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Zwölftes Kapitel.
Sturm

Rohan Gwenferns wohlgeschultes Auge hatte ihn nicht betrogen – Sturm war im Anzuge und er kam noch früh am Nachmittag.

Nachdem er sich von Arfoll getrennt, der sich mit schleppenden Schritten einem der stillen Gehöfte zuwandte, verfolgte Rohan den schmalen Fußsteg, der über die Klippen hinwegführte. Gar oft mußte er auf allen Vieren kriechen oder gewagte Sprünge machen, die ihm kaum jemand nachgeahmt hätte. Je weiter er ging, desto verlassener und öder wurde die Gegend. Er begegnete keiner Menschenseele auf dem schwindeligen Pfad, der sich langsam zu dem großen Vorgebirge von Pointe du Croix emporschlängelte.

Sein Gesichtsausdruck ward allmählich ein ruhiger. Der lauernde, verängstigte Blick hatte dem der Selbstbeherrschung Platz gemacht, denn während sich die dunkeln Wellen zu seinen Füßen brachen, die weißen Möwen blitzschnell über seinem Kopfe dahinsegelten, die flinken Ziegen furchtlos von Klippe zu Klippe sprangen, erwachte in ihm immer lebhafter das Gefühl seiner Zugehörigkeit zur Natur. Seine Brust weitete sich, er fühlte sich wieder glücklich und frei; die Einsamkeit hatte für ihn keine Schrecken mehr, die Gefahr reizte ihn. Seit er denken konnte, hatten ihm solche Wanderungen im Herzen der Natur ein unsagbares Vergnügen bereitet; jetzt liebte er sie bis zum Wahnsinn, denn er hatte der ganzen Welt den Fehdehandschuh hingeworfen und ihm war nichts geblieben als diese seine Liebe zur Natur.

Er hatte sich geweigert, dem Rufe eines Tyrannen Folge zu leisten. Anstatt sich wie ein Sklave in die Soldatenlivree stecken zu lassen und Mordwerkzeuge zu tragen, war er frei – er konnte thun und lassen, was er wollte, und wenn es nötig war, konnte er sterben wie er wollte. Das Herz der Mutter Erde schlug ihm freudig zu – er konnte es deutlich fühlen, wenn er sich in das weiche duftende Gras warf; die lebenden Wellen hüpften und freuten sich mit ihm, er sah sie meilen- und meilenweit sich mit rhythmischer Freude fortbewegen; der Zephyr umkoste zärtlich seine Wangen, er trank mit vollen Zügen die würzige Luft, die seine Brust weitete und ihm Kraft verlieh. Schließlich und endlich war es doch etwas wert, ein Mann zu sein – ein freier Mann und zu dem heiligen Sakrament der Natur zugelassen zu werden, aufgenommen von allen Kreaturen der Schöpfung, welche die Grausamkeit der Menschen beklagen.

Ehe Arfoll ihm seinen Segen erteilt, hatte er sich schwach und unglücklich gefühlt; jetzt fühlte er sich glücklich, stark und mit der Natur eins. Ja, glücklich, denn auch die Verfolgung vermag ein gewisses Glücksgefühl zu erzeugen, indem sie ungehobene Schätze von Mut und Selbstvertrauen, die in der Brust verborgen schlummern, erweckt. Rohan Gwenfern hatte sich seinen Kameraden immer überlegen gefühlt – sowohl geistig als auch physisch; auch hatte es ihm stets widerstrebt, ein Sklave des Schwertes oder des Pfluges zu sein. Seine Empörung entwickelte diesen berechtigten Stolz zu so maßloser Leidenschaft, daß er sich stark genug fühlte, den Kampf mit der ganzen Welt aufzunehmen.

Dies waren die Gefühle, die sein Herz auf dem einsamen Klippenwege erfüllten und ihn seine Mutter und Marcelle fast vergessen ließen; als aber die Dämmerung hereinbrach und der warme Sonnenschein einem kühlen Regen Platz machte, begann er sich doch wieder recht unbehaglich zu fühlen. Als er endlich den Gipfel des Vorgebirges erreicht hatte, regnete es schon in Strömen. Ein schieferfarbener Wasserberg schwebte über seinem Haupte und stürzte sich dann als vierfacher Katarakt über die Klippen herab. Das gab ein furchtbares Getöse, wie das Donnern von tausenden Kanonen. Auf dem trockensten Plätzchen saßen in Reih und Glied Hunderte von grünen und schwarzen Scharben und schliefen ruhig mit den Köpfen unter den Flügeln, obgleich der Schaum des Kataraktes zeitweilig ihre langen Beine benetzte. Rohan kauerte sich in eine halbwegs geschützte Nische, nahm ein Stück Schwarzbrot aus der Tasche und aß es mit Heißhunger. Er spähte auch nach Wasser aus, da er aber kein trinkbares in der Nähe entdeckte, fing er den Regen in der hohlen Hand auf und löschte damit seinen Durst.

