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Dreiundzwanzigstes Kapitel.
Sieg!

Zum zweitenmal hatte Mikel Grallon mit der seiner Klasse eigenen Schlauheit den Nagel auf den Kopf getroffen, denn Rohan lebte thatsächlich seit einigen Tagen ausschließlich von Ziegenmilch. Nach dem Tode ihres Zickleins war Jannedik verzweifelt in den Klippen umhergeirrt, denn die übervollen Euter verursachten ihr heftige Schmerzen. Da erbarmte sich der Halbverhungerte ihrer Not und saugte mit seinen Lippen den Überschuß an Milch aus, was Jannedik von ihrer physischen Qual erlöste, Rohan aber das Leben rettete. Von jenem Moment an besuchte die Ziege mehrmals täglich die Grotte, um sich von ihrer schmerzhaften Last befreien zu lassen, und je öfter Rohan die Euter aussaugte, desto reichlicher floß die Milch. Nichtsdestoweniger war er sich über sein Schicksal klar. Der früher so kräftige, gesunde Jüngling war zum Gerippe abgemagert, sein Körper bestand aus Haut und Knochen; Hunger, verzehrender Hunger lauerte in seinen glanzlosen Augen. Er kauerte stundenlang wie ein hungernder Wolf auf seinem Lager und starrte apathisch vor sich hin. Der Magen knurrte und das blutleere Hirn begann seine Thätigkeit zu versagen, denn Rohan sah allerlei Visionen vor seinen fieberhaften Augen tanzen. Von Zeit zu Zeit stieß er wilde, unartikulierte Klagetöne aus, die in dem düstern Raum gar schauerlich klangen und ihn selbst erschreckten. So oft jedoch menschliche Stimmen aus der Tiefe zu ihm empordrangen, raffte er sich auf und war kraft des jedem Menschen innewohnenden Selbsterhaltungstriebes auf seiner Hut.

Auch der auf Jannedik abgefeuerte Schuß hatte ihn aus seiner Apathie aufgerüttelt; er sprang auf und starrte in die Tiefe, aber in der Kathedrale hörte man nichts als den gleichmäßigen Wellenschlag der steigenden Flut und das unruhige Geflatter der ein- und ausfliegenden Seevögel. Beruhigt warf er sich wieder auf sein Lager, da Jannedik zu dieser ungewohnten Stunde in die Grotte kroch und meckernd zu seinen Füßen niederkauerte. Anfangs beachtete er das treue Tier gar nicht und brummte nur, wie es seine Gewohnheit war, halblaut vor sich hin. Seine Aufmerksamkeit wurde jedoch durch die rauhe Zunge Jannediks, die seine Hand leckte, erregt. Er neigte sich zu ihr hinab, streichelte ihr den Kopf und flüsterte liebkosend ihren Namen; sie sah ihn mit wehmütigen Blicken an, meckerte schmerzlich und versuchte sich zu erheben, sank aber stöhnend zurück. Rohan sprang entsetzt auf, denn er hatte dort, wo Jannedik zusammengebrochen war, eine Blutlache entdeckt. Er kniete vor seiner treuen Freundin nieder und sah, daß sie aus einer tiefen Schußwunde in der Schulter blute. Thränen traten ihm bei diesem Anblick in die Augen; es war herzbrechend, die stummen Leiden des Tieres mit anzusehen.

Ein solches der Sprache entbehrendes Geschöpf fühlt kraft des feinsten Instinktes die Nähe des Todes und es liebt das Leben und klammert sich genau so daran wie der vernunftbegabte Mensch. Kann man trockenen Auges bleiben, wenn man den schweren Todeskampf eines solchen Geschöpfes sieht? Muß einem da nicht der Gedanke auftauchen, daß es mit ebenso schwerem Herzen aus dem Leben scheidet wie wir, daß es mit derselben verzweiflungsvollen Angst vor dem uns unverständlichen Rätsel des Todes steht?

