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Einundzwanzigstes Kapitel.
Die Belagerung

Während seine Verfolger Kriegsrat hielten, lag Rohan ruhig in seinem Versteck und dachte nicht an Flucht. Hie und da horchte er auf, aber der einzige Laut, den er vernahm, war das Gurgeln der Flut, die allmählich die ungeheure Kathedrale überschwemmte. Einige Stunden lang wenigstens war er sicher geborgen. Denn solange die Flut anhielt, drohte ihm weder von unten noch von oben Gefahr.

Er lag in einer großen natürlichen Grotte, welche ins Herz eines Granitfelsens eingehauen schien und durch die in die Mündung des »schwarzen Loches« oder Trichters dringenden Lichtstrahlen spärlich beleuchtet wurde. Große elliptische, mit seltsamem Moos bewachsene Bogen wölbten sich über seinem Haupte, während zu beiden Seiten die ebenfalls mit Moos bedeckten Wände in allen Farben des Regenbogens glitzerten – ähnlich dem von uns bereits beschriebenen Vorhang des »Altars.« Die Grotte war geräumig und kühl wie die Gruft einer von Menschenhand erbauten Kathedrale; da und dort rieselten ganze Wasserströme von den Wänden herab und bildeten auf dem Boden tiefschwarze Pfützen. Die Luft war feucht und kalt und hätte einem weniger abgehärteten Menschen verhängnisvoll werden können. Rohan aber sog sie mit dem Behagen eines kühnen Tieres ein. In der trockensten Ecke der Grotte befand sich sein aus einer hohen Schicht Seegras bestehendes weiches Lager, auf welchem er seit vielen, vielen Nächten der Ruhe pflegte. Mochte draußen auch Sturm und Wetter toben, er schlief hier ruhig und fest. Über seinem Lager hing ein Voglerhaken und ein winziges Öllämpchen, auf dem Boden lagen ein Paar Holzschuhe und daneben ein Stück Schwarzbrot.

In dieser abgeschlossenen Einsamkeit, oft in vollständigster Dunkelheit, hatte Rohan, wie gesagt, bereits viele Wochen zugebracht. Hätten nicht die ewigen Seelenqualen, die Angst vor dem Entdecktwerden seinen mächtigen Organismus erschüttert, das Einsiedlerleben am Busen der Natur würde ihm nichts angehabt haben und er wäre der alte, riesenstarke Rohan geblieben. Aber selbst die kraftvollsten Tiere magern ab und verlieren an Kraft und Ansehen, wenn sie in steter Angst vor Verfolgung leben. Was Wunder, wenn Rohan der Schatten seines ehemaligen Selbst geworden war – ein magerer, verwilderter, argwöhnischer Mensch, aus dessen großen, angsterfüllten Augen ein unerträglicher Seelenschmerz sprach. Er hatte sich, um das Maß voll zu machen, bei seinem letzten Gang über den gefährlichen Klippenweg auch noch einen Fuß arg verstaucht, so daß er augenblicklich beim besten Willen nicht hätte entfliehen können.

Der Schlaukopf Mikel hatte ganz richtig vermutet, daß Mutter Gwenfern den Flüchtling heimlich mit Lebensmitteln versah. Zwei- bis dreimal wöchentlich trat die gebrochene alte Frau den beschwerlichen Weg an, auf welchem Mikel sie überrascht hatte. Ohne ihre Hilfe hätte Rohan notwendigerweise verhungern müssen, denn selbst der kräftigste Körper kann auf die Dauer nicht ausschließlich von Schellfischen und Hauttang, wie sie der Flüchtling nächtlicherweise aus dem Meere fischte, und von Vogeleiern leben.

Gegenwärtig war er nicht allein in der Grotte. Die Ziege Jannedik leistete ihm willkommene Gesellschaft und rieb von Zeit zu Zeit zärtlich ihren Kopf an seinen Knieen, als ob sie ihn trösten und ihrer Zuneigung versichern wollte. Das brave Tier hatte ganz zufällig auf einem ihrer gewohnheitsmäßigen Streifzüge über die Klippen das Versteck ihres Herrn entdeckt. Als sie es einmal kannte, wiederholte sie ihre Besuche und nun verging kein Tag, an dem sie nicht, wenn auch nur auf ganz kurze Zeit, gekommen wäre. Ihr Kommen und Gehen bildete für Rohan stets ein aufregendes Ereignis. Erstens fühlte er sich in ihrer Gesellschaft nicht gar so entsetzlich verlassen und unglücklich, und dann vermittelte sie, zwischen ihrem langen Haar verborgen, Botschaften an seine Mutter.

