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Siebenundzwanzigstes Kapitel.
Gildas' Heimkehr

Früh am nächsten Morgen, während die Familie Derval noch beim Frühstück saß, betrat Meister Arfoll mit dem landesüblichen Gruß »Gott schütze alle hier Anwesenden!« die altertümliche Küche und nahm unaufgefordert neben dem Herd Platz. Der Korporal nickte kühl mit dem Kopf, Alain und Jannick lächelten blöde und nur die beiden Frauen murmelten das übliche »Willkommen!« Eine peinliche Stille trat ein. Es war klar, daß der Eintritt des Wanderlehrers eine gewisse Verlegenheit verursachte. Der Korporal hatte gerade, mit der großen Brille auf der Nase, sich bemüht, ein Bulletin vom Kriegsschauplatz zu entziffern – eines jener phantasievollen Dokumente, die Bonaparte so meisterhaft aufzusetzen verstand, um sein Volk irrezuführen und ihm Sand in die Augen zu streuen. Aber diesmal vermochte selbst Bonaparte die Wahrheit nicht ganz zu bemänteln; hinter all dem bombastischen Wortschwall lugte die traurige Thatsache hervor, daß die »Große Armee« furchtbare Verluste erlitten habe und gezwungen war, den Rückzug anzutreten.

Der Korporal war nicht dumm und verstand zwischen den Zeilen zu lesen. Sein Herz blutete für seinen geliebten Kaiser, aber er war nicht der Mann, um einem Gegner desselben die Thatsache der Niederlage zuzugeben. Er verstummte daher beim Eintritt Arfolls und humpelte zum Kaminsims, um seine Pfeife zu füllen.

»Ich sehe, Sie haben da einen Kriegsbericht gelesen. Ist es also wirklich wahr, daß der Kaiser geschlagen ist?« fragte der Schullehrer nach einer langen Pause. »Man sagt, er habe die Flucht ergreifen müssen – –«

»Man sagt?!« wetterte der Alte. »Wer sagt das? Schnattergänse! Wenn Sie ein alter Soldat wären wie ich und den Kaiser gekannt hätten wie ich, würden Sie solches dumme Gerede nicht nachschwatzen, Meister Arfoll! Krähenseele! Ergreift eine Spinne die Flucht, wenn sie eine Fliege ins Netz locken will? Ergreift ein Falke die Flucht, wenn er sich gen Himmel erhebt, um eines Spatzen habhaft zu werden? Ich will Ihnen etwas sagen, Meister Arfoll: wenn der kleine Korporal ›Flucht‹ spielt, sollten seine Feinde ihre Augen so weit offen haben wie die Eulen, denn wenn sie sich auch über ihn lustig machen und ihm eine Niederlage bereitet zu haben glauben – ehe sie sich's versehen, wird er aus seiner gewaltigen Höhe mitten unter sie stürzen und sie allesamt verschlingen! Ich kenne die Schliche und Schachzüge des kleinen Korporals.«

»Vor Leipzig soll's furchtbar gewesen sein,« entgegnete der Lehrer traurig. »Oder ist es vielleicht nicht wahr, daß fünfzigtausend Franzosen das Schlachtfeld bedeckt haben?«

Dem Korporal war es endlich gelungen, die Pfeife anzuzünden und er paffte jetzt wütend darauf los. Die harmlos gestellte Frage Arfolls verdroß ihn, da er sie nicht verneinen konnte. Er starrte erst seine Neffen an, dann seinen Gast, ehe er mit vor Zorn gerötetem Gesicht entgegnete: »Sie sind ein Gelehrter, Meister Arfoll, aber vom Krieg verstehen Sie nichts. Ein großer General fragt nicht nach solchen Dingen. Ob bei Leipzig fünfzig oder fünfzigtausend Mann gefallen sind, ist einerlei. Und wenn es hunderttausend wären, es würde sich gleich bleiben. Unser Kaiser weiß, was er thut.«

»Aber Ihre beiden Neffen, die befinden sich doch hoffentlich wohl? Haben auch sie an der großen Schlacht vor Leipzig teilgenommen?« fragte der Wanderlehrer mit einem scheuen Seitenblick auf Mutter Derval, die ihr vergrämtes Gesicht erwartungsvoll auf den Korporal richtete.