Für Rohan war diese, in den letzten Zügen liegende Ziege eine treue Freundin und Gesellschafterin, ja, noch mehr, sein Trost und seine Rettung in den schwersten Stunden seines Lebens gewesen. Solange sie kam und ging und seinen Verkehr mit der Außenwelt vermittelte, fühlte er sich doch nicht ganz verlassen. Wie oft hatte er seine Arme zärtlich um ihren Hals geschlungen und seinem übervollen Herzen an ihrer mitfühlenden Brust Luft gemacht! Ihr Grüße an seine Mutter und Marcelle mitgegeben! Und sie hatte mit so klugen, traurigen Augen zu ihm aufgeschaut, als ob sie seinen trostlosen Schmerz begriffe, hatte ihm zärtlich die Hände und das Gesicht geleckt, sich an ihn geschmiegt, als ob sie ihm versichern wollte, daß sie auch weiter treu zu ihm halten werde, was die bösen Menschen ihm auch anthun mochten. Nachher war für einige Stunden Ruhe in sein rebellisches Herz eingekehrt und er sah getröstet der Zukunft entgegen. Und jetzt lag Jannedik, sich vor Schmerzen windend, zu seinen Füßen, blickte mit ihren brechenden Augen wie hilfesuchend zu ihm empor und er konnte nichts für sie thun, mußte zusehen, wie der Lebensstrom aus ihrem Körper floh. Das war mehr als er ertragen konnte; mit einem Verzweiflungsschrei stürzte er neben sie nieder, umklammerte ihren Hals und stöhnte: »O, Jannedik, Jannedik, verlaß mich nicht!«

Die arme Ziege leckte ihm Hände und Gesicht, meckerte noch einmal auf, lehnte ihren Kopf an seine Brust und hauchte ihren letzten Atem aus.

Rohan wagte nicht, sich zu rühren, die Dämmerung brach herein und er kniete noch immer neben seiner toten Freundin. Sein Gesicht war leichenblaß und er zitterte von Kopf bis Fuß. All seine persönlichen Qualen und Leiden gingen in dem großen Schmerz um den Verlust Jannediks auf. Er starrte sie mit einem Gefühl an, als ob ein unschuldig geopferter Mensch vor ihm läge, und verfluchte die Hand, die den Todesstoß geführt hatte. Wilde Verzweiflung erfaßte ihn; er vermochte kein Glied zu rühren, dabei marterten die furchtbarsten Rachegedanken sein armes Hirn und verdüsterten es, wie Sturmwolken den Himmel.

Der Mond ging auf, aber der Wind tobte noch immer und die Wellen brachen sich brüllend am Strande. Es war eine jener unruhigen Herbstnächte, in der der Himmel schimmert und leuchtet, während ein seltsames Leben durch die Lüfte zieht, der Mond und die Sterne ihre der Erde schuldigen Dienste erfüllen, diese aber in der Finsternis lebt, das Meer vor Schmerzen stöhnt; eine Nacht der elementaren Gegensätze: in den obersten Regionen eine ungeheure, bedrückende Ruhe, in den untersten ein mächtiger Aufruhr; sanft dahingleitende, helle Wolken oben, unten ein rasender Nordwestwind, der seinen Fuß auf den Nacken Neptuns stemmt.

Das kalte Mondlicht kroch in die Höhle und zitterte wie segnend über der toten Ziege und Rohan dahin. Er fühlte aber von diesem Segen nichts, denn sein Herz war mit Bitterkeit erfüllt und aus seinen Augen starrte der Wahnsinn. Wie ein wildes Tier in seiner Höhle, so brütete Rohan in der Grotte dumpf vor sich hin; wie eine Erstarrung war es über ihn gekommen. Mehrere Stunden vergingen und er kauerte noch immer auf demselben Platze.

Mittlerweile hatte sich die wildbewegte, schäumende Flut wieder aus der Kathedrale verlaufen. Die grabsteinähnlichen Felsstücke hoben sich von dem feuchten Kiesboden deutlich ab. Hinter dem Thore des heiligen Gildas brauste das Meer noch immer und sein Gebrüll drang ohrbetäubend bis zu Rohan; auch die Windsbraut war noch nicht müde geworden und fegte weiter durch die Lüfte. Durch all diesen Aufruhr der Elemente drangen an Rohans feines Ohr Laute, die ihn aus seiner Erstarrung erweckten. Mit einem Satz war er bei der Mündung des »schwarzen Loches« und starrte in die Tiefe – was er da sah, machte sein Blut erstarren. Die Kathedrale wimmelte von lebhaft erregten Menschen, die sich seinem Versteck näherten, einige aneinandergefügte Leitern wurden dicht unter dem »Altar« angebracht und mehrere Gendarmen machten sich an den Aufstieg. Als Rohan wie ein Geist über ihren Köpfen auftauchte, taumelten sie mit einem Schreckensruf zurück, um im nächsten Augenblick mit um so größerem Eifer ihren Weg fortzusetzen.