Seit der Flucht der Gendarmen aus der Kathedrale mochte ungefähr eine Stunde verstrichen sein. Rohan erhob sich von seinem Lager und spähte aus der Mündung des »schwarzen Loches« aufmerksam in die Tiefe. Die Flut hatte ihren Höhepunkt erreicht. Ein vereinzelter Seehund schwamm unruhig im Kreise herum, vergebens einen Landungsplatz suchend. Sonst unterbrach kein Laut die unheimliche Stille. Rohan kam es vor, als ob er zwischen Himmel und Wasser schwebte. Ihm ward recht schwer ums Herz. Wie lange würde er dieses Leben noch fortsetzen können – jetzt, da die Bluthunde auf seiner Spur waren?!

Bislang war es ihm gelungen, dem »Unwiderstehlichen«, wie die Leute Napoleon nannten, Trotz zu bieten. Ganz allein hatte er dem Kaiser den Fehdehandschuh hingeworfen und sich gegen ihn aufgelehnt. Er hatte der Erde zugerufen: »Verstecke mich!« und dem Meere: »Schütze mich!« – nicht vergebens. Freilich hatte er in diesem aufreibenden Kampfe schon viel gelitten, wie eben alle Empörer für ihre Überzeugung leiden und dulden müssen. Aber er hatte der mahnenden Stimme seines Gewissens gehorcht, die er für die Stimme Gottes hielt und war fest entschlossen, dies auch fürder zu thun.

In den Stunden der höchsten Drangsal gewährte ihm der Gedanke an Marcelle Trost und Qual zugleich: Qual, weil er ihre Liebe verloren zu haben glaubte und fürchtete, daß auch sie ihn für einen Abtrünnigen, einen Verräter, einen Feigling halten könne; Trost, weil er stets daran dachte, was ihm das prächtige Mädchen gewesen, das ihm Nacht für Nacht als tröstender Engel in seinen Träumen erschien. Manche einsame Stunde hatte er unten in der Kathedrale an derselben Stelle verbracht, wo er Marcelle an jenem denkwürdigen Tage den »Altar« gezeigt; er hatte im Geiste die kleinsten Einzelheiten jener beseligenden Stunden noch einmal durchlebt. Er sah sie, wie sie als kleines Kind Hand in Hand mit ihm die Wiesen und Fluren durchstreifte, ihn dann als Jungfrau auf seinen Streifzügen zwischen den Klippen begleitete und ihm zusah, wie er die Vogelnester nach Eiern durchsuchte oder ihr von den gefährlichsten Höhen Blumen brachte. Diese glücklichen Erinnerungen ließen ihm die düstere Gegenwart erträglich erscheinen.

Auch darüber war er sich ganz klar, daß er die Geliebte für immer verloren habe, seit er in die Reihe der Esaue getreten war, die sich gegen die althergebrachte ungerechte Weltordnung auf Kosten ihres Familienglücks, des seelischen und leiblichen Friedens und der Ehre auflehnen.

Mit jedem Tag, mit jeder Stunde, die er grübelnd verbrachte, wuchs sein Haß gegen den Krieg und sein Widerstand schien ihm immer gerechtfertigter. In der Dunkelheit der einsamen Grotte hatte er sich von den blutigen Schlachtfeldern Phantome vorgezaubert, die geeignet waren, die tiefste Hölle zu bevölkern. Mit seinem fast ins Unendliche gesteigerten Feingefühl und Scharfsinn nahm alles, was er gelesen und gehört, greifbare Formen und Gestalten an. Er sah Brüder ihre Brüder erschlagen, Menschen in Menschenblut waten; an den blutroten Granitwänden, die ihn umgaben, tauchten vor seinem geistigen Auge die Umrisse der allzu furchtbaren Wirklichkeit klar auf und erfüllten ihn mit Entsetzen. Der Blutgeruch, den man in Schlachthäusern und auf Schlachtfeldern so deutlich spürt, stieg ihm in die Nase. Er hörte das Gewimmer der Verwundeten, das Jammern der Witwen und Waisen, sah all die Brandstätten, den grenzenlosen Jammer und die Not, welche die Kriegsfurie im Gefolge hat. Mit der lebhaften Phantasie eines Poeten oder dem Seherblick eines Propheten sah und hörte er all diese Greuel. Jeder Mensch trägt seine eigene Hölle in der Brust und dies war Rohans Inferno …

