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Siebentes Kapitel.
Am Brunnen

Vor der Hausthüre der Mutter Gwenfern standen Meister Arfoll und Rohan, in ein ernstes Gespräch vertieft. Es war eine ruhige und windstille Nacht. Der Mond wurde oft von leichten Wolken verdunkelt; wenn diese sich verzogen, beleuchtete er eine eigentümlich phantastische Scene unten am Strande. Schattenhafte Frauengestalten neigten sich über verborgene Wassertümpel, rings um diese herum lag blendend weiße Wäsche auf dem Kiese, ab und zu flackerte das Licht einer Laterne auf oder bewegte sich, wie von unsichtbaren Händen getragen. Um den geisterhaften Eindruck noch zu erhöhen, erklang dumpf und melancholisch das schreckliche Lied von den »Wäscherinnen der Nacht« durch die Luft.

Diese gefürchteten »Wäscherinnen der Nacht« sind nicht etwa liebliche Nixen, sondern entsetzliche, todbringende Gespenster, vor denen die abergläubischen Frauen eine Heidenangst haben. Wer die » Kannerez-noz« im Dunkel der Nacht mit leiblichem Auge erblickt, ist nach dem Volksmunde dem Tode geweiht. Sie waschen Nacht für Nacht; ihre Arbeit endet nie, denn die Reihe der Toten ist endlos. Am liebsten suchen sie verborgene Stellen auf, wo sie ungestört waschen und die Wäsche auswinden können.

In stillen Mondscheinnächten pflegten die fleißigen Frauen von Kromlaix eine am Strande befindliche Buchtung aufzusuchen, in welcher von einer tief in der Erde verborgenen Quelle eine Art Süßwasserbrunnen entstanden war. Dort spülten sie ihre Wäsche gemeinsam, melancholische Lieder singend, welche die gefürchteten »Wäscherinnen der Nacht« fernhalten sollten, oder Neuigkeiten austauschend, während sie ihre Krüge mit Wasser für den nächsten Tag füllten. Bei Tag und Nacht, am liebsten aber zur Zeit der Ebbe, versammelte sich alt und jung am »Brunnen.« Dieser bildete den Mittelpunkt aller Tratsch- und Skandalgeschichten des Dorfes.

Eine Weile hatte Arfoll die Scene mit Interesse beobachtet. Endlich wandte er sich lächelnd au Rohan: »Könnte man nicht glauben, die von unseren Frauen so gefürchteten › Kannerez-noz‹ dort unten ihre Wäsche spülen zu sehen? Sie dürften wohl keine so schönen Jungfrauen sein wie zum Beispiel deine Base Marcelle.«

»Unter den Wäscherinnen dort unten ist gar manche, die selbst an helllichtem Tage sich für eine Kannerez-noz ausgeben könnte, wie zum Beispiel die alte Mutter Barbaik,« entgegnete Rohan lachend.

Meister Arfoll stimmte nicht in das fröhliche Lachen ein, sondern sagte mitleidig: »Die armen alten Mütter mit den müden Gliedern und gebrochenen Herzen, die bald noch gebrochener sein werden! Ach, mein lieber Rohan, es ist sehr angenehm, jung, gesund und hübsch zu sein wie Marcelle, aber unsagbar traurig, so alt und mißachtet zu werden, wie Mutter Barbaik, von der du sprachst: hat sie nicht einen Sohn?«

»Ja.«

»Einen einzigen?«

»Ja – Jannick. Sie werden ihn vom Sehen kennen, Meister Arfoll; er ist lahm, hat einen großen Höcker und an der rechten Hand fehlen ihm zwei Finger – er ist so zur Welt gekommen.«

»Gott hat sich ihm also sehr gnädig erwiesen.«

»Gnädig?! Wieso?«

»Ja, ihm und seiner Mutter, denn es ist besser, lahm und buckelig zu sein, als Soldat zu werden. Der glückliche Jannick kann nie in den Krieg ziehen und seine alte Mutter kann ihr Kind behalten.«

»Und mein Name steht diesmal, obgleich ich der einzige Sohn einer Witwe bin, ebenfalls auf der Konskriptionsliste und meine Nummer kann gezogen werden?« fragte Rohan mit vor Erregung heiserer Stimme.

