.«

Die beiden Kleidungsstücke gingen von Hand zu Hand, doch trugen sie keinerlei Merkmale, die darauf hindeuteten, daß sie dem Flüchtling gehörten.

Pipriac sank erschöpft in einen Stuhl und gewann seine Sprache erst wieder, nachdem er sich mit einem zweiten Gläschen Schnaps gestärkt hatte: »Sein Blut komme über sein eigenes Haupt, ich trage keine Schuld an dem Unglück!«

Der strenge Ausdruck, den das Gesicht des Korporals bei Nennung von Rohans Namen angenommen hatte, war gewichen. Er wollte etwas sagen, aber Marcelle trat, blaß bis an die Lippen, zwischen ihn und Pipriac: »Was wollen Sie damit sagen?« schrie sie auf, »Sie haben ihn doch nicht – –?« Dabei warf sie einen entsetzten Blick auf die aufgepflanzten Bajonette der Leute.

»Der alte Pipriac ist zwar ein schlechter Kerl, aber so schlecht ist er nicht, meine Liebe! Zum Teufel, war er denn nicht seines Vaters Sohn und war Raoul Gwenfern nicht Pen Pipriacs bester Kamerad? Beim Antlitz des Kaisers! ich habe dem Schurken kein Haar gekrümmt!«

»Gott sei Dank! Dann ist er euch entronnen?« rief der Geistliche.

»Doch nicht! Ich will euch allen, die ihr hier seid, die Geschichte haarklein erzählen. Ihr wißt, wir haben ihn bereits für tot gehalten, da wir vergebens Himmel und Hölle nach ihm durchstöbert hatten. In der ganzen Gegend giebt es außer dem Meeresgrund kein Plätzchen, das wir nicht durchsucht haben. Ein anderes Geschäft veranlaßte uns heute, trotz des abscheulichen Wetters auszugehen. Auf dem Rückweg von einem kleinen Gehöft, wo wir einen guten Schluck entdeckt hatten, kamen wir an dem großen Stein dort drüben vorbei. Da erblickten wir einen Mann, vom Mondschein beleuchtet, mit dem Rücken uns zugekehrt. Ich erkannte ihn sofort, obgleich ich sein Gesicht nicht sehen konnte. Als er sich umdrehte und uns anstarrte, war er so blaß, daß ich ihn für seinen Geist hielt – das gestehe ich offen. Der arme Teufel sah so mager und abgezehrt aus, so weiß wie der Tod. Korporal, es war dein Neffe – Rohan Gwenfern.«

»Er ist nicht mehr mein Neffe,« grollte der Veteran, aber seine Stimme zitterte dabei merklich.

»Ich weiß nicht, wie es gekommen ist, aber im nächsten Augenblick stürzten wir uns auf ihn – ich, André, Pierre und die anderen. André war der einzige, der ihn festhalten konnte, uns andere schüttelte er wie Mäuse ab. Ehe wir uns versahen, war er zwanzig Meter weit gelaufen und hatte André nach sich geschleppt. Zum Teufel! Er sah wie der Löwe von Algier aus, der den Mann wegschleppt! André hatte seine Flinte und seine Mütze fallen lassen und schrie um Hilfe; ihn konnte der Deserteur nicht abschütteln. Wir befestigten unsere Bajonette und stürmten nach.«

Im Eifer der Erzählung war der Sergeant aufgesprungen, alle Anwesenden umstanden ihn im Kreise und lauschten mit gespannter Neugier.

»Nur keine Gewalt!« kommandierte ich. »Fangt ihn lebendig! Als wir ihn wieder packten, waren wir keine zehn Schritte von dem Rande der großen Klippe entfernt, die wie eine glatte Wand aussieht. Die Flut war gerade hoch und das Wasser unten pechschwarz. Wir sechs kriegten ihn bald unter, aber es bedurfte unserer ganzen Kraft – das kann ich euch versichern. Wir hielten ihn so fest, daß er sich nicht rühren konnte!«

»Bravo!« schrie Mikel Grallon.

»Du hast leicht ›Bravo!‹ schreien,« fuhr der Sergeant wütend auf. »Nicht einmal der Mann mit dem Pferdefuß hätte den Kerl bändigen können! Er lag eine Minute ganz ruhig, dann begann er sich herumzuwälzen. Ihr seid Fischer und habt wohl oft versucht, einen Meeraal festzuhalten, ohne daß es euch gelungen wäre. Nun so ging es uns mit ihm. Ehe wir recht ahnten, was er eigentlich im Sinne hatte, hatte er sich bis an die äußerste Kante der Klippe gekugelt.«

Marcelle schrie entsetzt auf, auch die übrigen Anwesenden überlief eine Gänsehaut.