Plötzlich schreckte ihn Geräusch von seinem Lager auf; er erhob sich und blickte aus dem »Trou« in die Tiefe. Die Flut war bereits so weit zurückgetreten, daß man den feuchten Kiesboden durchschimmern sah. Der Himmel hatte sich umwölkt, der Regen schlug erbarmungslos auf die Granitwände herab, so daß es aussah, als ob Blut hinabrieselte. Rohan fühlte gar nicht, daß er bis auf die Haut durchnäßt wurde – er schien wasserdicht zu sein. Träumerischen Blickes beobachtete er die sich verlaufende Flut, dabei dem Brüllen des Meeres, dem Plätschern des Regens und dem Heulen des Windes lauschend. Nach geraumer Zeit schlugen auch andere Laute an sein Ohr – das Gemurmel menschlicher Stimmen. Sie kamen immer näher und Rohan zog sich vor seinen Verfolgern in das sichere Versteck zurück.

Pipriac näherte sich mit seinen Gendarmen, mit Mikel Grallon und einem ganzen Schwarm von Dorfleuten dem Belagerungsorte. Der aufgeregte Alte versuchte die Gaffer unter Flüchen und Verwünschungen hinauszujagen. Vergebens; da sie in bedeutender Übermacht und von Neugier erfüllt waren, ließen sie sich nicht hinausweisen, sondern folgten den Häschern auf dem Fuße. Plaudernd und gestikulierend näherten sie sich dem »schwarzen Loch.«

Aus dem Dunkel seiner Grotte konnte Rohan, ohne gesehen zu werden, das malerische Bild beobachten. Wie Zwerge krochen zuerst die Gendarmen mit ihren aufgepflanzten Bajonetten und hinter ihnen her die buntgekleidete, aufgeregte Menge bis dicht an den »Altar« hinan. Plötzlich stockte Rohan der Atem und er erbleichte, denn etwas abseits von den Dorfleuten stand Marcelle und blickte aufwärts. Er konnte ganz deutlich ihr bleiches, abgehärmtes, von der Trauerhaube umrahmtes Gesichtchen erkennen. Was hatte sie hergebracht? Sollte sie sich mit seinen Verfolgern verbunden haben? War sie gekommen, um sich an seinem Unglück, an seiner Erniedrigung, vielleicht gar an seinem Tode zu ergötzen? Ein qualvoller Schmerz erfüllte sein Herz. Von diesem Gefühl überwältigt, vergaß er alles andere und starrte nur wie ein zu Tode gehetztes Wild in die auf ihn gerichteten brennenden Augen.

Und jetzt, o Pipriac, an die Arbeit! Ihr seid viele gegen einen! Der Kaiser wartet schon mit Ungeduld darauf, ein Exempel zu statuieren und mit dem Empörer abzurechnen! Treibe doch den Fuchs aus seinem Bau, o Pipriac! Er verdient keine Schonung; aber erwische ihn lebend, damit er tüchtig bestraft werden könne. Wozu vergeudest du und deine Schergen unnütz mit Gaffen die Zeit? Glaubt ihr, daß euch der Deserteur wie eine gebratene Taube in den Mund fliegen werde?

Eine Weile starrt Pipriac ratlos in die schwindelerregende Höhe; dann macht er seinen Leuten, in erster Linie aber Grallon, den Vorschlag, wenigstens den Versuch zu wagen, in den Trichter hinaufzuklettern. Aber alle lehnen diese Zumutung entrüstet ab, so daß der wutschnaubende Sergeant keinen anderen Ausweg findet und zur Überredungskunst seine Zuflucht nimmt: »Zum Teufel, verfluchter Deserteur, bist du oben? Hörst du mich? Gieb ein Lebenszeichen von dir!«

Keine andere Antwort als das von den Klippen wiederhallende Echo!

