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Zweiunddreißigstes Kapitel.
Die weiße Fahne

Anfangs April verbreitete sich in Frankreich die Kunde, Napoleon habe einen Selbstmordversuch gemacht. Sie wurde zwar sofort dementiert, verursachte aber doch vielen Kaiseranbetern arges Herzweh, so auch dem alten Derval. Es schien so furchtbar und unglaublich, daß der Mann, der so lange das Schicksal ganz Europas gelenkt hatte, plötzlich so elend geworden sein sollte, daß er sich aus der Welt fortsehnte. Wenn Bonaparte wirklich seine Macht verloren hatte und sich unfähig fühlte, die erlittene Schlappe gutzumachen, dann war nichts mehr sicher, weder die Sterne dort oben, noch die sich um ihre Achse drehende feste Erde – man mußte auf das Chaos gefaßt sein.

Korporal Derval kränkelte und war noch erregbarer als sonst. Marcelle wußte, daß es heute im Dorfe hoch hergehen werde, da der Schloßherr mit einigen anderen Edelleuten angekommen war. Um den Alten aus dem Wege zu schaffen, lockte sie ihn hinaus auf die Klippen. Er war nie ein Naturliebhaber gewesen und beachtete auch heute die Schönheiten des herrlichen Frühlingstages nicht. Stundenlang saß er an der Seite der besorgten Marcelle im duftigen Grün und starrte ins Dorf hinunter. Plötzlich fuhr er, wie von einem Schuß getroffen, zusammen und deutete zur Kirche hinauf: »Sieh' mal, was ist das?«

Marcelle blickte in die angedeutete Richtung, vermochte aber nichts Ungewöhnliches zu entdecken.

»Siehst du dort oben vom Kirchturm nicht etwas Weißes flattern?« fragte er gereizt.

Sie blickte noch einmal hin und sah wirklich eine Fahne flattern und zwar eine weiße! Sie wußte augenblicklich, was diese zu bedeuten habe, heuchelte jedoch, obgleich sie einen heftigen Schmerz im Herzen fühlte, Gleichgültigkeit und erklärte, nichts zu sehen.

»Bist du denn blind? Ich will wissen, was dort flattert!« schrie er heftig.

Marcelle erhob sich, aus ihren Wangen war jeder Blutstropfen gewichen, sie preßte die Zähne aufeinander, streichelte den Arm des Alten und bat sanft: »Komm' nach Hause, Onkel, ich bin müde.«

Er erhob sich ebenfalls, beschattete seine Augen mit der Hand und blickte grimmig in die angegebene Richtung.

»Es weht im Winde und ist weiß, das kann doch nur eine Fahne sein!« murmelte er vor sich hin. »Ja, ja, es ist eine weiße Flagge, die kann nur irgend ein Schurke dort aufgehißt haben!«

Er hatte die Worte kaum ausgesprochen, als Hochrufe, die von Kanonensalven begleitet waren, vom Hügel herabtönten. Zu gleicher Zeit eilte eine lebhaft erregte Volksmenge hinauf. Es war klar, daß etwas Außergewöhnliches geschehen sein mußte und in der That war aus St. Gurlott der Befehl gekommen, das Bourbonenbanner auf dem Kirchturm zu hissen. Bonaparte hatte das Spiel verloren und der Erbe der legitimen Könige wurde stündlich in der Hauptstadt erwartet.

Derval hatte bis zu diesem Augenblick die Hoffnung nicht aufgegeben, daß der Löwe das Netz zerreißen und seine Feinde vernichten werde. Er pflegte selten zu beten, aber in der letzten Zeit hatte er häufig gebetet, Gott möge ein Wunder geschehen und das Kaiserreich neu erstehen lassen. Der Anblick der verhaßten Flagge erschütterte ihn gewaltig. Vergebens bemühte sich Marcelle, ihn wegzuführen. Er starrte wie gebannt zum Kirchturm hinauf, unverständliche Verwünschungen gegen die »verfluchten« Bourbonen ausstoßend. Marcelle war von dieser seltenen Anhänglichkeit tief gerührt und auch ihr Herz floß vor Mitleid für ihr gemeinsames Idol über. Es schmerzte sie, den Onkel so sehr leiden zu sehen. Die letzten Stunden hatten ihn vollkommen gebrochen und zum Greise gemacht. Seine Stimme zitterte, seine Brust hob und senkte sich krampfhaft; sie bat ihn, sich doch auf ihren Arm zu stützen und nach Hause zu kommen. Er aber schenkte ihren Worten keine Beachtung, sondern sank aufs Gras zurück und wandte keinen Blick von der weißen Fahne, bis seine Aufmerksamkeit durch nahende Schritte abgelenkt wurde. Marcelle blickte über ihre Schulter zurück und erkannte – Meister Arfoll.

