Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Vierunddreißigstes Kapitel.
Auferstanden!

Der Sommer neigte sich seinem Ende zu, Frankreich wurde durch den Gesang von Psalmen und Gebeten in Schlummer gelullt. Skeptiker schüttelten darob ihr Haupt, Revolutionäre vergruben sich gleich Maulwürfen in geheime Zusammenkünfte, die kaiserliche Garde weissagte wilde Stürme, aber die neue Dynastie lag ruhig auf ihrem weichen Pfühl, den Rosenkranz betend. Der gefangene Löwe gab kein Zeichen von sich. Unruhig und brütend durchmaß er seinen engen Käfig. Von Zeit zu Zeit hörte man von seinem Thun und Treiben, die Könige Europas nickten sich belustigt zu – mochte der Gefangene sich auf seiner Insel heiser brüllen!

Als Monat um Monat verstrich, ohne daß Napoleon Miene machte, zu entkommen, gab auch Korporal Derval alle Hoffnung auf und sprach von seinem Idol, wie er von den Heiligen sprach, die auch nicht auferstehen können. Rohan, der wieder ein häufiger Gast bei Dervals geworden war, hörte ihm ruhig, ohne zu widersprechen zu und stieg von Tag zu Tag in der Achtung und Zuneigung seines Ohms.

Unter dem mildernden Einfluß seiner Umgebung und der zärtlichen Pflege seiner Mutter besserte sich der seelische wie der physische Zustand Rohans zusehends. Seine Wangen waren zwar noch immer eingefallen und sein Haar grau, aber seine Haltung wieder stramm und seine Kräfte nahmen zu. Er hatte auch seine alten Streifzüge in den Klippen und am Strande aufgenommen und Marcelle pflegte ihn wie früher zu begleiten. Der Korporal fand das nur recht und billig. »Er hat ihr das Leben gerettet und es gehört ihm, warum sollten sie sich nicht heiraten?« Mutter Derval, deren Herz durch den Verlust Hoëls, von dem sie endlich Kenntnis erlangt hatte, weich gestimmt war, hatte gegen diese Verbindung auch nichts mehr einzuwenden. Die arme Frau war langsam ins feindliche Lager übergegangen; Bonaparte hatte ihr drei Kinder geraubt und viel Unheil in ihrer Familie angerichtet; sie betete allnächtlich, Gott möge das Ungeheuer nie mehr in Frankreich regieren lassen.

Wie es in Wirklichkeit um Rohan stand, wußte außer seiner Mutter nur Marcelle. Sein Nervensystem war durch die furchtbaren Aufregungen und Entbehrungen während seiner Verfolgung vollständig zerrüttet worden und auch sein Gehirn hatte bedenkliche Störungen erlitten, die zwar mit der Zeit geheilt werden konnten, aber nur langsam. Er verriet wohl durch verschiedene Zeichen, daß er seine Base noch immer innig und zärtlich liebe, aber seine Liebe äußerte sich nur selten durch den Ausbruch einer Leidenschaft, wie sie ihn anläßlich seiner ersten halb unbewußten Werbung hingerissen hatte. Sein Wesen hatte zumeist nur etwas Brüderliches, er sprach nie von Liebe.

Als der Winter endlich ganz ernstlich sein Recht behauptete und Onkel Ewen durch seinen leidenden Zustand ans Zimmer gefesselt war, wurde Rohan ein häufiger Gast und geduldiger Zuhörer seiner langatmigen Kriegsgeschichten. Hie und da ließ sich auch Gildas hinreißen, von seinem Liebling, dem Marschall Ney, zu erzählen. Sprach man von Napoleon selbst, dann schwieg Rohan standhaft und Mutter Derval bekreuzigte sich im stillen, denn der Alte erzählte ja von einem Toten, den der Korporal sowohl wie auch Marcelle zu den Heiligen eingereiht hatten.

Eines Abends, als der Schnee schon die Straßen wie ein Leichentuch bedeckte und die ganze Welt Ruhe und Frieden zu atmen schien, näherte sich Rohan Marcelle, die an ihrem Spinnrocken saß und sagte mit bewegter Stimme: »Erinnerst du dich, was du mir an jenem Morgen, da ich dich aus der Kathedrale des heiligen Gildas trug, versprachst? Du sagtest mir, daß du mich liebst und mein Weib werden willst.«

»Ich erinnere mich.«

»Willst du dein Wort halten?«

Sie zögerte einen Augenblick mit der Antwort, dann aber blickte sie mit ihren schönen, treuen, grauen Augen zärtlich zu ihm auf und entgegnete: »Ja, Rohan, wenn Onkel Ewen es erlaubt.«

»Aber ich bin nicht mehr der lebensfrohe, waghalsige Rohan von früher und ich fürchte, daß ich es auch nie mehr sein werde. Überlege dir die Sache genau! Du bist ein schönes Mädchen und es giebt viele Bursche, die dich lieben und um dich werben möchten.«

»Ich aber liebe nur dich, Rohan,« entgegnete sie schlicht.