»Himmelsakrament, wenn der Kerl uns wieder entwischt ist!«

»Das ist unmöglich; wenn er kein Geist ist, muß er noch oben sein,« erklärte Mikel.

»Und wer zum Teufel sagt dir denn, daß er kein Geist ist?« fuhr Pipriac den Fischer an. »Du bist ein Esel, geh' mir aus den Augen! Wenn wir wenigstens eine Leiter hätten!« Dann brüllte er wieder mit der ganzen Kraft seiner Lunge hinauf: »Deserteur! Nummer Eins! Rohan Gwenfern!«

Kein Ton, kein Laut kommt von oben. Die Dorfleute wechseln spöttische Blicke, Marcelle betet inbrünstig. Pipriac speit Feuer und Flammen! Ihn, den Vertreter des Kaisers, wagt ein einfacher unbewaffneter Fischer, der wie ein Fuchs in seinem Bau kauert, ein elender Deserteur, ein Chouan, ein Feigling, der sich vor dem Kanonendonner fürchtet, an der Nase herumzuführen! Für den Sohn seines Freundes wohnt nicht ein Funke von Mitleid mehr in seinem Herzen. Gnade seiner Seele, wenn er jetzt in seine Hände gerät! Mit blutunterlaufenen Augen, heiser vor Zorn und Wut, kommandiert er seinen Leuten: »Donnerwetter noch einmal! Seid ihr alle nichts als elende Waschlappen? Hat keiner den Mut einer Fliege? André, Pierre, Bertram, Hoël, wagt keiner hinaufzuklettern? Wären nicht meine Beine so klapperig und mein Kopf so schwindelig, ich wollte euch schon zeigen, was der alte Pipriac kann! Ihr Schurken, ihr feigen Memmen!«

Durch diese Worte angefeuert, streift Pierre seine Schuhe ab, nimmt das Bajonett zwischen die Zähne und versucht, hinanzuklettern. Die Wand ist wohl steil und schlüpferig, aber sie bietet doch einige Vorsprünge für Hände und Füße. Von allen Anwesenden neugierig beobachtet, gelingt es Pierre, langsam emporzuklimmen, doch gar bald gleitet sein Fuß ab und er fällt mit einem Schrei zu Boden. Zum Glück war er noch nicht hoch gekommen, so daß er nur eine leichte Quetschung davontrug. Jetzt meldet sich André, ein dunkeläugiger, entschlossen aussehender Kerl mit sehnigen Händen und Beinen. Das Bajonett im Munde, klettert er, geschickt wie eine Katze, empor. Er hat schon die größere Hälfte des Weges zurückgelegt, da ertönt plötzlich aus dem Munde eines Zuschauers ein erschrockener Warnungsruf. Alles starrt in die Höhe, auch André. Gerade über seinem Kopfe sieht man zwei ausgestreckte Hände und diese Hände schwingen ein riesiges Felsstück – ein leichenblasses, aber zum Äußersten entschlossenes Antlitz neigt sich hinab – das Antlitz Rohan Gwenferns.

Jetzt wäre es leicht, den Deserteur niederzuknallen – aber was geschähe mit André? Der in der Luft schwebende Stein würde ihn zu Brei zermalmen. Er wartet diese Möglichkeit gar nicht ab, sondern trachtet, so rasch als möglich wieder festen Boden zu erreichen. Noch ehe dies der Fall, sind Arme und Gesicht oben im Trichter verschwunden. Pipriac flucht und zetert. Salve auf Salve wird hinaufgefeuert, ohne das gewünschte Ziel zu treffen. Die an den Felswänden abprallenden Kugeln fallen mit dumpfem Geräusch zur Erde. Die Klippen wiederhallen von dem Flintengeknatter. Die Kathedrale ist von dem unzufriedenen Gemurre der Dorfleute und den Verwünschungen der Gendarmen erfüllt. Dann werden wieder einige vergebliche Kletterversuche gemacht, Schüsse hinaufgefeuert – kurz: eine regelrechte Belagerung ist im Zuge, wird aber mit Sonnenuntergang von der neuerlich in die Kathedrale dringenden Flut unterbrochen. Den ganzen Tag hatte es – kleine Unterbrechungen ausgenommen – geregnet; Zuschauer und Gendarmen sind bis auf die Haut durchnäßt. Mit Eintritt der Flut ziehen sich die Belagerer und auch die Dorfbewohner schleunigst aus der Kathedrale zurück. Eine Frauengestalt jedoch zögert, schleicht bis dicht an den »Altar« hinan, richtet ihre brennenden Augen nach oben und ruft angstvoll: »Rohan! Bist du oben, Rohan?«