Jeder andere Mensch wäre ihr in diesem kritischen Augenblick willkommener gewesen als der Wanderschullehrer, dessen ungünstige Meinung von Napoleon ihr schon so viel Verdruß bereitet und der dessen jähen Sturz schon oft vorhergesagt hatte. Marcelle wäre am liebsten durchgegangen, aber sie konnte ja den Onkel nicht allein zurücklassen; überdies hatte Arfoll sie bereits erkannt und näherte sich ihnen in seiner gewohnten stillen Weise. Er war noch bleicher und hagerer geworden, sein Gesicht ernster. Als Derval ihn erkannte, runzelte er finster die Stirne, denn auch ihn verdroß die Anwesenheit des Schulmeisters, um so mehr als die Luft wieder von Böllerschüssen und Hochrufen wiederhallte. Endlich brach Arfoll das peinliche Schweigen: »Seit meiner letzten Anwesenheit in Kromlaix sind in der Welt merkwürdige Veränderungen vor sich gegangen. Sie, Herr Korporal, leben hier so abseits von der Welt, daß Ihnen vieles entgeht. Die Zeitungen bringen nichts als Lügen. Eines ist jedoch sicher, der Kaiser hat abgedankt.«

Marcelle sah ihn bittend an, als ob sie ihn beschwören wollte, dieses Thema nicht zu berühren, denn sie fürchtete einen Zornausbruch des Alten. Dieser aber saß ganz still und starrte standhaft aufs Gras. Plötzlich richtete er seine scharfen Falkenaugen auf Arfoll und sagte: »Ja, ja, manches hat sich in den letzten Monaten verändert! Sie tragen wohl auch die weiße Kokarde?«

»Ich bin kein Royalist, ich kenne die Königswirtschaft zu genau, um ihr Freund zu sein. Die Rückkehr der Bourbonen wird all die Reptilien, welche die Göttin Freiheit aus Frankreich vertrieben hat, zurückbringen; wir werden wieder das Opfer der Priester und Parvenus werden. Der Friede wird wohl hergestellt sein, aber ein schändlicher, wir werden vergebens die Menschenrechte fordern.«

Die Augen des Korporals leuchteten vor freudiger Überraschung auf; Meister Arfoll schien am Ende doch nicht der Narr zu sein, für welchen man ihn allgemein gehalten. Wenn er auch Napoleon nicht anerkennen wollte, so haßte er doch wenigstens König Louis und das war schon etwas.

»Sie sind schon lange nicht hier gewesen, Meister Arfoll; erzählen Sie uns, wie es Ihnen in den vielen Monaten ergangen ist?« bemerkte der Korporal freundlich.

»Ich war weit fort, mein lieber Korporal,« entgegnete Arfoll, neben dem Alten Platz nehmend, »ich war in Paris.«

»In Paris?« rief der Korporal erregt und Marcelle starrte den Lehrer an, als ob er gesagt hätte, daß er eben aus der anderen Welt komme.

»Ich habe in Meaux einen Verwandten und da er keinen anderen Freund auf der Welt hatte, berief er mich, um ihm die Augen zu schließen. Während ich an seinem Krankenbett weilte, rückten die Verbündeten auf Paris vor und ich ward Augenzeuge all der Schrecken des Krieges. Ah, Herr Korporal, es war ein Krieg zwischen Teufeln. Beide Seiten fochten wie Satane und das zwischen ihnen liegende Land verwandelte sich in eine Einöde. Die armen Bauern flohen in die Wälder und verbargen sich in Höhlen, die Kirchen waren mit Weibern und Kindern gefüllt. Tag und Nacht konnte man brennende Städte und Dörfer sehen. Niemand zeigte seinem Nachbar Erbarmen und die französischen Soldaten behandelten ihre Landsleute wie Kosaken. Felder und Gehöfte, die Aufenthaltsorte der Menschen und der Tiere, waren verödet und nachts kamen große Rudel hungriger Wölfe herbei, um die Toten zu fressen.«

»Ja, das ist eben der Krieg,« entgegnete der Korporal und nickte phlegmatisch mit dem Kopf, denn er war derlei »kleine Zwischenfälle« gewöhnt.