Derval gab ihnen gern seinen Segen. Die Witwe sprach mit Vater Rolland, der sich ohne weiteres bereit erklärte, die Einwilligung des Bischofs einzuholen, die zu einer Verbindung unter so nahen Verwandten unerläßlich war. Als die Kunde ins Dorf drang, schüttelten gar viele ihr Haupt und erklärten, Marcelle nicht begreifen zu können, die es wahrlich nicht nötig habe, einen Halbverrückten zu heiraten. Namentlich Mikel Grallon meinte, daß der Bischof seine Einwilligung zu einer Heirat mit einem so gefährlichen Menschen nicht geben dürfe. Der Bischof schien aber anderer Ansicht und machte keinerlei Schwierigkeiten, so daß die Hochzeit für den Frühling bestimmt wurde.

Anfangs März 1815 trat Rohan Gwenfern mit glückstrahlendem Antlitz in die Küche der Dervals und fand Marcelle allein. Sie reichte ihm ohne Ziererei die Wange zum Kuß.

»Der Frühling ist ins Land gezogen. Sieh' mal, Marcelle, was ich dir mitgebracht habe.«

In der Bretagne werden die Jahreszeiten nach den Blumen und Vögeln eingeteilt, und es war beschlossen worden, daß die beiden ein Paar würden, sobald »die Veilchen kommen.« Marcelle errötete, nahm das Veilchensträußchen, das er ihr mit seligem Lächeln reichte und steckte es an ihr Mieder. Rohan schlang zärtlich seinen Arm um sie, sie lehnte ihr Köpfchen an seine Schulter und blickte glückstrahlend zu ihm empor.

Plötzlich wurde die Thüre heftig aufgerissen, Onkel Ewen stürzte, ein Zeitungsblatt in der Hand schwingend, totenblaß herein: »Marcelle! Rohan! Welche Neuigkeit!«

»Was ist los?« fragte Marcelle, sich aus den Armen des Bräutigams windend.

» A bas les Bourbons!« brüllte der Alte, wie ein Besoffener taumelnd. »Am 1. März landete der Kaiser in Cannes und er marschiert jetzt auf Paris los! Vive l'Empereur!«

Rohan stürzte, als ob er mitten ins Herz getroffen wäre, mit einem markerschütternden Aufschrei zu Boden.

Die Nachricht von der Flucht Napoleons bestätigte sich nur zu bald. Nachdem er sich in seiner Verbannung monatelang anscheinend ganz ruhig benommen hatte, gelang es ihm bekanntlich, aus dem Käfig zu schlüpfen und an der Spitze von tausend Kriegern an der französischen Küste zu landen.

Die Nachricht traf Rohan Gwenfern wie ein Blitz aus heiterem Himmel und schmetterte ihn förmlich nieder. Für ihn bedeutete die Auferstehung des Verwünschten Verfolgung, Elend, Verzweiflung und Tod. Was bezweckte Gott damit, daß er derlei duldete? Mit dem Verschwinden der kaiserlichen Kriegspest war in Frankreich Ruhe und Frieden eingekehrt. Die Bürger vermochten frei zu atmen; sie, und Rohan mit ihnen, hatten gehofft, daß die Ruhe ewig dauern werde. Sein gequältes Hirn hatte sich langsam von den Aufregungen und Leiden erholt, bis sich fast jede Spur verwischt hatte und er endlich den Mut fand, seine Hand noch einmal nach der heiligen Schale der Liebe auszustrecken. In dem Moment, in welchem Gott ihn für alle Qualen entschädigen zu wollen schien, verfinsterte sich der Himmel wieder und all seine Hoffnungen wurden abermals vernichtet!

Während Europa wie unter einem Erdbeben erzitterte, Throne neuerdings wackelten und Könige einander entsetzt anblickten, zitterte Rohan wie ein verwelktes Blatt. Er war über Nacht ein Greis geworden. Unsere »Liebe Frau vom Hasse« hatte sein Gebet erhört, aber nur um seiner zu spotten. Sie hatte den Avatar gestürzt, jedoch nur um ihn bald wieder auf seinen alten Platz zu setzen. Anfangs traute man der Sache nicht recht. Die Priester zeterten und beteten, die Royalisten zuckten die Schulter, als ob sie sagen wollten: »Diese kleine Affaire wird bald geregelt sein.« Aber jeder Tag brachte neue wichtige Nachrichten. Bonaparte war nicht nur auferstanden, er sammelte im Sturm auch neue Armeen um sich.