»Vielleicht – aber Gott verhüte es!«

»Gott verhüte es! Ach, ich habe es satt, Gottes Namen in einer solchen Verbindung zu hören!«

»Gottes Namen zu hören, darfst du nie satt bekommen, mein Sohn!«

»Gott verhüte es! Was verhütet Gott? Verhütet er vielleicht Grausamkeit, Schlächterei und Gemetzel? Nichts von alledem! Er überläßt seine Welt Teufeln. Sie, Meister Arfoll, haben all diese Schandthaten gesehen und glauben doch an ihn!« rief Rohan fast zornig. Mit seiner dichten blonden Mähne und seiner hohen, kräftigen Gestalt sah er neben dem schmächtigen Wanderlehrer wie einer der sagenhaften nordischen Riesen aus.

»Ja, mein Sohn, ich glaube an ihn,« erklärte Arfoll mit seiner milden Stimme, »und ich glaube, ich werde bis zu meiner Todesstunde an ihn glauben. Du hast noch sehr wenig von der Welt gesehen und noch nicht viel gelitten; ich habe viel gesehen und alles, was mir lieb und teuer war, verloren, und doch sage ich dir in dieser ernsten Stunde – Gott behüte mich davor, daß ich meinen Glauben an ihn verliere!«

»Warum giebt er solche Dinge zu?«

»Nicht Gott, sondern der Mensch ist des Menschen Geißel. Er hat die Welt schön gemacht, die bösen Menschen verderben sie, denn sie kennen Gott nicht.«

»Wer also kennt ihn? Die Kummervollen und Beladenen?«

»Diejenigen, die ihn lieben, Rohan, indem sie ihre Nebenmenschen lieben, ihnen Gutes thun und geduldig ihr Schicksal ertragen. Freilich, mein Gott ist nicht der Gott der Priester, auch nicht der deines Onkels Ewen und auch nicht der Schlachtengott. Mein Gott ist die Stimme meines eigenen Herzens, der ich stets folge, und sie hat mich noch nie betrogen.«

Rohan sah bewundernd zu seinem Lehrer auf, der ihn durch seine milden Mahnworte jedoch nicht bekehrt hatte. Das heiße Blut der Gwenfern kochte in seinen Adern, der Geist des Zornes und der Empörung war in ihm erwacht und hatte sich seiner bemächtigt. Dieses Naturkind vermochte nicht, seinen elementar ausbrechenden Gefühlen Zwang aufzuerlegen; sie waren mächtiger als der äußere Bildungsschliff, den ihm sein Lehrer beigebracht hatte. »Lassen Sie uns doch wieder auf die Konskription zurückkommen. – Der Kaiser kann also jedem erwachsenen Mann gebieten: ›Folge mir!‹ Und dies sollte wirklich Gottes Wille sein?«

»Nein!«

»Wäre ein Mann im Recht, der dem Kaiser mutig antworten würde: ›Ich folge dir nicht, denn deine Führerschaft ist verflucht?‹«

»Es giebt keine Rettung – wen er ruft, der muß ihm folgen!«

»Beantworten Sie mir zuerst die Frage, wäre ein solcher Mann im Recht oder nicht?«

»Vor Gott jedenfalls.«

»Also hören Sie! Sie sind mein Zeuge, ich schwöre vor Gott –« dabei erhob der junge Riese feierlich die beiden Finger der rechten Hand – »wenn ich je unter die Fahnen gerufen werden, wenn je die blutige Hand sich auf meine Schulter legen und der blutige Finger mich vorwärts weisen sollte, dann will ich bis zum letzten Blutstropfen, bis zum letzten Atemzug widerstehen. Und wenn alle Welt gegen mich sein sollte, ich würde standhaft bleiben. Man kann mich töten, aber man kann mich nicht zwingen, andere zu töten.«

Wie ein Wildbach waren diese Worte von Rohans Lippen gesprudelt; jeder Blutstropfen war aus seinem Gesichte gewichen und sein ganzer mächtiger Körper zitterte unter dem Einfluß seiner leidenschaftlichen Erregung. Ohne sich dessen bewußt zu sein, machte er, als er sein Gelöbnis beendet hatte, das Kreuzeszeichen, wie um auch Gott zum Zeugen seines Eides anzurufen.

Arfoll seufzte schwer auf. Er hatte schon öfter solche Eide und Leidenschaftsausbrüche gehört, aber das Ende war stets das gleiche gewesen – knirschende, verzweifelnde Unterordnung unter das unvermeidliche Schicksal. Lehrer und Schüler drückten sich nur noch stumm die Hände, dann ging der letztere ins Haus zurück, während Arfoll den Klippenweg einschlug.