»Sie stehen in Gottes Hand und Gott wird sie erhalten. Sie erfüllen als wackere Männer ihre Pflicht im Dienste einer ruhmreichen Sache und Gott wird sie nicht verlassen.«

»Wenn jeder dies von seinen Angehörigen denkt, so ist es denn doch nicht ganz einerlei, ob bei Leipzig fünfzig oder fünfzigtausend gefallen sind. Stehen nicht alle in Gottes Hand? Und warum sollte er so viele, die ja ebenfalls ihre Pflicht erfüllen, eher verlassen, als gerade Ihre Neffen?«

Noch ehe der Korporal antworten konnte, trat zur offenen Thüre ein Mann ein, der einen gar traurigen Anblick bot. Sein Gesicht war schmutzig und unrasiert; statt des Hutes oder einer Mütze hatte er ein buntes Taschentuch um den Kopf geschlungen. Unter dem zerfetzten Soldatenmantel lugten die ausgefransten Enden einer abgetragenen Hose hervor, er war barfuß. Eines seiner Beine war mit einem blutigen Lappen umwunden. Diese auf einen Stock gestützte Jammergestalt blieb mitten in dem Gemach stehen. Das Gesicht zeigte den unglücklichen Ausdruck, den man bei einer sehr alten Dohle im letzten Stadium der Unreinlichkeit und des Mauserns beobachten kann.

»Gott schütze alle hier Anwesenden!« grüßte der Mann mit heiserer Stimme.

»Willkommen, lieber Mann!« entgegnete der Korporal herablassend und deutete auf die Ofenbank. Er hielt den Ankömmling für einen Bettler.

Dieser rührte sich nicht, stützte sich noch fester auf seinen Stock, starrte zuerst Marcelle, dann Alain und Jannick mit diabolischem Grinsen an.

»Heilige Mutter Gottes, das ist ja unser Gildas!« schrie Frau Derval entsetzt und sprang auf.

Die beiden Bursche fuhren von ihren Sitzen am Frühstückstisch in die Höhe, Marcelle von ihrem Spinnrad, der Korporal ließ in seinem Schreck die Pfeife zu Boden fallen, wo sie in Scherben zerbrach. Im nächsten Augenblick umarmte und herzte die Mutter schluchzend ihren heimgekehrten Sohn, denn es war wirklich Gildas Derval. Du lieber Himmel, wie sah aber der früher so adrette und saubere Bursche aus! Zerfetzt und zerrissen, mit Straßenkot beschmutzt, stark von der Sonne gebräunt, von den Kriegsstrapazen abgezehrt, eine entstellende blutrote große Narbe über dem rechten Auge – diese gräßliche Vogelscheuche konnte wirklich nur das zärtliche Mutterauge erkennen. Noch ehe sich die anderen von ihrer Erstarrung erholt hatten, schrie Frau Derval abermals entsetzt auf: »Heilige Mutter Gottes, er hat ja einen Arm verloren!«

Und sie hatte nur zu recht, der eine Ärmel des Soldatenmantels hing schlaff zur Seite hinab. Die Mutter jammerte, aber Gildas lachte nur und nickte dem Onkel verständnisvoll zu. Nun näherte sich Marcelle und umarmte ihn, dann Jannick und Alain, zuletzt der Korporal mit stolzflammenden Blicken. Er schlug dem jungen Invaliden mit der flachen Hand auf den Rücken, küßte ihn auf beide Wangen und schüttelte ihm dann herzhaft die Hand.