Der Gedanke an Korporal Derval erfüllte Rohan mit demselben Entsetzen wie der an den Kaiser; es hatte den Anschein, als ob die Auferstehung seines Idols ihm neues Leben einflößte. Mit der bekannten napoleonischen Pose stülpte er wieder seinen Hut auf den Kopf, blickte den Leuten herausfordernd ins Gesicht und nahm sein Prischen in der Weise seines Abgottes. Seine Wangen waren freilich noch immer eingefallen und seine Beine schlotterten, aber das that nichts zur Sache, denn niemand durfte mehr auf ihn herabsehen. Sein Meister war auferstanden und er mit ihm. So wie das kleinste Bächlein durch anhaltenden Regen anschwillt und einem kleinen See gleicht, Wiesen, Felder, ja ganze Gegenden überschwemmend, so schwoll auch die Brust des alten Korporals durch den Sturm, der über ganz Frankreich fegte. Der Aufruhr in seinem Innern mochte in den Augen großer Politiker des Tages kaum der Beachtung wert sein, wie etwa ihr Aufruhr, der ihnen selber orkanähnlich dünkte, einem Gott oder einem Philosophen nichtssagend erschien. Der Mikrokosmos schließt potentiell den Makrokosmos in sich, der Geist Napoleons war nur der unendlich vergrößerte des Korporals Derval …

Kromlaix war noch immer so royalistisch gesinnt, wie es in Wirklichkeit seit undenklichen Zeiten gewesen; man nahm daher das herausfordernde, siegesgewisse Auftreten Dervals nicht gerade günstig auf. Es herrschte eine allgemeine Neigung, den Alten ordentlich durchzubläuen, was zweifellos auch geschehen wäre, wenn er seine größte Begeisterung nicht für seinen häuslichen Herd aufgespart hätte. Mit ausgestreckten Beinen, die Schnupftabaksdose zwischen den Fingern, ganz à la Napoleon, donnerte er Gildas nieder, der den Sieg Napoleons zwar wünschte, ihn aber für unmöglich hielt, solange Marschall Ney auf seiten des Königs stand. Als jedoch der große Tag hereinbrach, da Ney mit seinem Heer sich seinem alten Meister zur Verfügung stellte, umarmten sich Onkel und Neffe unter Freudenthränen und erklärten, daß die kaiserliche Sache nunmehr so gut wie gewonnen sei.

Rohan kam und ging wie ein Schatten. Stillschweigend hörte er den Tiraden des Alten zu, hoffend, daß sich die Lage doch noch ändern könne; aber seine Hoffnungen verdüsterten sich mit jedem Tage. Wo Napoleon seinen Fuß hinsetzte, schienen Armeen aus der Erde zu springen; seine Stimme drang von Thal zu Thal und zauberte eine reiche Ernte von Waffenträgern hervor.

Auch Marcelle wurde wieder von der furchtbaren Epidemie der Napoleonbegeisterung angesteckt, und dies zu sehen, war für Rohan das Schlimmste. Ein neues Feuer loderte in ihren Augen, ihre sonst bleichen Wangen glühten vor Begeisterung, wenn der Alte seine bekannten Lobreden losließ; sie sog förmlich jedes seiner Worte ein, ihr ganzes Wesen schien sich vollständig verwandelt zu haben. Rohan beobachtete sie mit stillem Entsetzen und vermied es, ihren Blicken zu begegnen. Hatte sie denn so rasch all die Qualen und Entbehrungen vergessen, die er erdulden gemußt? Begriff sie denn nicht, daß diese Sache, die ihr solche Freude bereitete, das Zeichen zu seiner Vernichtung war? …

Rohan hielt es weder zu Hause noch bei Dervals lange aus; es trieb ihn hinaus, ins Innere der Erde, in sein altes, luftiges Versteck. Nur dort fand er das Gleichgewicht seiner Seele, die ihm so nötige Ruhe wieder. Seit die Nachricht von der Wiedervereinigung Neys mit Bonaparte nach Kromlaix gedrungen war, hatte er mit Marcelle kaum ein Wort gewechselt; ja, er vermied ängstlich ein Zusammentreffen mit ihr. Bislang war er unbelästigt geblieben, die Behörden machten keinerlei Miene, des einstigen Empörers habhaft zu werden, denn sie hatten Wichtigeres zu thun und waren noch vollauf damit in Anspruch genommen, das große und gewagte Spiel zu beobachten, in welchem Bonaparte sich bemühte, seine Gegner zu überlisten. Rohan war verständig genug, jeden Augenblick auf eine neuerliche Verfolgung gefaßt zu sein. Ängstlich und das Schlimmste erwartend, verlebte er seine Zeit zumeist draußen auf dem offenen Meere.