»Gott verhüte, daß ihn das Los treffe,« murmelte er. »Jetzt ist er noch ein Lamm, denn er kennt nur die grünen Gefilde seiner Heimat und den Hauch des Friedens; aber er ist auch ein Feuergeist und das erste Blut auf dem Schlachtfeld würde ihn in ein wildes Tier verwandeln.«

Während Lehrer und Schüler dieses ernste Gespräch führten, ging es drüben am Brunnen recht lebhaft zu. Rings um denselben kauerten einige Frauen mit ihren nackten Knieen auf dem harten Kiesboden, klopften mit Holzschlägeln ihre Wäsche, andere wieder standen plaudernd und lachend in Gruppen und tauschten Neuigkeiten aus. Die Luft war warm, ab und zu tönte vom Meere herüber das schrille Gekreisch einer verspäteten Seemöwe; sogar eine große weiße Nachteule verirrte sich zum Brunnen und flatterte erschreckt über demselben hin und her, ehe sie ihren Weg zu den Klippen fand.

Auch Marcelle stand, mit ihrem Wasserkrug auf dem Kopfe, in einer Gruppe von plaudernden Mädchen. Sie war in diesem Kreise nicht besonders beliebt – teils wegen ihrer großen Schönheit, teils wegen ihrer Verwandtschaft mit dem Exkorporal. Die Mädchen steckten die Köpfe zusammen und erzählten sich ihre gegenseitigen Liebesgeschichten in flüsterndem geheimnisvollem Tone. Es waren einige sehr schöne darunter, aber keine konnte sich mit Marcelle messen. Von hellem Mondschein beleuchtet, glich sie einer Märchengestalt.

»O mein Gott!« seufzte eines der Weiber am Brunnen, »es ist nur zu wahr, was die kleine Joan sagt; gar manche von uns wird es zu ihrem Leidwesen bald genug erfahren.«

»Das wird für Kromlaix wieder ein trauriger Tag werden,« meinte eine andere. »Das letzte Mal wurde unser Kiarik genommen und er ist noch nicht heimgekehrt.«

»Aber er lebt doch noch,« mischte sich eine Greisin ein, »während meine beiden Söhne, Jannick und Gillarm, ohne Priestersegen oder Freundesgebet in fremder Erde verscharrt wurden.« Sie seufzte schwer auf und Thränen rieselten ihr über das runzelige Gesicht.

»Die Nachricht von einer neuen Konskription ist leider nur zu wahr,« bemerkte jetzt ein lahmes junges Mädchen Namens Joan, »aber die Zeit steht noch nicht fest; es kann auch noch ein oder zwei Jahre dauern, denn es heißt, daß der Kaiser noch keine bestimmten Entschlüsse gefaßt hat. Da Mutter wegen meiner Brüder ängstlich ist, fragte sie heute den Pfarrer und er sagte ihr, die Listen hätten nicht viel zu bedeuten; die Leute würden vielleicht noch lange nicht einberufen werden; auch könne Frieden geschlossen werden und diesfalls brauche niemand zu marschieren.«

»Es ist unbegreiflich, warum der Kaiser nicht Frieden macht. Ist er nicht der Herrscher? Als solchem müßte es ihm leicht fallen, Frieden zu schaffen.«

Jeanne Penvenn lachte wild auf. »Der Kaiser?! Sage ›der Teufel‹ und alles ist gesagt. Macht der Teufel je Frieden?«

»Schweigen Sie!« rief Marcelle, die Geduld verlierend. »Sie haben nicht das Recht, so zu sprechen. Und was Ihre auf dem Schlachtfelde gefallenen Söhne betrifft, so ist ihnen jetzt wohler als einst im Wirtshaus, wo sie zu raufen und zu fluchen pflegten. Es sind die Engländer, die den Kaiser verhindern, Frieden zu machen. Mein Onkel, der Korporal, sagt, daß der Kaiser sich gerne Ruhe gönnen würde, wenn die Engländer es zuließen, die alle Könige mit Gold erkauft haben. Die Wespen von Preußen und Engländern, die den Kaiser umsummen, können ihm nichts anhaben, aber sie können ihn belästigen und am Friedensschluß verhindern.«

Einige stimmten Marcelle bei, während andere heftig widersprachen; das richtete sich nach dem Einsatz, den jede Mutter oder Schwester im Kriegsspiel hatte.

