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Achtzehntes Kapitel.
Das Junifest

Ein Monat war seit Rohans Absturz von der Klippe verflossen. Man feierte in Kromlaix das beliebte Junifest. Seenelken und Lavendel standen in vollster Blüte, das Korn begann in Halme zu schießen, die Wiese hinter der Klippe duftete von Thymian. Das Himmelszelt bildete einen goldenen Dom, das Meer leuchtete wie ein Riesenspiegel, die Erde schien ein lebendes Wesen mit lebhaft pochendem Herzen. Wohin das Auge blickte, überall herrschte Farbe, Duft und Glanz. In dieser Jahreszeit zu leben, war eitel Lust und Wonne, namentlich für die liebe Jugend, die sich im Paradiese wähnte.

Auf der Wiese hinter den Klippen befand sich eine grüne Schlucht. In dieser standen die Ruinen eines Dolmens und zu diesem Dolmen pilgerten alljährlich an dem bestimmten Junimorgen unter Gesang und Musik alle Jungfrauen, Jünglinge und Kinder aus Kromlaix, gleich den glücklichen Schäfern im goldenen Zeitalter von Arkadien. Die verheirateten Leute waren von diesem Feste der Jugend streng ausgeschlossen. Jeder Bursch, der irgend ein Instrument spielen konnte, mußte zur allgemeinen Belustigung seine Kunst ausüben. Alain Derval blies eine nagelneue Flöte, die er sich erst kürzlich in St. Gurlott angeschafft, Jannick seinen Dudelsack; außer ihnen gab es noch mindestens ein halbes Dutzend Dudelsack- und unzählige Holz- und Blechpfeifenbläser. Die schönste Musik aber machten die hoch in den Lüften schwebenden Lerchen, die ihre lautesten und süßesten Weisen trillerten und sich bemühten, die Musikanten zu übertönen. Um die Ruinen des Dolmens herum saßen in allen Farben des Regenbogens gekleidete Mädchen und Bursche; andere wieder suchten Primeln und Margueriten oder balgten sich scherzend und singend im Grase. Auf den Hüten der Bursche prangten Kornähren, während jedes Mädchen eine Flachsblüte im Mieder stecken hatte.

Aus der Richtung von Kromlaix näherte sich eine seltsame Prozession, wie die alten Griechen sie wohl oft gesehen haben mochten. Eine Schar festlich gekleideter, mit Blumen bekränzter Kinder hüpfte singend, tanzend und Blumen streuend einher, hinter ihnen kamen gravitätischen Schrittes eine Anzahl von Burschen, die einen großen hölzernen Lehnstuhl trugen, auf welchem Genoveva thronte, Flachsblüten und allerlei Feldblumen im Schoße. Neben ihr trottete, lachend und scherzend und seinen derben Stock schwingend, Vater Rolland.

Merkwürdigerweise störte seine prosaische Gestalt den idyllischen und antiken Charakter des malerischen Bildes gar nicht. Er stimmte mit aller Kraft seiner Lungen in den Rundgesang ein, denn er war kein Spielverderber und besaß noch genug griechischen Geist, um für den Moment seine Tonsur vergessen und mit den Vergnügten vergnügt sein zu können.

Es war ein vielleicht noch nie dagewesener Fall, daß sich Vater Rolland oder ein anderer Seelsorger an diesem »Feste der Jugend« beteiligt hätte, das heidnischen Ursprunges war und selbst in den Nachbarorten mit Mißvergnügen betrachtet wurde, namentlich von den Priestern. Und obgleich Rolland nicht bigott genug war, um seinen Schäfchen ein unschuldiges Vergnügen zu mißgönnen, hatte er noch nie selber daran teilgenommen. Sein unerwartetes Erscheinen erregte daher einiges Erstaunen.

Die Bursche stellten den improvisierten Thron dicht vor dem Druidenstein nieder, während Rolland sich mit einem seidenen Taschentuch den Schweiß von der Stirne wischte. Jan Goron, der einer der Sesselträger war, hob Genoveva mit seinen starken Armen von ihrem Sitze herab und ließ sie auf einer von einigen Mädchen besetzten Anhöhe niedergleiten. Die lebhaften Augen Genovevas blitzten vor Stolz und Freude. Sie erzählte ihren Genossinnen etwas, das auch deren Heiterkeit erregte, denn sie brachen in schallendes Gelächter aus und klatschten vergnügt in die Hände.