Das war nichts Neues für ihn; hundertmal hatte er sich aus lieber Lust dem größten Unwetter preisgegeben und so gelebt wie heute. Er benützte die Einsamkeit, um in Ruhe seinen Kriegsplan zu entwerfen. Dazu hätte er kein passenderes Plätzchen finden können als sein Versteck auf dem Gipfel des Vorgebirges von Pointe du Croix. Wie lange er dort gesessen, wußte er selbst nicht; als er jedoch endlich den Weg nach seinem Heimatsdorf einschlug, waren seine Gedanken vollständig geklärt.

Ein furchtbarer Sturm ereilte ihn, während er über das einsame Moor von Vilaine hastete. Viehherden kauerten, eng aneinandergedrückt, dicht unter den Klippen, wilde Ziegen suchten schützende Stellen auf den höchsten Felsspitzen zu erreichen, aber von einem menschlichen Wesen war weit und breit keine Spur. Unheimlich ragten die vereinzelt stehenden Menhirs aus der pechschwarzen Nacht hervor. Außer Rohan, der jeden Steg, jedes Fleckchen der Gegend kannte, hätte es kein Mensch wagen dürfen, in dieser Finsternis über die gefährliche Moorebene zu schreiten. Er vermochte nicht zehn Schritt weit zu sehen, der Regen stürzte in Strömen herunter, als ob sich alle Schleusen des Himmels geöffnet hätten, ein eiskalter Nordwind umbrauste ihn und riß ihm die Kleider in Fetzen vom Leibe; schwarze, dichte Wolkenberge rasten mit Blitzesschnelle über seinem Kopfe hinweg, zu seiner Linken brüllte, toste und kochte das Meer, rechts lauerten die Gefahren des heimtückischen Moorgrundes. Alle Elemente schienen sich vereinigt zu haben und mit wilder Macht losgebrochen zu sein, um Rohans Mut auf die Probe zu stellen. Bis auf die Haut durchnäßt, vor Kälte zitternd, barhaupt und barfuß, bahnte er sich einen Weg. Gar oft mußte er stehen bleiben, wenn der Wind es zu toll trieb, um Atem schöpfen zu können und sich zu orientieren. Ohne die dicht aufeinanderfolgenden Blitze, die ihm als Leuchte dienten, hätte er wahrscheinlich den Morgen nicht erlebt.

Doch was war das? Welch' neue Schrecken lauerten auf ihn? Ein blutrotes Licht flammte vom Meeresufer auf und durchzuckte mit seinem grellen Schein die tiefe Dunkelheit. Im ersten Augenblick packte ihn ein namenloses Entsetzen, das ihn zu lähmen drohte, doch faßte er sich rasch und kroch vorsichtig dem Lichtschein nach, der wie die Lampe eines Leuchtturmes bald hell aufflammte, bald wieder verschwand. Nach einem harten Kampf, den er mit dem immer heftiger tobenden Sturmwind zu bestehen hatte, bot sich ihm, als er an einer Biegung des Fußweges anlangte, ein das Blut erstarren machender Anblick dar. Am äußersten Rande der Klippen stand ein riesiger, mit dicken Stricken befestigter Eisenkäfig, in welchem ein Scheiterhaufen von Eichenblöcken und Ginsterbüschen hell loderte. Er war von sieben bis acht wildaussehenden Männern und drei bis vier alten Weibern umringt. Einige rannten, wie besessen singend und gestikulierend, um den Käfig herum, andere kauerten, in die Flamme starrend, vor demselben, während ein altes Weib, das man getrost für die Hexe von Endor hätte halten können, sich über das Feuer bückte und mit ihren langen dürren Fingern allerlei Zeichen darüber machte. Einige Schritte von dieser merkwürdigen Gruppe entfernt, erhob sich ein niedriger Menhir; auf diesen steuerte Rohan zu, verkroch sich in seinen Schatten und beobachtete die weiteren Vorgänge.

