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Vierundzwanzigstes Kapitel.
Fata Morgana

Mit der Geschmeidigkeit eines Affen kletterte Rohan die glatte Granitwand hinab und befand sich nach wenigen Augenblicken auf der einzigen trockenen Stelle in dem ungeheuren Raume. Vorsichtig blickte er um sich, ob er vor seinen Verfolgern auch sicher sei und atmete erleichtert auf, als er bemerkte, daß die Flut sich mit einem donnerähnlichen Getöse durch das Thor des heiligen Gildas wälzte. Das weit draußen wogende große Herz des Oceans erhob mit jedem Pulsschlag die Wellen zu schäumenden Bergen, die an den Granitwänden zerstoben, um im nächsten Augenblick um so höher wieder aufzutauchen. Rohan beobachtete ängstlich diesen mächtigen Aufruhr des tobenden, brausenden und immer höher steigenden Gewässers, das bereits seine nackten Füße umspülte und die bewegungslos auf dem Boden liegende Gestalt wegzuspülen drohte. Er zuckte zusammen, als ob eine eiskalte Hand an sein Herz gegriffen hätte und konnte keinen Blick von dem leichenblassen, zum Himmel gerichteten Antlitz wenden, das jetzt vom fahlen Mondlicht beleuchtet wurde. Eines der großen Felsstücke, die Rohan in seiner blinden Wut heruntergeschleudert hatte, mußte den Mann niedergestreckt haben; es lag noch immer auf seiner zerschmetterten Brust. Der Tod mußte sofort eingetreten sein. Die eine starre Hand lag bereits im Wasser, während das schreckliche Gesicht mit den gebrochenen Augen wie anklagend zum Himmel emporstarrte.

Worte vermögen das Gefühl des Grauens, von welchem Rohan bei diesem Anblick durchrüttelt wurde, nicht zu beschreiben. Er fröstelte wie im Fieber, ein dumpfer wühlender Schmerz lähmte seine Glieder, er hätte, wenn es sein Leben kosten sollte, sich nicht von der Stelle zu rühren vermocht. Wie hypnotisiert starrte er bald auf das Antlitz des Toten, bald auf seine eigenen Hände, die nicht mehr rein von Blut waren. Vor seinen Augen sprühten Funken, er mußte sich an ein Felsstück lehnen, um nicht vor Schmerzen umzusinken.

Mit der Flucht seiner Feinde war sein wilder Zorn und sein Blutdurst sofort verraucht. Die Schlacht war geschlagen, er behauptete das Feld als Sieger, aber zu seinen Füßen lag ein von ihm Gemordeter! Er hatte schon öfter Tote gesehen – Männer, Frauen und Kinder, die in ihren Betten gestorben waren, nachdem sie die letzten Segnungen der Kirche empfangen hatten. Auch Totenwache hatte er als guter Christ und Bürger öfter gehalten, aber damals waren seine Hände noch nicht mit Blut befleckt gewesen und sein Gewissen rein! Mit Entsetzen und Grauen ward er sich bewußt, daß seine Hände ein atmendes Menschenleben – das merkwürdigste und heiligste Geheimnis der Natur – vernichtet hatten.

Freilich hätte er sich damit trösten können, daß er nur aus Notwehr gehandelt; aber ist das für ein so feinfühlig geartetes Wesen wie Rohan Gwenfern ein Trost? Er, dessen Herz aus purer Güte, dessen Natur aus purer Liebe und Barmherzigkeit zusammengesetzt war, aus dessen Hand die unschuldigen Lämmlein und schüchternen Tauben gefressen hatten, der bislang keinem Lebewesen ein Leid hatte zufügen können, der selbst die Seevögel geschützt hatte, war an einem Menschen zum Mörder geworden! Schon der Gedanke erfüllte ihn mit grenzenlosem Abscheu! Sein Leben war zerstört, die Luft, die er atmete, vergiftet! Das also war das Ende seines Traumes von Liebe und Frieden auf Erden?!

Als er sich endlich aus dem einer Erstarrung ähnlichen Zustande aufraffte, zogen Wolken über seinem Haupte dahin, der Wind pfiff und das Meer brüllte noch immer hinter dem Thore. Er faßte sich ein Herz und bückte sich zu dem Toten hinab, um sein Antlitz zu erkennen, wozu er bisher noch nicht den Mut gefunden. In seinem Entsetzen flehte er inbrünstig, er möge wenigstens seinen bittersten Feind – Mikel Grallon – ins Jenseits befördert haben, damit er vor sich selbst eine Entschuldigung finden könne. Gott erhörte sein Gebet nicht und Rohan war der Verzweiflung nahe, als er entdeckte, daß der Ermordete eine Uniform trug, schneeweißes Haupt- und Barthaar hatte und Sergeant Pipriac war! Während der langen Zeit seiner Verfolgung war es ihm nie eingefallen, dem Alten ernstlich zu grollen oder ihn als Todfeind zu betrachten. Er hatte ihn stets als den besten Kameraden seines Vaters gekannt und wußte, daß sich hinter der strengen Miene große Gutmütigkeit versteckte, daß Pipriac ihm gerne Gelegenheit zur Flucht geboten hätte, wenn eine solche möglich gewesen wäre und daß er nur »der Not gehorchend, nicht dem eigenen Triebe« seine unliebsame Pflicht erfüllen wollte, ihn lebend oder tot den Behörden einzuliefern.