An einem ruhigen, sonnigen Morgen konnte er der Versuchung nicht widerstehen, alle Schauplätze seiner schweren Kämpfe aufzusuchen. Er fand die Kathedrale von einer Legion von Seevögeln belebt, die aus dem Süden heimgekehrt waren, um ihre Nester zu bauen und ihre Jungen großzuziehen. Der »Trou« zeigte noch deutliche Spuren seines Kampfes mit den Gendarmen. Die Erinnerungen drohten Rohan zu überwältigen und er beeilte sich, durch den finstern Schneckengang sein luftiges Gemach im Innern der Klippen zu erreichen. Aus dem Spalt seines einstigen Versteckes blickend, sah er das Meer ruhig zu seinen Füßen rollen; es war so klar, daß er die roten Riffe und gelben Sandbänke deutlich erkennen konnte; die Fischerboote glitten über den glatten Spiegel dahin, die Sonne leuchtete, wie das Lächeln Gottes. Rohan nahm dies friedliche Bild in sich auf, aber das Herz wurde ihm dabei schwer, denn er mußte an jenen denken, der sein blutiges Schwert wieder über die friedliche Welt zückte und dessen roter Schatten sie zu verdüstern drohte. Konnte Gott das wirklich zugeben? Gott?! Hatte er nicht auch zugegeben, daß er, Rohan, den Freund seines Vaters niederschmettere und ihn unter dem Steinblock seines menschlichen Hasses zerdrücke? Um den auf ihn einstürmenden Gedanken zu entrinnen, kroch er durch die finstern Hohlgänge weiter in die erste Wasserhöhle und von da über die schlüpfrigen Stiegen bis zur Mündung des Aquädukts. Auf dem ganzen Wege fand er noch die Spuren der großen Überschwemmung, Fels- und Erdstücke versperrten ihm zeitweilig den Weg und der Abstieg war noch gefährlicher als er ihn bisher gefunden. Weiter als bis zum Eingang des großen Wasserreservoires konnte er nicht gelangen, denn derselbe war durch allerlei Trümmer verbarrikadiert, die wegzuschaffen jahrelanger Arbeit bedurfte. Auf dem Rückwege stolperte er auf dem schlüpfrigen Boden über einen dunkeln Gegenstand – es war die schwarze Marmorstatue, die er früher im Innern des Aquädukts entdeckt hatte.

Jahrhundertelang hatte sie auf dem Platze gestanden, um dann schließlich dennoch ihrem Schicksal zu verfallen! Sie vermochte der beispiellosen Wut der Wellen nicht standzuhalten, die sie von ihrem Piedestal stürzten und wie einen Strohhalm wegspülten. Schwarz und still lag sie da, noch immer häßlich und entstellt! Ave Cäsar Imperator! So wie jener, dessen Bildnis du darstellst, seinem Schicksal nicht entgehen konnte, so hat dich das deinige ereilt! Alles auf Erden ist vergänglich. Die Menschen und ihre Werke vergehen. Früher oder später wird alles vom Meere der Ewigkeit erbarmungslos hinweggespült, über welchem ewige Schatten schweben, die zu leben scheinen, aber nichts als leere Phantome sind!

Dies ungefähr waren die Gedanken, welche Rohan beseelten, während er sich über die Statue neigte. Wieder mußte er an jenen furchtbaren Tyrannen denken, der sein Leben verdüstert hatte, dessen Haupt ebenfalls ein furchtbarer Lorbeer krönte und an dessen Händen das Blut von Tausenden und Abertausenden Menschen klebte!

Als er endlich wieder in die frische Luft trat, dämmerte es bereits. Die Kälte und der Meltau der toten Welt umhauchte ihn noch, er zitterte am ganzen Körper, während er über die Triffinesleiter zur Kapelle der Notre Dame de la Garde emporschritt. Die Welt schien in eitel Frieden und Farbenpracht getaucht. Er, der den Tiger schuf, schuf auch das Lamm, und dieselbe Hand, welche die glitzernden Sterne dort oben einsetzte und den Menschen vorschrieb: »Liebet einander,« formte die steinernen Herzen von Hunderten von Cäsaren und setzte einen Bonaparte wieder in Freiheit …


 << zurück weiter >>