»Und welche Schreckenszeit erlebte ich erst in der belagerten Hauptstadt! Während die Verteidiger kämpften, krochen die Parias aus ihren finstern Löchern heraus und schrieen in den Straßen nach Brot. Sie glichen eklem Gewürm, das auf Aas herumkriecht. Bekamen sie kein Brot, so begingen sie oft Morde. O Gott, sie waren wahnsinnig! Ich habe eine vom Hunger zur Verzweiflung getriebene Mutter ihren Säugling auf das Pflaster schleudern sehen, daß das Hirn nur so spritzte! Zum Glück dauerte die Belagerung nicht lange und die große verbündete Armee rückte in Paris ein. Unser Volk begrüßte sie mit Hochrufen, viele warfen sich zu Boden und segneten den Einzug, andere streuten Blumen.«

»Canaillen!« zischte der Korporal zwischen den fest zusammengepreßten Zähnen.

»Die Ärmsten verstehen es nicht besser, Gott möge ihnen verzeihen, wenn sie unrecht gethan. Aber das ist nicht alles, was ich Ihnen erzählen wollte, ich habe in Fontainebleau den Kaiser gesehen – –«

»Den Kaiser?!« rief Derval erregt. »Erzählen Sie doch rasch, wann und wieso.« Dabei rückte er ganz dicht an Arfoll heran; ebenso Marcelle, die vor Neugier brannte, von einem Augenzeugen zu hören, wie ihr Idol, für das sie glühender denn je schwärmte, den schweren Schicksalsschlag aufnahm.

»Es war ein denkwürdiger Tag, da Napoleon von seiner Alten Garde Abschied nahm,« erzählte Arfoll und blickte gedankenvoll aufs Meer, das wie ein Riesenspiegel vor ihm leuchtete. Schon die bloße Erwähnung der Alten Garde rührte Derval zu Thränen, seine Wangen röteten sich, seine Lippen zitterten. Marcelle ließ fast unbewußt ihre Hand in die des Alten gleiten und beide lauschten gespannt der weiteren Erzählung.

»Ich will Ihnen die Wahrheit sagen, mein Korporal! Die Alte Garde bot, als sie in Reih' und Glied dastand, einen gar traurigen Anblick; die meisten Gardisten sahen krank und elend aus, die Fetzen hingen ihnen vom Leibe. Sie mußten lange warten, endlich erschien Napoleon hoch zu Roß, von dem tapfern Macdonald und anderen Generalen begleitet. Bei seinem Erscheinen brachen die Truppen in begeisterte Hochrufe aus. Er ritt nur langsam vor, stieg vom Pferde und erhob die Hand. Sofort trat Totenstille ein. Man hätte eine Nadel zu Boden fallen hören können – – –«

»Wie sah er aus? Bleich und krank? Was hatte er an?« fragte der Korporal.

»Ich stand ganz in seiner Nähe und sah ihn genau. Sein Gesicht war citronengelb, die Wangen schlaff, die Augen eingefallen und traurig. Als er jedoch vor der Linie stand, lächelte er so, daß man hätte meinen können, sein Gesicht sei aus lauter Sonnenschein gemacht. Ich habe noch nie in meinem Leben ein solches Lächeln gesehen – es war das Lächeln eines Gottes! Dann begann er mit gebrochener Stimme zu sprechen, dicke Thränen rieselten an seinen Wangen herab – – –«

»Und was sagte er?« hauchte der Alte erwartungsvoll.

»Was er gesprochen, haben Sie sicherlich in den Zeitungen gelesen, aber Worte können den Ton und den Blick nicht wiedergeben. Er sagte, daß er, da Frankreich einen anderen Herrscher gewählt, sich zufrieden gebe, da er nur für Frankreich lebe und sterbe, eines Tages werde er vielleicht die wahre Geschichte seiner Schlachten für sein Volk niederschreiben. Dann umarmte er Macdonald und verlangte laut den kaiserlichen Adler; als man ihm die Standarte brachte, küßte er sie unzähligemal … Korporal, in jenem Augenblick flog ihm mein Herz zu, ich hätte für ihn sterben können! Er ist ein wahrhaft großer Mann! … Die Garde brach in lautes Schluchzen aus, viele stürzten sich zu Boden und flehten, er möge sie nicht verlassen. Marschall Macdonald vergrub sein Gesicht in den Händen und weinte wie ein Kind; einige Generale zogen ihr Schwert und riefen › Vive l'Empereur!‹ All dies dauerte nur einige Minuten. Dann bestieg er sein Pferd und ritt langsam und still davon – – in jener Nacht verließ er seinen Palast, um nie mehr wiederzukehren!«