Der Tod adelt jedes Gesicht, auch der alte Sergeant sah in seiner starren Blässe ernst und ehrwürdig aus. Rohan war fassungslos – das hatte er nicht gewollt! Der Mond beleuchtete jetzt die grauenvolle Scene in der Kathedrale, die Flut war ruhig geworden, man hörte nur mehr das gleichmäßige Gemurmel der Wellen, die bereits Rohans Füße beleckten, was er gar nicht zu fühlen schien. Aber plötzlich ging ein Zittern durch seinen Körper, er horchte gespannt auf, über seinem Kopfe glaubte er menschliche Stimmen zu vernehmen, die in der Entfernung verhallten. Er warf noch einen Blick auf den Toten. Armer Pipriac, du wirst nie mehr schlechte Späße machen, nie mehr fluchen und wettern, deine Stimme ist für immer verstummt! Deine untersetzte Gestalt, deren unsichere Beine dich erst kürzlich durch die sonnenbeschienene Dorfstraße getragen, wird jetzt wie eine Weide von den Wellen der Flut bespült. Nie mehr wirst du die geliebte Schnapsflasche an deine durstigen Lippen führen. Du bist mit Tausenden von besseren Menschen auf deinem Posten, im Dienste des großen Welteroberers, der die Erde erzittern läßt, gefallen, und obgleich du dein Leben fern vom Schlachtfelde eingebüßt hast, muß man dir altem Veteranen die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß du tapfer deine Pflicht erfüllt hast. Du warst trotz deiner rauhen Zunge ein seelenguter Mensch! So wenigstens dachte Rohan Gwenfern, während er sich zum letztenmal traurig über die Leiche neigte und über ihr das Kreuzeszeichen machte.

Jetzt erst bemerkt er, daß das schwere Felsstück noch auf der zerschmetterten Brust lastet. Er schleudert es in die Flut. Der von der Last befreite Körper wird von den Wellen hin und her geschaukelt, bis er auf das Gesicht zu liegen kommt. Rohan steht schon bis zu den Knöcheln im Wasser. Mit einem tiefen Seufzer reißt er sich los, wirft noch einen letzten verzweifelten Blick auf die von den Wellen umspülte Leiche und klettert dann wieder in sein Versteck.

Kaum ist er oben angekommen, als seine Aufmerksamkeit von neuem durch den Laut menschlicher Stimmen erregt wird. Er blickt aufmerksam lauschend in die Höhe.

Zum erstenmal wird ihm die Gefahr, in die er sich durch seine That gestürzt, klar. Obgleich er, um kein autorisierter Menschenschlächter zu werden, nur aus Notwehr einen Totschlag begangen, wird das Gesetz ihn dennoch als Mörder betrachten und früher oder später als solchen auch bestrafen. Mit einem markerschütternden Schrei wirft er sich auf die Kniee.

Hör' ihn, o barmherziger Gott, denn er betet! Habe Mitleid mit seinen Qualen; erfülle sein Flehen, denn er ist in deiner Hand! Ach, dieser verzweiflungsvolle Schrei, der sich in der Stille der Nacht zu dir erhebt, ist kein sanftes Gebet, das um Mitleid und Gnade fleht, es ist vielmehr der wahnsinnige Racheschrei einer verbitterten Seele. »Ich bin unschuldig an dieser That, o Gott, nicht auf mein Haupt falle die Schuld, sondern auf das Haupt desjenigen, der mich wie ein Wild zu Tode hetzt und mich zu dem gemacht hat, was ich geworden bin. Strafe, o Herr, denjenigen, dessen rotes Schwert die Welt erzittern macht und der deine Geschöpfe zur Schlachtbank führt! Schone ihn nicht, o Herr, er sei verflucht, wie ich verflucht bin!« Dies ungefähr war der Sinn des Gebetes, das sich aus Rohan Gwenferns gepreßtem Herzen gen Himmel erhob. Dann sprang er auf und betrat, ohne daran zu denken, was mit ihm geschehen werde, den schwindeligen Pfad, der zur Klippe emporführte.