Die arme Mutter umflatterte ihn wie ein Vogel sein Junges und war die erste, die nach Hoël frug. Gildas, den acht zärtliche Hände in den großen Lehnstuhl gedrückt hatten und vor dem die Mutter kniete, um seinen verbundenen Fuß zu untersuchen, streckte den gesunden Arm aus und streichelte den ergrauten Scheitel der Mutter: »Hoël ist ganz munter, Mutter und sendet dir die besten Grüße. Er hat nicht eine einzige Schramme bekommen, während ich so zugerichtet wurde! Sehen Sie, Meister Arfoll,« wandte er sich an diesen; »wie ich ein Pechvogel bin, mußte ich gerade invalid werden, als der schönste Rummel begann. Ich habe eine Schußwunde bekommen, Onkel! Zuerst dachten die Ärzte, den Arm erhalten zu können, aber als man mich ins Hospital brachte, schwups, da kam der Chirurg mit seiner Säge und eins – zwei – krrrr, ehe ich auch nur das Maul aufmachen konnte, war er unten!« Er preßte die Zähne zusammen und ahmte das Sägegerassel nach.

Die gequälte Mutter zitterte und fiel bei dieser Erzählung fast in Ohnmacht, aber der Korporal nickte zustimmend, als ob er sagen wollte: »Mein Gott, was liegt an einem Arm! Die Hauptsache ist, daß der Junge sich brav gehalten hat!«

»Wo hast du die Wunde bekommen, mein Sohn?« fragte Arfoll mit zitternder Stimme.

»Vor Dresden! Am zweiten Tag; von dort brachte mich die Ambulanz nach Leipzig. Als ich kräftig genug war, wurde ich mit vielen anderen Kameraden entlassen. Ich hatte bis Nantes einen amtlichen Geleitschein und gute Gesellschaft, von dort marschierte ich und noch einer nach St. Gurlott, wo wir uns trennten. Ich kam direkt nach Hause und bin wieder bei euch. So geht es in der Welt!«

Mittlerweile hatte der Korporal aus dem Speiseschrank eine Schnapsflasche und einige Gläser geholt. Das erste reichte er dem jungen Invaliden: »Trink, mein Sohn! Auf dein Wohl!«

Gildas stürzte das scharfe Zeug auf einen Schluck hinunter und ließ sich das Glas noch einmal füllen: »Kein schlechter Tropfen das! Auf euer aller Wohl!« Dann blickte er zu Marcelle auf, die sich zärtlich über ihn neigte, und sagte mit der Gönnermiene eines Veteranen: »Ich will dir was verraten, Kleine. Seit ich Frankreich verlassen mußte, habe ich kein auch nur annähernd so hübsches Mädchen gesehen wie du eines bist.«

Marcelle flüsterte ihm etwas ins Ohr, worauf der Held lächelnd sein Hemd aufknöpfte und ihr die an einem Bande hängende Münze zeigte, die sie vor seinem Abmarsch um Mitternacht in den »Blutpfuhl Christi« getaucht hatte. Marcelle küßte den Bruder noch einmal und erhob ihre Blicke dankend zum Himmel. Sie war überzeugt, daß nur ihr Talisman ihn am Leben erhalten habe.

Arfoll, der den Familienkreis nicht länger durch seine Anwesenheit stören wollte, beglückwünschte Gildas nochmals zu seiner Heimkehr und empfahl sich. Nun wurde der Held des Tages mit Fragen über den Kriegsschauplatz bestürmt, die er mehr mit seiner Phantasie entstammenden Phrasen als der Wirklichkeit entsprechend beantwortete. Alle Familienmitglieder machten viel Wesens mit dem mehr einer Vogelscheuche denn einem Kriegshelden ähnlichen Invaliden. Neben ihm erschien augenblicklich selbst der Korporal mit all seinen »vornehmen« Beziehungen eine Null. Gildas sprach auch mit seinem Onkel wie mit den anderen in dem herablassenden, gönnerhaften Tone eines alten Veteranen und machte sich über die altmodischen Gesinnungen Onkel Ewens lustig.