Marcelle, die wie gebannt gelauscht hatte, stieß einen Angstschrei aus, ihr Onkel war, ohne einen Laut auszustoßen, mit dem Gesicht zu Boden gefallen: »Er ist plötzlich gestorben!« jammerte sie fassungslos, während Arfoll den Ohnmächtigen aufzuheben sich bemühte. Das Antlitz des Alten sah in der That wie das eines Toten aus. Marcelle warf sich vor ihm nieder, rieb seine erstarrten Hände und rief ihn verzweifelt bei allen Kosenamen. Es dauerte eine Viertelstunde, ehe er ein Lebenszeichen gab, leise stöhnte und endlich die Augen aufschlug, die verständnislos um sich blickten.

»Er hat einen Schlaganfall erlitten,« erklärte Arfoll sanft, »wir müssen trachten, ihn nach Hause zu bringen.«

»Wer ist hier? Bist du's, Jacques?« stammelte der Alte mit lallender Zunge. »Weißt du schon, daß wir auf Befehl des Kaisers morgen marschieren müssen?«

Allmählich kehrte ihm das Bewußtsein zurück und er bemühte sich, aufrecht zu stehen, doch wollten die Beine nicht gehorchen. Er blickte verwirrt um sich und erkannte Marcelle, die ihn ängstlich beobachtete.

»Bist du es, Marcelle? Was ist los?«

»Nichts; du bist ein wenig unwohl geworden, aber du hast dich rasch erholt. Meister Arfoll wird dir aufstehen helfen.«

Mit Mühe brachten ihn die beiden nach Hause, auf dem ganzen Wege stammelte er von längstvergangenen Dingen, sein Bewußtsein schien noch nicht ganz zurückgekehrt; er erkannte nicht einmal Frau Derval, die ihn in seinen Lehnstuhl bettete und ihm Stirne und Hände mit Essigwasser rieb.

»Ich glaube, man müßte ihm sofort einen tüchtigen Aderlaß geben lassen,« riet Arfoll. Zehn Minuten später war Plouët, der Dorfbarbier, mit seinem Handwerkszeug zur Stelle.

»Ich habe den Alten immer gewarnt,« plauderte das lebhafte Männchen; »er ist vollblütig und jähzornig, solchen Menschen steigt das Blut leicht in den Kopf und sie sind Schlaganfällen ausgesetzt. Ah, sehen Sie, meine Herrschaften, er rührt sich schon, es geht doch nichts über einen tüchtigen Aderlaß!«

Und der Korporal atmete, nachdem kaum eine Unze Blut in das Schüsselchen geflossen war, tief auf und blickte mit klaren Augen um sich. Er wurde mit Hilfe Plouëts sofort ins Bett gebracht und versank in tiefen Schlaf.

»Je länger er schläft, desto besser; sehen Sie darauf, Mutter Derval, daß er nicht gestört werde,« mahnte der Barbier.

»Er wird an gebrochenem Herzen sterben!« jammerte Marcelle, nachdem Meister Arfoll und Plouët sich entfernt hatten.

»Er denkt zuviel an Napoleon, aber ich kann euch sagen, daß dieser sich nicht einen Pfifferling um ihn kümmern würde. Kaiser oder König – ich mache mir aus keinem viel,« erklärte Gildas verächtlich. »Marschall Ney, das war mein Mann!«

Im Dorfe ging es hoch her, ringsherum auf den Bergen brannten Freudenfeuer, die Straßen und Wirtshäuser waren von einer erregten und jubelnden Volksmenge belebt, alle Fenster hell erleuchtet. Nur bei Dervals brannte kein Licht, denn der Korporal schlief noch immer in seinem Kastenbett in der Küche und die Hausleute fürchteten, seinen Schlaf zu stören. Singende und schwatzende Gruppen zogen an ihrem Häuschen vorbei; Gildas vermochte seine Unruhe nicht länger zu bezähmen, nahm Stock und Hut und eilte ins nächste Wirtshaus, um zu hören, was los sei. Eine Stunde verstrich und auf den Straßen ging es noch immer lebhaft zu, der Korporal aber schlief fest und ruhig. Da sagte Marcelle: »Mutter, ich kann nicht länger hier stillsitzen, du brauchst mich ja nicht. Ich muß sehen, was es draußen giebt und ob die weiße Fahne, die den armen Onkel so entsetzt hat, noch auf dem Kirchturm flattert!«

Mutter Derval nickte zustimmend. Marcelle hüllte sich in einen langen Mantel und schlüpfte leise zur Thür hinaus.


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