Keine Antwort! Sehnsüchtig streckt sie die Arme empor. Heiße Thränen rieseln ihre bleichen Wangen hinab.

»Um der Barmherzigkeit willen, gieb mir ein Lebenszeichen! Ich bin's, Marcelle!«

Wieder keine Antwort. Traurig wendet nun auch sie ihre Schritte dem Ausgange zu, sie muß schon knietief durchs Wasser waten.

Rohan liegt mit klopfendem Herzen auf seinem Lager. Wohl hat er die flehende Stimme gehört, das bleiche, verzweifelnde Antlitz gesehen, aber nicht gewagt, zu antworten. Marcelles süßes Gesicht hat seine Seele noch tiefer erschüttert als die grimmigen, entschlossenen Gesichter seiner Verfolger. Die Aufregungen des Tages machten ihn auch gegen sein Liebchen mißtrauisch. Konnte er denn wissen, ob sie sich nicht an die Seite seiner Feinde gestellt? In dumpfer Verzweiflung blickte er ihr nach; als sie seinen Blicken entschwunden, rang sich ein markerschütterndes Schluchzen aus seiner gepreßten Brust. Das waren nicht Thränen des Kummers, nicht Thränen des Selbstbedauerns, sondern heiße Thränen der sehnsüchtigen, verzweifelnden Liebe. Marcelles Anblick hatte ihm alles in Erinnerung gerufen, was er zu verlieren im Begriffe stand: seine Liebe, sein Eheglück, seine über alles geschätzte, ungebundene Freiheit, ja selbst sein Leben. »Marcelle, Marcelle!« schrie er verzweifelt aus; das Echo in der Grotte wiederholte diesen süßen Namen und Rohan fiel gebrochen auf sein Lager zurück.

Er blieb die ganze Nacht hindurch unbehelligt, aber er wußte nur zu gut, daß die Kathedrale von allen Seiten bewacht war. Er hätte sich übrigens in keinem Falle aus seinem Versteck gerührt, das ihm den sichersten Zufluchtsort bot, auch wenn sein angeschwollener Fuß ihm keine solchen Schmerzen bereitet hätte wie er sie jetzt empfand. Dumpf vor sich hinbrütend, ohne Licht zu machen, ruhte er stundenlang auf seinem Lager. Er hörte, wie die Wildtauben ihre Nester aufsuchten, sah, wie die Fledermäuse zur Grotte hinein- und herausflatterten, fühlte, wie allerlei Getier über seinen Körper kroch, aber er rührte sich nicht. Erst um Mitternacht, als der Mond mit seinen kalten Strahlen die Kathedrale überflutete und die Flut sich gänzlich verlaufen hatte, erhob er sich schwerfällig, um Vorbereitungen für seine belagerte Feste zu treffen. Auf dem Boden der Grotte lagen unzählige größere und kleinere losgelöste Felsstücke, diese schleppte er sorgfältig zur Öffnung des »Trichters,« um damit nötigenfalls seinen Feinden einen Denkzettel zu geben. Es war keine leichte Arbeit, denn manche der Steine waren so schwer, daß sie genügt hätten, um einem Ochsen das Lebenslicht auszublasen. Er gönnte sich erst Ruhe, als die Öffnung ganz verbarrikadiert war; dann warf er sich erschöpft, mit blutenden Händen auf seine Spreu und versank in einen tiefen Schlaf, aus dem er spät am Morgen durch lebhaftes Stimmengewirr erweckt wurde. Erschrocken sprang er auf und horchte: eine befehlshaberische Stimme rief ihn beim Namen. Bis zur Öffnung des »schwarzen Loches« kriechend, von dem Steinhaufen teilweise geschützt, blickte er vorsichtig in die Tiefe und sah unten eine Menge uniformierter und bewaffneter Leute, die einen stattlichen ältlichen Herrn umringten, in welchem er den Bürgermeister von St. Gurlott erkannte.