In diesem Augenblick erhob Vater Rolland seine Rechte. Sofort hörte die Musik zu spielen auf, das Gelächter und Geschnatter verstummte. Aller Blicke wandten sich dem Geistlichen zu, dessen Antlitz sehr ernst geworden war: »Jünglinge und Mädchen,« begann er im bretonischen Dialekt, »wißt ihr, was mich hierher gebracht hat? Ihr könnt es nicht erraten, deshalb will ich es euch sagen – es ist einfach und traurig genug. Ihr thut wohl daran, fröhlich zu sein, meine Kinder, denn ihr seid jung und die Ernte verspricht gut zu werden; aber es ist ebenso recht und billig, der Toten zu gedenken.« Der Pfarrer bekreuzigte sich und alle folgten seinem Beispiel. »Seit eurer letzten Zusammenkunft an dieser Stelle haben sich sehr traurige Dinge ereignet; viele eurer Kameraden hat die Konskription in ein fremdes Land entführt, wo große Gefahren ihrer lauern, einige sind mittlerweile gestorben, wieder andere ans Krankenlager gefesselt, aber von all diesen will ich nicht sprechen, meine Kinder, sondern von dem armen Jungen, der im vergangenen Jahr euer ›Patron‹ gewesen ist und der jetzt weiß Gott wo weilt. Wir wollen hoffen, daß er zu den Füßen des heiligen Gildas und der gebenedeiten Jungfrau sitzt!«

Wieder machten alle, selbst die Kinder, das Kreuzeszeichen; einige blickten traurig drein, andere gleichgültig, mehrere Mädchen schluchzten laut auf und auch den Brüdern Derval traten Thränen in die Augen, denn alle wußten, daß der Geistliche von Rohan Gwenfern sprach. Es war Sitte, daß das junge Volk unter sich jedes Jahr einen anderen »König« und eine andere »Königin« wählte, die beim Junifest die Spiele leiten und über die frohe Schar herrschen mußten. Im vergangenen Jahr hatte man Rohan zum König oder »Patron,« wie es im Volksdialekt hieß, und Marcelle zur Königin oder »Patronin« ernannt.

»Ich will den Heimgegangenen weder loben, noch tadeln; er war vielleicht thöricht, vielleicht im Unrecht, aber es war entschieden eine Freude, den kräftigen Burschen anzusehen. Jetzt ist er tot – Gott sei seiner armen Seele gnädig – vergeßt ihn, der euch ein lustiger, guter Kamerad gewesen, nicht ganz; gedenket seiner und auch der armen, kleinen Marcelle, die vergangenes Jahr seine Patronin war und jetzt zu traurig und gebrochen ist, um sich an dem heutigen Feste zu beteiligen.«

Aller Blicke wandten sich jetzt vom Pfarrer ab nach der entgegengesetzten Richtung, wo sich zu seinem grenzenlosen Erstaunen Marcelle von ihrem Sitze erhob, um sich ihm zu nähern. Sie trug zwar keine ausgesprochene Trauer, doch statt der schneeweißen Haube eine safranfarbige und statt der bunten Kleidung einen schlichten, dunkeln Rock.

»Ich bin hier, Vater Rolland,« sagte sie mit einem traurigen Lächeln, das dem Geistlichen ins Herz schnitt.

»Gesegnet seien die Heiligen!« rief er. »Es ist klug von dir, meine Tochter, deinen Kummer zu unterdrücken und mutig die Freude mit den anderen zu teilen!« Im Innern schalt er Marcelle gefühllos und es hätte ihn mehr gefreut, wenn sie dem Feste ferngeblieben wäre.