*

Das Datum jenes Tages ist denkwürdig: man schrieb den 19. Oktober des Jahres 1813.

Das Vorkommnis, welches wir jetzt erzählen wollen, wird von jenen, denen der Lebenslauf Rohan Gwenferns bekannt ist, verschieden wiedergegeben. Die Frommen und Abergläubischen sind von der Überzeugung durchdrungen, daß Rohan an jenem Abend wirklich eine apokalyptische Erscheinung gesehen habe; andere meinen, daß er die Vision nur im Geiste gesehen habe – sein fieberhaft erregtes Gehirn habe ihm eine Art Fata Morgana vorgespiegelt; die kleine Zahl der Skeptiker geht so weit, zu behaupten, Rohan habe sich die Geschichte erst in späteren Jahren zusammengereimt, als Wahrheit und Dichtung sich in seinem Geiste zu einem außergewöhnlichen Bilde verschmelzten. Sei dem wie immer, Rohan Gwenfern berichtet, daß er, als er in jener Nacht, wie von Furien gejagt, aus seinem Versteck floh und den gefährlichen Klippenweg emporklomm, plötzlich am Himmel eine geheimnisvolle Luftspiegelung bemerkte.

Der Mond verschwand hinter einer Wolke, von der er wie aus einem transparenten Zelt sein fahles Licht über den Himmel ergoß. Dichte Dunstmassen stiegen empor und wurden in der Richtung des Windes vorwärts getrieben; plötzlich, wie auf das Zeichen einer Hand, hörte der Wind auf, die Wolken standen still und lautlose Ruhe herrschte sowohl in den Lüften, als auch über dem Meere. Diese beängstigende Stille dauerte jedoch nur einen Augenblick. Mit atemloser Spannung sah Rohan den weiteren Ereignissen entgegen. Er blickte in die Höhe und bemerkte zu seinem grenzenlosen Erstaunen, daß die Wolken die Gestalt von über seinem Haupte marschierenden Armeen angenommen hatten. Die Erscheinung nahm immer größere Dimensionen an und wurde immer deutlicher. Er sah das Blitzen der Säbel, das Aufeinanderplatzen der Regimenter, ja, er konnte sogar ganz klar die Infanterie und die Silhouetten der Artillerie unterscheiden! Das ganze Himmelszelt schien sich in ein ungeheures Schlachtfeld zu verwandeln, das mit Toten und Sterbenden bedeckt war; dort, wo sich sonst die Milchstraße hinzieht, schlängelte sich ein ungeheuerer Strom, durch den Legionen von fliehenden Soldaten schwammen.

Die Gestalten zogen klar und deutlich, aber doch geisterhaft an ihm vorbei und selbst die sich in weiter Ferne abhebenden Gesichter glaubte er deutlich zu sehen, sie trugen alle den schmerzlichen Ausdruck jenes Toten, vor dem er eben in wahnsinniger Angst geflohen war. Doch was war das? Seine ganze Aufmerksamkeit wurde jetzt von einer Gestalt in Anspruch genommen, die sich in der Nähe der halbdurchscheinenden Wolke, die den Mond verschleierte, riesengroß erhob.

Sie saß, in Mantel und Kapuze gehüllt, hoch zu Roß und deutete mit erhobener Rechten nach vorwärts. Trotzdem ihre Umrisse das gewöhnliche menschliche Maß bei weitem überschritten, schien sie doch das Antlitz eines Menschen zu haben – es war weiß wie Marmor und kalt wie der Tod.

Langsam, wie Wolken dahinzuschweben pflegen, glitt die Gestalt über das Firmament dahin und um sie herum schwebten all die Legionen Fliehender, denen sie den Weg zeigte. Der Kopf war tief auf die Brust gesenkt, wie der eines Mutlosen; die kalten, erbarmungslosen Augen blickten in stiller Verzweiflung zu Boden. Bestürzt und angsterfüllt erhob Rohan seine Hände mit einem Schrei, denn die Umrisse, die er anstarrte, erschienen ihm beinahe gottähnlich und auch die Gestalt schien göttlich; aber als er fester hinsah, verwandelten sich die Züge des göttlichen Antlitzes und kamen ihm furchtbar bekannt vor. Ach, es war das Gesicht des Mannes, der ihm sein Leben verbittert und welches ihm Christus im Traume gezeigt hatte!

Kolonne nach Kolonne passierte vorbei und verdunkelte das ganze Firmament. In ihrer Mitte bewegte sich, teuflisch und herrisch, das Phantom Napoleons.

So geschehen in der Nacht des 19. Oktober 1813. Bekanntlich erfolgte die Flucht der französischen Armee aus Leipzig, mit Bonaparte an der Spitze, zur gleichen Zeit …


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