»Wir waren sechs gegen einen und trotzdem konnten wir ihn von seinem Vorhaben nicht zurückhalten. Ich umklammerte mit meinen beiden Händen seine Jacke, André hielt ihn an den Beinen fest, die anderen an den Armen. Als ich endlich begriff, was er vorhatte, stockte mein Herz, ich riß André das Bajonett aus den Händen, denn ich sah nur einen Ausweg, hielt den Burschen noch immer mit einer Hand fest und schrie ihn an: ›Tausend Teufel, halt' still, oder ich ersteche dich!‹ Er sah mich fest an, sein Gesicht war leichenblaß, seine Lippen fest aufeinander gepreßt. Ich werde den Blick nie vergessen! Im nächsten Augenblick lag er flach auf dem Bauche, und schlüpfte aus der Jacke. Himmel und Herrgott, ihr hättet das sehen müssen! Ich sag' euch, der Kerl hat den Teufel im Leibe! Die Erde gab unter der Schwere seines Körpers nach und ehe wir auch nur ein Glied rühren konnten, war er in der Tiefe verschwunden!«

Mutter Derval bekreuzigte sich, stöhnte vor Entsetzen auf und kniete nieder, um das Totengebet zu sprechen; Marcelle stand wie festgewurzelt, kein Laut entrang sich ihrem gequälten Herzen, ihren Augen entquoll keine erlösende Thräne. Der alte Korporal erbleichte und schien von Gewissensbissen gequält, während der Geistliche die Hände rang und aufschrie: »Furchtbar! Er hat sich in den Abgrund gestürzt!«

»Ja, es war ein furchtbarer Augenblick,« bestätigte Pipriac zähneklappernd. »Unten war's pechschwarz und wir konnten nichts sehen. Mit angehaltenem Atem lauschten wir, aber wir vernahmen nur ein leichtes Geräusch, wie wenn man ein Ei aufschlägt – dann war es wieder still – – –«

»Hat er etwas gesprochen? Hat er geschrieen?« fragten die Jungens.

»Kein Laut kam während der ganzen Zeit von seinen Lippen. Er ist geradeaus wie ein Stein in die Tiefe gesunken und wenn er seinen Schädel nicht an den Felsen zerschellt hat, dann ist er im Meere ertrunken. Korporal Derval, alter Kamerad, sag' nicht, daß der alte Pipriac ihn in den Tod gejagt hat! Ich wollte ihn retten, so wahr ich vor dir stehe, aber er wollte nicht gerettet werden! In dem Kampf habe ich wohl mit meinem Bajonette seinen rechten Arm gestreift, aber es geschah nur, um ihn kampfunfähig zu machen. Pierre, zeig' mal die Jacke. Siehst du, Korporal, ich habe den ganzen Ärmel aufgeschlitzt, hier ist er ein wenig feucht, wahrscheinlich von seinem Blute – –«

»Herr des Himmels, erbarme dich, mein armer, armer Rohan!« schrie der Geistliche schreckensbleich auf.

»Warum hat sich der Dummkopf nicht ergeben?« grollte Pipriac. »Niemand darf mich beschuldigen, ihn getötet zu haben. Er wollte sich aus dem Leben schaffen – und vielleicht auch uns. Trotz alledem thut es mir aufrichtig leid, ihn verwundet zu haben. André, laß mich dein Bajonett sehen.«

Der Gendarm trat vor und reichte seinem Vorgesetzten stumm die verlangte Waffe. Alle Anwesenden, bis auf Mutter Derval, die noch immer vor dem Madonnenbilde betend kniete, scharten sich um den Sergeant. Marcelle hatte sich vorgedrängt und starrte mit weitaufgerissenen Augen, wie gebannt, auf die im Lampenschein glitzernde Klinge.

»Kein Zweifel, das ist Blut! Es ist das letzte, was wir in dieser Welt von Rohan Gwenfern sehen werden!« bemerkte Pipriac, seinen Zeigefinger an den Lippen netzend und dann mit demselben über die blanke Klinge fahrend. Er hielt ihn gegen das Licht und alle stimmten darin überein, daß er von Blut feucht sei. Ein Gemurmel des Entsetzens ging durch das Gemach, Marcelle sank, wie vom Blitz getroffen, ohnmächtig zu Boden.