»Ich wollte zuerst nicht kommen,« fuhr Marcelle entschuldigend fort, »aber Genoveva bat mich so sehr darum, daß ich ihr endlich zusagte. Ich bin nur Genoveva und Jan zuliebe gekommen, und ich weiß, was der Wunsch meines Vetters Rohan, der an keinem Feste mehr teilnehmen wird, gewesen wäre. Er hätte Jannick Goron zum Patron gewählt und Genoveva zur Patronin und das wollte auch ich thun.«

Einen Augenblick herrschte tiefe Stille, dann brach die Mehrzahl der Anwesenden in Beifallsrufe und Händeklatschen aus, während die Minderheit »Nein! Nein!« rief. Die Angelegenheit war erledigt und deshalb hatte Goron Genoveva an den Druidenstein begleitet.

»Der Segen Gottes sei mit dir, Marcelle, denn du hast ein gutes Herz, auch Genoveva ist ein Mädchen, wie man es unter Tausenden nicht findet. Ihr Bursche und Mädchen, ich gratuliere euch zu euerer heutigen Königin!« rief der Pfarrer begeistert, erhob dann abermals seine Rechte, die Musik verstummte und alle knieten im Grase nieder, um den Segen des Priesters zu empfangen. Im nächsten Moment erhoben sich alle und Vater Rolland trottete gemächlich ins Dorf zurück. Die Dudelsäcke und Holzpfeifen ertönten wieder, die Mädchen und Jungens sangen und schnatterten um die Wette und die Lustbarkeit erreichte ihren Höhepunkt, als der »Patron« mit der »Patronin« die Gavotte eröffneten und damit das Signal zum allgemeinen Tanz gab. Es war eine Lust, zu sehen, wie sich die Paare schwangen, wie die Röcke flogen und die Füße kaum mehr die Erde berührten.

»Marcelle, willst du denn gar nicht tanzen?« Sie stand seitwärts und sah dem bewegten Treiben wie im Traume zu.

»Nein, Mikel Grallon, heute tanze ich nicht.«

»Das ist schade,« entgegnete er ruhig, denn er war schlau genug, seine Enttäuschung nicht merken zu lassen. »Nur eine Tour – komm doch!«

»Ich danke, ich gehe heim!«

»Jetzt, wo das eigentliche Vergnügen erst begonnen hat? Willst du nicht wenigstens den Zauber am Liebesstein erproben, ehe du gehst?«

An jenem Tage pflegte jedes verliebte Mädchen ihre Flachsblüte und jeder Bursch seine Kornähre auf den Dolmen niederzulegen; welkten die Blüten ehe eine Woche verstrich, so galt dies als Zeichen der Treulosigkeit des betreffenden Partners.

»Ich habe, wie du siehst, gar keine Flachsblüte und mag den Zauber auch nicht erproben – es ist ein Unsinn! Ich gehe.«

In der That schlich sie sich von der Gesellschaft weg und eilte wunden Herzens heimwärts, vergebens bemüht, Mikel Grallon abzuschütteln, der laut auf sie einsprach: »Du wirst keinen Finger ins kalte Wasser zu tauchen brauchen, nicht einmal selbst zum Brunnen gehen müssen. Ich werde dich öfter nach Brest mitnehmen zu meinem Onkel, der dort eine kleine Schenke hat und werde dir Schuhe und Kleider aus Nantes kommen lassen. Und wenn uns der liebe Gott mit Kindern segnen sollte, wollen wir einen der Knaben Priester werden lassen.«

Der höchste Ehrgeiz jeder Bretagner Mutter gipfelt darin, einen ihrer Söhne dem Dienste Gottes zu weihen; daher fühlte sich Marcelle durch dieses Versprechen des stürmischen Werbers nicht verletzt. Sie erklärte ihm nur mit aller Bestimmtheit, nie heiraten zu wollen.