»Hast auch du den Kaiser gesehen? Mit deinen eigenen Augen gesehen?« forschte dieser gespannt.

»Natürlich hab' ich ihn gesehen. Zuletzt vor Dresden. Es regnete Bindfaden und der kleine Kerl sah wie eine ersäufte Ratte aus. Sein grauer Rock war durchnäßt, der Hut über die Augen gezogen, so ritt er dahin. Teufel! Er galoppierte so miserabel, als ob ein altes Weib im Sattel säße. Ich gebe zu, daß er ein großer General sein mag, aber reiten kann er nicht, das ist sicher!« erklärte der Invalidenneuling verächtlich.

»Du behauptest, der Kaiser könne nicht reiten?« rief der Korporal, seinen Neffen entsetzt anstarrend. In seinen Tagen wäre eine solche Kritik mit einer Gotteslästerung gleichbedeutend gewesen. Freilich, jetzt, wo das Glück den »Großen Kaiser« zu verlassen begann, glaubte sich jeder Rekrut berechtigt, seinem Führer eins am Zeug zu flicken.

»Er sitzt wie ein Häufchen Jammer zusammengebuckelt im Sattel und sieht schäbiger aus als der letzte Rekrut! Niemand würde ihn für den Kaiser halten, sondern für einen Bettler, der ein Pferd gestohlen hat und nicht darauf reiten kann. Ach, wenn ihr wissen wollt, wie ein richtiger General aussieht, dann müßt ihr euch Marschall Ney ansehen!«

»Marschall Ney!« wiederholte der Korporal verächtlich.

»Er zieht sich für die Schlacht, wie für einen Ball an, sein Haar ist parfümiert und schön frisiert. Er trägt kostbare Ringe, die Uniform sitzt wie angegossen; sein Pferd ist mit purpurnen und goldgestickten Schabracken bedeckt. Er reitet wie ein Engel! Sein Pferd pariert ihm auf den Wink. Er tänzelt und courbettiert damit, daß es einem schwindelt – – –«

»Bah! Er ist eine große Puppe!« unterbrach ihn Onkel Ewen.

Der alte und der junge Invalid wären wahrscheinlich wegen ihrer Lieblinge in Streit geraten, wenn Mutter Derval nicht gerade mit einer Schüssel warmen Wassers eingetreten wäre, um ihrem Sohne die wunden Füße zu waschen. Seufzend badete sie das arg angeschwollene Bein, bestrich es mit linderndem Balsam und legte dann einen sauberen Verband an, während Marcelle reine Wäsche und Kleider für den Bruder bereitete.

»Heute sollst du dich gründlich ausruhen, mein armer Junge! Aber morgen wird der kleine Plouët gerufen, um die Stoppeln von deinem Gesicht zu rasieren und dein verwildertes Haar in Ordnung zu bringen, damit du wieder dir selbst ähnlich wirst. Er versteht sich auch auf die Heilung von Wunden.«

Glücklich der Mensch, der in der Stunde der Not ein Obdach und liebevolle Pflege findet! Das empfand auch der in seiner kurzen militärischen Dienstzeit geistig und körperlich arg verkommene Gildas. Noch ehe die Witwe seinen wunden Fuß getrocknet, schnarchte der von seiner langen Reise Erschöpfte wie eine Dampfmaschine. Jeder Fremde hätte diesen in schmutzige Lumpen gekleideten Menschen für eine Vogelscheuche gehalten, die imstande wäre, die schlimmsten Dorfvögel vom Pfade des Kriegsruhmes fernzuhalten. Seiner ängstlich besorgten Mutter freilich erschien er schön. Ihr Herz hing mit unaussprechlichem Mitleid und mit aufopferndster Liebe an dem Krüppel, der als Patriot dem Vaterlande den schuldigen Tribut gezollt hatte und der, mochte kommen was da wollte, wenigstens nicht mehr in den Krieg ziehen konnte.


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