Früh am nächsten Morgen – es war morte mer – versammelten sich unter der großen Klippe, auf deren Gipfel der Menhir emporragte, zahlreiche Dorfbewohner. Aufblickend, gewahrten sie eine steile Wand, an der nur eine Ziege emporzuklettern vermochte. Thatsächlich bewegte sich die uns bereits bekannte Jannedik zwischen dem zerklüfteten Gestein, nach saftigen Grashälmchen suchend. Hie und da blickte sie von ihrer schwindeligen Höhe auf die plaudernde Menge hinab, um dann gemächlich ihren Weg weiter zu verfolgen.

Am Fuße der Klippe lagen losgelöste Erd- und Felsstücke, aber von Rohan Gwenferns sterblichen Resten vermochte man keine Spur zu entdecken. Die Hochflut freilich stieg beträchtlich über den Fuß der Klippe und war gewöhnlich recht bewegt und tief, so daß man allgemein zu der Überzeugung gelangte, Rohan müsse mit der Ebbe ins Meer gespült worden sein.

Pipriac und seine Satelliten, von Korporal Derval begleitet, durchsuchten jede Spalte und Nische des Strandes; mit Stöcken und Bajonetten wurden die unglaublichsten Stellen und Winkel durchstöbert, wehklagend und seufzend sah eine Menge von Weibern dieser Suche nach dem Verunglückten zu. Die männliche Jugend des Dorfes, mit Mikel Grallon, Alain und Jannick an der Spitze, stand abseits in einer Gruppe und stellte allerlei Vermutungen auf. Einige Fischer waren in ihren Booten aufs Meer hinausgesegelt, um nach dem Leichnam zu fahnden.

Mutig und voll Selbstherrschung, wie Marcelle von Natur war, ließ sie sich nicht abhalten, ebenfalls an der Suche teilzunehmen. Von jenem Augenblick an, da sie ohnmächtig zu Boden gesunken war, hatte sie weder eine Thräne vergossen, noch auch mit jemandem eine Silbe gesprochen. Es giebt Seelenqualen, mit denen man allein fertig werden muß.

Die allgemeine Meinung ging dahin, daß Rohan zerschmettert worden sein müsse, ehe er ins Meer fiel; sein Körper sei aller Wahrscheinlichkeit nach gesunken und langsam von den Wellen ins offene Meer gespült worden. Es würde einige Tage dauern ehe sein Leichnam sich an die Oberfläche erheben würde, wenn dies überhaupt je der Fall sein werde.

»Unter uns gesagt,« meinte Pipriac. »Ihm ist wohl, wo er ist! Besser, von den mitleidigen Wellen verschlungen, als erschossen. Man hätte ihn wie einen tollen Hund niedergeknallt und er wußte das! Pflicht ist Pflicht – da giebt's nichts!«

Mikel Grallon, an den diese Worte gerichtet waren, nickte zustimmend. Der brave Junge war in jeder Beziehung unermüdlich, sowohl in den Späherdiensten, die er dem Sergeant leistete, wie auch in den Trostsprüchen, die er Marcelle erteilte. Er wurde nicht müde, ihr zu versichern, daß ihr Vetter seinem Schicksal nicht hätte entrinnen können. In Anbetracht des schweren Unglücks, das die Familie betroffen, trug er eine allzu fröhliche Miene zur Schau.

Marcelle konnte das Geschwätz der Leute nicht länger ertragen und lenkte ihre Schritte langsam in die Richtung von Tante Luises Hütte. Die Sonne schien ihr ins Gesicht, aber sie beachtete es nicht, wie sie jetzt überhaupt nichts anderes beachtete als ihren namenlosen Schmerz. Sie öffnete leise die Thüre und fand die Witwe an ihrem gewohnten Platz aufrecht vor dem Feuer sitzend und mit ihrem abgehärmten Gesicht thränenlosen Auges in die Glut starrend. Dicht neben ihr stand Jan Goron, der in leisem Tone zu ihr sprach, aber innehielt, als Marcelle eintrat.

Merkwürdigerweise zeigte die Witwe keinerlei Zeichen eines überwältigenden Schmerzes. Die Nachricht von der furchtbaren Katastrophe schien sie nicht niedergeschmettert zu haben; vielleicht war es gerade der ungeheure Schmerz, der sie aufrecht hielt.

Still wie ein Gespenst huschte Marcelle durch das Gemach und setzte sich neben die Tante: »Alle behaupten, es gebe keine Hoffnung mehr, Tante Luise!« hauchte sie, kaum vernehmbar.

Kein Klagelaut drang über die Lippen der Witwe. Goron, dessen Haltung eine nervöse Erregung verriet, sah Marcelle scharf an, während er sagte: »Ich war heute Morgen vor Ihnen dort und konnte keine Spur finden. Das ist ein furchtbares Ende!«


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