»Unsinn! Der gute Korporal und auch deine Mutter wünschen, daß du mein Weib wirst und ich nehme dich ohne jede Mitgift, denn ich will nur dich haben und bin reich genug dazu, um mir diesen Herzenswunsch erfüllen zu können … Du solltest dir doch einmal den Schrank voll Linnen ansehen, den meine Mutter für die junge Herrin des Hauses vorbereitet hat. Es ist weich wie Seide, weiß wie Schnee und duftig wie Lavendel.«

»Ich habe dir schon zwanzigmal gesagt, daß ich dich nicht mag,« unterbrach ihn Marcelle zornig. »Wenn du dich noch einmal unterstehst, so mit mir zu sprechen, werde ich dich hassen, Mikel Grallon!«

Der Bursch zuckte zusammen, eine böse Falte lag zwischen seinen Brauen und wilder Haß leuchtete aus seinen Katzenaugen. Er verlor für den Moment jede Selbstbeherrschung und rief: »Ah, ich weiß, weshalb du mich so schlecht behandelst! Du denkst noch immer an den Chouan von einem Vetter!«

»Wenn er ein Chouan war, so bist du ein noch schlimmerer,« entgegnete sie mit flammenden Blicken. »Er ist tot, seine Seele weilt bei Gott und es ist schändlich von dir, von einem Toten Schlechtes zu sagen.«

»Zürne mir nicht, Marcelle, ich meinte es wirklich nicht so schlecht,« suchte er seinen Schnitzer gut zu machen. »Rohan Gwenfern war ein guter Kerl, aber sieh' mal: er ist tot und dann wart ihr verwandt; wer weiß, ob der Bischof seine Einwilligung gegeben hätte! Auch war Rohan ein blutarmer Teufel, mein kleiner Finger ist reicher an Silber als sein ganzer Riesenkörper es gewesen wäre und ich liebe dich, mein Herz verlangt nach dir und ich lebe – – –«

»Spare dir die Mühe, Mikel!« schnitt Marcelle ihm das Wort ab. »Geh' zum Festplatz zurück und wähle dir eine Würdigere. Ich würde nur einen Mann heiraten und der liegt tot auf dem Meeresgrunde.«

*

In der Nacht ereignete sich etwas so Merkwürdiges, daß die Abergläubischen in Kromlaix jahrelang davon sprachen. Einige Fischer kamen spät am Abend vom Hummernfang zurück und da es ziemlich windstill war, ließen sie die Boote unter dem Schatten der mächtigen Klippen dahingleiten. Gerade als sie am Thore des Heiligen Gildas vorbeisegelten, wurden ihre Augen von einem hellen Schein, der aus der »Kathedrale« drang, geblendet. Wie wir bereits erwähnt haben, hielt man diese für verzaubert und kein Kromlaixer hätte es gewagt, um diese Stunde den vermeintlich von Geistern und Gespenstern heimgesuchten Ort zu betreten. Es war die Zeit der Hochflut und die Kathedrale schien mit flüssigem Malachit gepflastert zu sein.

Die Fischer richteten ihre Blicke erstaunt durchs Thor, stießen aber gleichzeitig einen Schreckensruf aus, bekreuzigten sich und beteten laut das Vaterunser, denn die riesige Kathedrale war plötzlich hell erleuchtet und hoch oben auf dem moosbedeckten Altar stand eine, eine brennende Fackel schwingende Riesengestalt. Alle Fischer, welche die seltsame Erscheinung gesehen hatten, waren, als sie später ihre Eindrücke austauschten, darüber einig, daß es der heilige Gildas gewesen sei.

Die Vision war nur einen Augenblick sichtbar gewesen, aber ehe sie verschwand, sahen die braven Fischer eine entsetzliche Erscheinung. Zu den Füßen des Heiligen kauerte eine dunkle Gestalt, von der nur der Kopf deutlich erkennbar war und diesen zierten gräßliche Hörner und ein Paar aus den Höhlen hervortretende Augen, die entsetzt zu dem heiligen Gildas emporblickten. Ehe sich's die Fischer recht versahen, war die Kathedrale wieder in tiefes Dunkel gehüllt. Lautlose Stille herrschte ringsum, selbst das Meer schien den Atem anzuhalten. Ihrer Sinne kaum mächtig und vor Angst zitternd, ruderten die Fischer in wahnsinniger Hast aus dem Bereiche des furchtbaren Spukes. Sie hatten genug gesehen: nicht nur den gefürchteten Heiligen, sondern zu seinen Füßen auch noch die Umrisse des Bösen, der wahrscheinlich wegen seiner an der Menschheit verübten Schandthaten von dem Heiligen gezwungen wurde, Buße zu thun.


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