Im Nu hatte der Belagerte die Situation erfaßt. Ohne sich viel zu besinnen, schleudert er, seine ganze Kraft zusammennehmend, die beiden Leitern, deren höchste Sprossen sich an die Mündung des »Trou« lehnten, hinab. Zum Glück waren die Kletternden noch nicht hoch, so daß sie nur mit leichten Verletzungen zu Boden fielen. Wie ein Stier durch die Menge wild gemacht, seiner Sinne kaum mächtig, ergreift Rohan von den zu seiner Verteidigung kürzlich aufgehäuften Felsstücken das größte und schleudert es in die Tiefe. Schreckrufe, Flüche und Drohungen werden ausgestoßen, Pipriac kommandiert mit Donnerstimme »Feuer!« Ein Kugelschauer regnet um den Deserteur, der jedoch wie durch ein Wunder unverletzt bleibt.

Es unterliegt keinem Zweifel, daß Pipriac, des langen Wartens müde, sich entschlossen hat, die Festung im Sturm zu nehmen. Die Leitern werden wieder aufgerichtet und mehrere Gendarmen klettern in die Höhe, aber auch sie kommen nicht weit, denn Stein auf Stein fliegt aus dem »schwarzen Loch« auf sie herab. Rohan hat nichts Menschliches mehr an sich; ohne Pause, ohne zu zielen, schleudert er Stein um Stein auf seine Feinde hinunter, die ihrerseits, ebenfalls aufs äußerste gereizt, nicht müde werden, eine Salve nach der anderen abzufeuern. Da sie in der Aufregung schlecht zielen, sausen die Kugeln um seinen Kopf, aber Rohan achtet nicht darauf. Der Kampf wird auf beiden Seiten mit Erbitterung geführt. Die Gendarmen werden zuerst müde und ziehen sich auf kurze Zeit zu einer Beratung zurück; diese benützt der Belagerte, um sich, von seinem Steinhaufen blockiert, ein wenig auszuruhen. Viel Zeit hat er nicht, denn da sie Leitern und andere Hilfsmittel zur Verfügung haben, sind die Belagerer entschlossen, sich des Deserteurs, der ihre Geduld so lange auf eine harte Probe gestellt, um jeden Preis, lebend oder tot, zu bemächtigen. Der draußen wütende Sturm, die den Mond oft verdunkelnden Wolken scheinen ihr Unternehmen zu begünstigen. Unter dem Schutz einer neuen Salve machen sich einige beherzte Gendarmen abermals an den Aufstieg. Flach auf dem Bauche liegend, mit einem zum Wurf bereiten Felsstück in der erhobenen Rechten, sieht ihnen Rohan entgegen. Kaum haben sie ein Dutzend Sprossen erklommen, als er sein Bombardement von neuem beginnt. Große und kleine Steine fliegen in die Tiefe; wenn einer jemand träfe, wäre er ein Kind des Todes, aber die Leute sind auf ihrer Hut. Von Zeit zu Zeit ertönt wohl ein Schmerzensschrei und der Getroffene humpelt hinkend in einen geschützten Teil der Kathedrale, wo die weiblichen und männlichen Gaffer ihn mit gemischten Gefühlen empfangen; aber noch ist niemand ernstlich verletzt und Gendarmen bemühen sich auf den beiden Leitern emporzuklimmen. Nun reißt auch Rohan die Geduld, denn er fühlt seine Kräfte schwinden, mit großer Anstrengung hebt er ein riesiges Felsstück auf, springt auf die Füße und schleudert es mit unglaublicher Kraft und Wut auf eine der Leitern hinab. Zum Glück ist auch diesmal noch keiner so hoch geklommen, daß der Wurf ihn treffen könnte, aber die Leiter bricht mitten entzwei und fällt mitsamt den Leuten krachend zu Boden, die blutend und betäubt liegen bleiben.

»Feuer! Feuer!« brüllt Pipriac, auf die sich vom dunkeln Hintergrunde klar abhebende Gestalt Rohans deutend. Noch ehe das Kommando ausgeführt werden kann, liegt dieser wieder flach auf dem Bauche und die Kugeln prallen von den Wänden ab.