»Wozu stellt der Sergeant die Listen so eilig zusammen?« fragte eine junge Frau. »Wenn die Losung gar nicht oder erst nach Jahr und Tag stattfinden soll, warum diese Eile mit den Vorbereitungen? Mir ist es ganz klar – offenbar führt der Kaiser wieder etwas Neues im Schilde und wir werden gewiß noch vor der Ernte erfahren: was.«

Ein allgemeines Seufzen folgte dieser unangenehmen Weissagung. Ein sehr altes Weib, das eben mit ihrem Krug an einer Krücke heranhumpelte, »Mutter Goron« genannt, sah die Sprecherin mit einem seltsamen Blick an.

»Komme, was kommen muß,« nahm Joan wieder das Wort. »Wenigstens bleibt uns der eine Trost, daß der Kaiser nicht alle braucht, und es steht bei Gott, wessen Name aus der Urne gezogen wird und wessen nicht.«

»Auch kann man der Heiligen Jungfrau eine Kerze opfern,« warf eine junge Mutter ein, deren Kinder noch ganz klein waren und die bei der Konskription nicht einmal für ihren Mann zu fürchten brauchte, der in Neufundland dem Stockfischfang oblag.

»Als unser armer Antonin im Herbst starb, war ich trostlos,« sagte ein hübsches Mädchen, das den Krug der Mutter Goron gefüllt hatte. »Aber jetzt ist es mir lieber, daß der liebe Gott ihn genommen als die Konskription.«

»Wir unserseits sind sicher!« rief Joan. »Ich habe nur einen Bruder, und einzige Söhne von Witwen nimmt der Kaiser nicht.«

Diese Äußerung verdroß Marcelle. »Da ist es doch besser,« bemerkte sie, höhnisch lachend, »drei diensttaugliche Brüder zu haben wie ich, von denen kein einziger ein Feigling ist. Mindestens einer von ihnen wird dem Kaiser dienen. Schade, daß ich kein Mann bin und daher nicht mitmarschieren darf!«

Einige Mädchen stimmten ihr lebhaft zu; wie leicht ist es, mutig zu sein, wenn man weiß, daß man nichts zu verlieren hat!

»Du irrst dich, Joan,« fuhr Marcelle fort, »diesmal werden auch die einzigen Söhne nicht verschont. Jeder taugliche Mann steht auf den Listen; wenn der Kaiser will, muß jeder gehen, nur die Blinden und Blöden nicht! Vive l'Empereur!«

Keine einzige Stimme wiederholte diesen Ausruf, alle Versammelten warfen feindselige Blicke auf die Kaiseranbeterin. Die alte Goron stöhnte schmerzlich auf, humpelte zu Marcelle hin, faßte sie beim Arm und schrie: »Das ist falsch, Mädchen!«

»Was ist falsch, Mutter Goron?«

»Daß auch die einzigen Söhne gezogen werden. Der Sergeant behauptet es zwar, aber es kann nicht richtig sein. Mein Gott, es kann nicht wahr sein! Der Sergeant sagt, daß niemand befreit wird, aber ich kann es unmöglich glauben. Ich habe mit dem Sergeant gesprochen; er meinte, der Kaiser brauche Tausende, ja Millionen Soldaten, um die frechen Deutschen zu züchtigen. Das ist ja ganz in der Ordnung, aber meinen Jungen soll er nicht haben. Ich habe für den Kaiser gebetet, damit er siege, und ich werde auch weiter für ihn beten, solange er mir meinen Sohn läßt; meine anderen sind tot und ich habe nur noch den Jean.«

»Fürchten Sie nichts, Mutter Goron!« sagte Marcelle ergriffen. »Der Sergeant weiß all dies und wird Ihren Jean nicht auf die Liste setzen; ja, selbst wenn sein Name gezogen würde, wird der gute Sergeant es nicht zugeben, daß Ihr Jean mitmarschiere.«

»Mein Fluch treffe alle!« schrie die Greisin verzweifelt. »Mein Jean ist groß und kräftig, und die Großen und Kräftigen werden stets gezogen. Man betrügt bei der Ziehung und nimmt immer die Besten. Der Kaiser zieht wieder in den Krieg, aber meinen Jean wird er nicht bekommen! So wahr es einen Gott im Himmel giebt, meinen Jungen wird er nicht bekommen!«

Marcelle warf einen mitleidigen Blick auf die ihrer Sinne kaum mehr mächtige Greisin, hob ihren Krug auf den Kopf und eilte nach Hause. Als sie in die Dorfstraße einbiegen wollte, trat aus dem Schatten Rohan hervor: »Marcelle!« flüsterte er zärtlich.