»Diese Nacht wird Penruach nur wenig Glück bringen!« bemerkte einer der Männer. »Es ist zu finster, um draußen selbst unser Feuer sehen zu können.«

»Wie es des heiligen Lok Wille ist,« krächzte ein altes Weib; »wenn er uns Glück bescheren will, wird das Glück nicht ausbleiben.«

Rohan schauderte. Er wußte nun, mit wem er es zu thun hatte. Die Leute, die er da sah, waren Fischer aus Penruach, welche jedes vorbeikommende Schiff für ihr Eigentum hielten und das Recht zu haben glaubten, es nach ihrem Belieben zu plündern. St. Lok, den die Alte beschworen, war auch einmal ein Schiffbrücher gewesen, der, wenn man der Sage Glauben schenken wollte, in uralter Zeit als gläubiger Christ die Schiffe der Ungläubigen irre führte, um sie zu plündern. Er wurde für dieses edle Bestreben selig gesprochen. Unterhalb der Stelle, wo die Fischer von Penruach den flammenden Käfig aufgestellt hatten, erstreckten sich meilenweit gefährliche Klippen und Riffe unter dem Wasser, die jedem Schiff verhängnisvoll werden mußten. In stürmischen Nächten, wie der heutigen, trieben die Leute ihr schmachvolles Handwerk.

»Lok, Lok, guter Lok, schick' uns endlich ein Schiff!« flehte ein anderes altes Weib. »Der heilige Lok scheint heute taub zu sein,« fügte sie bitter hinzu.

»Schrei' doch nicht so laut!« mahnte ein Mann. »Du könntest mit deinem Geflenn die Toten erwecken, komm lieber und trink' eins. Ein Hoch dem heiligen Lok, möge er uns Glück bringen!«

Die Flasche machte die Runde. Am gierigsten tranken die Weiber daraus. Gerade als die alte Hexe sie zum Munde führen wollte, unterbrach ein markerschütternder, unheimlicher Schrei die Stille der Nacht. Männer und Weiber sprangen entsetzt auf: »Seht, seht, ein › oel du!‹ ein › oel du!In der Bretagne die Bezeichnung für den Teufel. rief einer der Männer zähneklappernd und auf die Spitze des Menhir deutend.

Dort stand kerzengrade eine riesenhafte Gestalt, die mit beiden Armen in der Luft herumfuchtelte und dabei ganz unmenschliche Laute hervorstieß. Selbst dem mutigsten Manne wäre bei diesem wirklich gespensterhaften Anblick das Herz in die Schuhe gesunken, wie erst diesem abergläubischen, dummen Fischervolk.

»Das ist der heilige Lok!« rief einer aus der Gruppe.

»Nein, es ist der oel du! Der oel du, ich sehe seinen Pferdefuß!« schrie ein anderer. Im nächsten Augenblick floh die ganze Gesellschaft wie besessen davon und verschwand im Dunkel der Nacht.

Rohan wartete noch ein Weilchen auf der Spitze des Menhir, dann sprang er mit wildem Gelächter herunter. Sein Plan war gelungen. Als er die saubere Gesellschaft erkannt hatte, erschrak er zuerst; dann beschloß er, wenigstens heute die des Weges kommenden, vom Sturm ohnehin genug gefährdeten Schiffe zu retten. Mit Lebensgefahr erklomm er, jede Ritze benutzend, die Spitze des glatten Menhir. Zu seinen Füßen brüllte das Meer, ein falscher Handgriff und der Sturm blies ihn hinab – aber Rohan kannte keine Furcht, wo es Menschenleben zu retten galt. Er rechnete mit dem Aberglauben und der Feigheit jener Strandritter und hatte sich nicht verrechnet.

Auf festem Boden angelangt, befreite er den Eisenkäfig von den Stricken und schleuderte ihn in die brausende Flut. Noch einmal flackerte die Flamme hoch auf und beleuchtete das Wasser, um dann für immer in der Tiefe zu versinken.

Es trat nun eine so undurchdringliche Dunkelheit ein, daß Rohan, dessen Augen noch von dem grellen Licht geblendet waren, zuerst absolut nichts unterscheiden konnte und sich aus Furcht, in dem Sturmwind einen Fehltritt zu thun, flach auf den Boden warf. Nach einiger Zeit hatten sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt, so daß er es wagen konnte, sich zu erheben und seinen Weg fortzusetzen.


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