»Teufel! Deserteur! Chouan!« wütet der Sergeant. »Wir werden dich doch noch lebend oder tot aus deinem Loch herunterkriegen! Feuert, ihr Leute! Und wer kein Hasenherz hat, der klettere die zweite Leiter hinan.«

Es war ein entsetzlicher Anblick. Die Weiber schrieen auf, die Männer sahen wie gebannt den vergeblichen Bemühungen der Belagerer zu, je nachdem zu welchem Lager sie gehörten, diese anfeuernd oder Verwünschungen ausstoßend und Rohan ihre Bewunderung und Teilnahme zollend. Draußen tobte der Sturm mit ungebrochener Kraft weiter und in der Kathedrale wiederhallte das Knattern der Schüsse, das Schreien und Fluchen der Menschen von den Wänden. Stunden verstrichen und Rohan beherrschte noch immer die Situation, seine Hände bluteten von den spitzen Steinen, alles drehte sich um ihn herum, seine Augen flimmerten vor Müdigkeit und in seinen Eingeweiden wütete der Hunger. Nur die alles überwältigende Macht des Selbsterhaltungstriebes hielt ihn aufrecht; aber er sah und hörte nicht mehr, was um ihn vorging und schleuderte nur wie ein Verzweifelter Stein um Stein in die Tiefe. Zweimal noch stieß er die Leiter um, aber von Pipriac angefeuert, wagten immer neue Leute den Aufstieg. Seine Kräfte begannen zu schwinden und auch der Vorrat an Steinen war so ziemlich zusammengeschrumpft, doch lag ein riesiges Felsstück zu seinen Füßen. Dieses erhob er mit fast übermenschlicher Kraft und warf es blindlings auf die Emporklimmenden. Ein Krach, ein Schrei und die Leiter gab unter dem furchtbaren Gewicht nach, die Gestalten stürzten stöhnend in die Tiefe, entsetzliches Gejammer erfüllte die Luft und Rohan fiel, von Erschöpfung und Aufregung übermannt, in Ohnmacht.

Wie lange er bewußtlos gelegen, das wußte er nicht; aber er fand sich, als er die Augen aufschlug, an der Mündung des »schwarzen Loches«. Draußen pfiff der Wind noch immer mit vollen Backen, das Meer toste, alle anderen Geräusche waren jedoch verstummt. Nur langsam kehrte ihm die Erinnerung an die überstandene Gefahr zurück. Er hielt den Atem an und lauschte, ob keine menschlichen Stimmen an sein Ohr dringen. Als er nichts dergleichen vernahm, kroch er mit schmerzenden Gliedern bis zum Rande des Loches und blickte hinunter, konnte aber kein lebendes Wesen entdecken. Kein Wunder, denn unten schäumte und gurgelte die Flut und wälzte sich immer näher bis zum »Altar.« Das erklärte die unheimliche Stille. Die Belagerer hatten sich, wie so oft schon, vor dem barmherzigen Element flüchten müssen und er blieb Herr der Lage. Das war ein teuer erkaufter Sieg! Unten schimmerten durch das noch niedrige Wasser die Felsstücke und Steine, die er aus seinem Versteck hinabgeschleudert. Die Schlacht war geschlagen und Rohan Sieger. Wenn er mit genügendem Proviant versehen wäre, um seinen erschöpften Körper zu kräftigen, könnte er seine Position gegen eine noch so große Übermacht wie lange immer halten, aber seine Kräfte waren völlig erschöpft. Hunger und Kälte hatten ihr Werk vollbracht und seinen Organismus gründlich zerstört. Ein Gefühl der trostlosesten Verzweiflung und Vereinsamung packte ihn. Bislang hatte er sich tapfer gegen seine Feinde gewehrt und war ohne Zögern seinen Grundsätzen treu geblieben. Nun begann ihn der Glaube an sich, an die Menschheit und an Gott zu verlassen; er fühlte, daß es nicht mehr weiter ging und seine Kraft zu Ende war.

Das Wasser in der Kathedrale stieg immer höher und erfüllte den ungeheuern Raum wie Donnergrollen. Der Wind peitschte den Schaum nach allen Richtungen hin und dieser spritzte sogar dem sich ängstlich vorbeugenden Rohan ins Gesicht, der mit krampfhafter Spannung einen dunkeln, bewegungslosen Gegenstand, der gerade unter seinen Füßen lag, beobachtete. Die Flut kroch immer näher an diesen heran und netzte ihn schon fast mit ihrem Naß. Jetzt, jetzt wird sie ihn mit ihren gierigen Zähnen erfassen und zerfleischen! Rohans Auge bleibt wie gebannt auf dem dunkeln Punkt haften, bis sein Herz, von namenlosem Grauen erfaßt, der Versuchung, hinunterzuklettern und sich Gewißheit zu verschaffen, nicht länger zu widerstehen vermag.


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