»Du, Rohan?«

Ein heißer Kuß in der stillen Mondscheinnacht und Rohan wollte der Geliebten den Wasserkrug abnehmen, aber sie gab es durchaus nicht zu; so schritt er denn neben ihr her.

»Du warst heute lange beim Brunnen.«

»Ja, es gab viel zu hören.«

Das war alles, was sie auf dem langen Wege miteinander sprachen. Rohan war heute außergewöhnlich einsilbig und in sich gekehrt und Marcelle empfand ein unsagbares Vergnügen, still an seiner Seite einherzuschreiten. Als sie endlich vor dem Häuschen des Korporals standen, nahm sie ihren Krug vom Kopfe, stellte ihn zu Boden und fragte: »Willst du nicht eintreten?«

»Ich danke, heute lieber nicht.«

Die Straße war ganz öde; er faßte sie bei beiden Händen, zog ihr Gesicht zu dem seinigen herab und wollte sie küssen. Doch plötzlich warf sie ihr Köpfchen zurück und bemerkte lachend: »Es ist also doch wahr!«

»Was ist wahr?« fragte er, sie küssend.

»Daß es wieder Krieg giebt. Der Kaiser ist auf die Deutschen erbost.«

Wie eine eiskalte Dusche trafen ihn diese Worte. Er schauerte zusammen.

»Was hast du?« fragte sie weich.

»Nichts; der Abend ist kühl. Es giebt also wieder Krieg?« Er bemühte sich, seiner Erregung Herr zu werden, die ihn fast überwältigt hätte. Seine Stimme klang ganz fest. Plötzlich, wie ein Blitzstrahl durchzuckte Marcelle zum erstenmal der Gedanke, daß dieser junge Riese, ihr Verlobter, wohl auch auf der Liste stehen werde. Ein schmerzliches Gefühl krampfte ihr das Herz zusammen, Thränen traten ihr in die Augen.

»Vergieb mir, Rohan, ich hatte vergessen. Ich dachte wirklich nicht daran, daß auch die einzigen Söhne gezogen werden,« stotterte sie.

»Was ist weiter dabei?« lachte Rohan bitter auf.

Das Mädchen ließ traurig den Kopf hängen. Beide schwiegen, von ihren Gefühlen überwältigt. Marcelle raffte sich zuerst auf, trat ganz dicht an ihren Vetter heran, schlang beide Arme zärtlich um seinen Hals, so daß er das heftige Pochen ihres Herzens an dem seinigen hören konnte, drückte ihre Lippen leidenschaftlich auf die seinigen und schluchzte: »Geliebter Rohan, mein tapferer Rohan! Es ist wahr, dein Name steht ebenfalls auf der Liste und kann gezogen werden. Wenn er es wird, mußt du mich verlassen, um dem großen Kaiser zu dienen und für Frankreich zu kämpfen. Ich will nicht lügen, ich werde inbrünstig beten, daß du nicht zu gehen brauchst; aber solltest du gehen müssen, nun, dann wirst du mich tapfer finden, ich werde nicht weinen. Es thut bitter weh, von dem Liebsten, was man hat, zu scheiden, aber es geschieht für den Kaiser – was würden wir für diesen nicht alles thun? Wenn es sein und Gottes Wille ist, werde ich nicht trauern, nein, ich werde stolz sein.«

Sie fuhr sich mit der Handfläche über die feuchten Augen. Ehe Rohan sich von seinem Erstaunen so weit fassen konnte, um ihr zu antworten, ertönte vom Hause der laute Ruf: »Marcelle!«

Sie drückte rasch noch einen Kuß auf Rohans Lippen, nahm ihren Krug auf und eilte ins Haus. Rohan stand noch eine Weile wie vor Entsetzen versteinert im Schatten. Ihr Kuß brannte ihn wie Feuer. Er empfand es heute zum erstenmal, wie grundverschieden ihre Gesinnungen waren, wie ganz anders ihre Seelen empfanden. Und doch liebte er dieses Mädchen immer mehr, sein Gefühl für sie wuchs ins Unendliche, aber auch die entsetzliche Angst vor der Zukunft. Er glaubte, unter der Wucht dieser beiden neuen Empfindungen den Verstand verlieren zu müssen.

Wie lange er vor dem Hause des Korporals gestanden, wußte er selbst nicht. Stundenlang irrte er dann noch im Mondschein umher, seinen Eid wiederholend: »Du hast meinen Schwur gehört, o Gott! Ich will kein Blut vergießen! Nie! Nie!«


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