Der Bürgermeister hielt ein Papier in Händen und rief noch einmal den Namen des Deserteurs. Nach kurzer Überlegung entgegnete Rohan mit fester, klarer Stimme: »Hier!«

»Ruhe, ihr Leute! Rohan Gwenfern, hörst du mich?« fragte der Bürgermeister.

»Ja!«

»Kennst du mich?«

»Ja!«

»Nun denn! Zu Anfang des Sommers wurde dein Name aus der Urne der Konskribierten gezogen und stand als erster auf der Liste. Elender, man hat dich endlich entdeckt, wie man jeden entdeckt, der in der Stunde der Not feige sein Vaterland verläßt. Du kannst uns nicht entrinnen. Weshalb ergiebst du dich also nicht? Im Namen des Kaisers fordere ich dich auf, nicht länger Widerstand zu leisten!«

Keine Antwort.

»Hörst du mich? Bist du noch immer widerspenstig? Hast du kein Wort zu deinen Gunsten zu sagen?«

Nach kurzer Pause entgegnete die Stimme aus der Grotte: »Doch – eines!«

»Sprich!«

»Was geschieht mit mir, wenn ich mich ergebe?«

»Du wirst, als warnendes Beispiel für andere, erschossen werden.«

»Und wenn ich mich nicht ergebe?«

»Wird man dich wie einen tollen Hund niederknallen. Für Deserteure giebt es nur eine Strafe – eine Kugel! Begreifst du?«

»Ja, ich begreife.«

»Und wirst dich, um dir weitere Mühe zu ersparen, ergeben?«

»So lange als ich noch einen Atemzug in der Brust habe, werde ich das nicht thun!«

Der Bürgermeister faltete das Papier zusammen und übergab es Pipriac mit einer Miene, die ausdrücken sollte: »Ich habe meine Pflicht erfüllt und wasche meine Hände in Unschuld!« Darauf folgte eine lange Beratung mit den Gendarmen und zum Schluß erklärte der Bürgermeister stirnrunzelnd: »Das übrige liegt in eurer Hand. Ihr seid viele gegen einen! Wie Sie es anstellen, ihn lebend oder tot zu erwischen, das ist Ihre Sache, Sergeant Pipriac!«

»Das ist leicht gesagt!« knurrte Pipriac. »Aber es wird mehr als ein Menschenleben kosten, den Kerl in seinem Loch zu überrumpeln, denn ohne Leiter kann immer nur ein Mann und das nur mit äußerster Lebensgefahr heraufklettern.«

»Ganz egal, wir müssen ein Exempel statuieren! Der Kerl muß unter allen Umständen gefaßt werden! Giebt es denn keine Leitern im Dorfe?« bemerkte der Bürgermeister, ein grimmig aussehender Herr, mit grausamen grauen Augen und energischem Mund.

»Ah, m'sieu,« gab Pipriac scharf zurück, »belieben Sie doch Ihre Augen zum ›Trou‹ hinauf zu richten; es müßte das die Himmelsleiter sein, die dort hinaufreichte, und dann – –«

In diesem Augenblick näherte sich Mikel Grallon, mit dem Hut in der Hand, dem Bürgermeister, als ob er etwas sagen wollte.

»Wer ist dieser Mensch?« fragte der Bürgermeister hochmütig.

»Das ist der Spion, der uns zuerst Nachrichten gab,« erklärte Pipriac verächtlich.

»Zurück, Bursche, was willst du?«

»Verzeihung, m'sieu le maire,« flüsterte Mikel, vortretend, statt zurückzuweichen. »Wenn alle Versuche, des Deserteurs habhaft zu werden, fehlschlagen sollten, giebt es ein letztes Mittel.«

»Und das wäre?«

»Ihn auszuhungern!«


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