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Neuntes Kapitel.
»Der Tag der Tage.«

Schon seit vielen Jahren hatte man in Kromlaix keinen so prächtigen Frühling zu verzeichnen gehabt. Es gab mehr Fische denn je und die guten Leute wären sehr vergnügt und zufrieden gewesen, wenn das Gespenst der Konskription nicht mit jedem Tage näher gerückt wäre. Man wußte nun bestimmt, daß es nur eine Frage der Zeit sei.

Kürzlich erst hatte man hundert Kohorten der National-Garde – eine Art Miliz, die seit jeher die Vergünstigung genoß, unter keinen Umständen über die Grenze marschieren zu müssen – einfach der regulären Truppe eingereiht, ferner sämtliche Matrosen der französischen Flotte aus allen Meeren zurückberufen und in ein Artilleriecorps verwandelt. Als Krönung aller Ungeheuerlichkeiten bewilligte der Senat dem Kaiser auch noch eine Antizipando-Konskription für das Jahr 1814 – eine Macht von zweimalhunderttausend ungeschulten Rekruten, die mit den Matrosen und den vorerwähnten Nationalgardisten eine neue Armee von 340 000 Mann bildeten.

Darob gab es öffentlich viel Freude, aber an den häuslichen Herden verhielt man sich still und lebte in fortwährender Angst. Die Mütter, Gattinnen und Schwestern vergossen ein Meer heimlicher Thränen. Es wurde allerorten bekannt gemacht, daß man infolge der ungeheueren Menschenverluste während der letzten Feldzüge keinerlei Vergünstigungen gestatten könne; die einzigen Söhne mußten ihr Glück ebenso versuchen wie die anderen. Bei der Urne würde eine strenge Kontrolle geübt werden und jeder Konskribierte, der eine fatale Nummer zog, mußte mit. Das Loskaufen durch Stellvertreter stand diesmal außer Frage.

Nur zu bald kam der schreckliche Tag. Das Zettelziehen sollte in dem benachbarten Städtchen St. Gurlott stattfinden. Noch vor Sonnenaufgang wurde die Gassenthüre im Hause des Korporals Derval geöffnet und ein mit einer roten Nachtmütze bedeckter Kopf ward sichtbar. Onkel Ewen lugte nach dem Wetter aus.

»Der Himmel ist wolkenlos, eine milde Brise weht übers Meer. Bei der Seele des heiligen Gildas, das ist ein gutes Omen! Nicht einmal der Morgen bei Austerlitz war so sonnig!« murmelte der alte Soldat, sich vergnügt die Hände reibend.

Dann humpelte er ins Zimmer zurück, um seine Toilette zu vervollständigen. Er rasierte sich noch sorgfältiger als sonst, bürstete seinen besten halbmilitärischen Sonntagsstaat und zwang seinen gesunden Fuß in einen Schuh. Nachdem er all diese Vorbereitungen beendet hatte, setzte er sich in Hemdärmeln vor den Herd – dessen Feuer er, wie alle Tage, eigenhändig angezündet hatte – um sein Morgenpfeifchen zu schmauchen.

Korporal Derval war ein Frühaufsteher und immer der erste im Hause wach. Hoël und Gildas – die Zwillinge – schnarchten noch in ihrem Kastenbett in der Küche. Alain und Jannick schliefen oben in einem Kämmerchen neben dem Frauengemach. Marcelle kam als erste die schwarze Holztreppe herab, sie war schon vollständig angekleidet und trug auch ihren Sonntagsstaat. Durch ihre Schritte aus seinen Grübeleien geweckt, drehte sich der Veteran um.

»Du bist's, Kleine? Meinen Morgenkuß!«

Marcelle trat gehorsam auf ihn zu und küßte ihn ehrerbietig auf beide Wangen.

»Wo ist deine Mutter, mein Käferchen?«

»Sie schläft noch; ich wollte sie nicht wecken, es ist ja noch früh.«

Derval paffte eifrig wahre Dampfwolken aus seiner Pfeife. Es war bisher noch nie vorgekommen, daß die fleißige Witwe ihre Tochter hätte früher aufstehen lassen. Das gab ihm zu denken. Er ahnte die Ursache dieser Verspätung. Für ihn war der heutige Tag ein »Tag der Tage,« für sie ein Tag banger Sorge. Die ganze Nacht hatte sie wachgelegen, weinend an ihre gefallenen Söhne gedacht und Gott angefleht, er möge ihr doch die lebenden lassen.

»Pah!« brummte der Alte. »Die Bengels schnarchen auch noch, als ob es Mitternacht wäre. Hoël! Gildas! Auf! Es ist die höchste Zeit!«

Während Marcelle vor die Hausthüre trat und, an den Thürpfosten gelehnt, die Straße hinabblickte, schlüpften die beiden jungen Riesen aus den Federn und saßen gar bald mit ihrem Onkel vor dem Feuer. Mittlerweile kamen auch Alain und Jannick, verdrießlich und schläfrig aussehend, herunter und als letzte von allen, blaß und verweint, Mutter Derval.

Allmählich machte die Dämmerung dem Morgenrot Platz. Es wurde heller und heller. Marcelle, nicht minder bleich und ernst als ihre Mutter, beobachtete das Erwachen des Dorfes. Thüren und Fenster wurden geöffnet, benachtmützte Köpfe herausgesteckt, Stimmen wurden laut und jetzt eilte sogar ein kleines Mädchen vorbei, das Wasser vom Brunnen holen wollte.

»He, Marrianiac, gehst auch du heute nach St. Gurlott?« rief Marcelle sie an.

»Ja,« antwortete die Kleine vergnügt, »ich gehe mit Mutter, Onkel Maturin und meinen Brüdern. Es wird sehr lustig sein, wie bei einer Kirchweih, aber jetzt muß ich mich sputen, denn Mutter wartet aufs Wasser.«

Marcelle seufzte. Sie war zwar noch immer von Enthusiasmus für die »große Sache« erfüllt, aber die Thränen ihrer Mutter beunruhigten sie und sie dachte mit Trauer an ihre gefallenen Brüder und an – Rohan. Sie war selbstsüchtig genug, zu wünschen, daß sein Name nicht gezogen werde. Der erste Schluck, den sie aus dem Becher der Liebe genippt, war so berauschend, und ihr Wesen war aus so leidenschaftlichen Elementen zusammengesetzt, daß schon der Gedanke an die Möglichkeit, ihren Geliebten so bald zu verlieren, sie tief unglücklich machte.

Kromlaix glich an diesem herrlichen Frühlingsmorgen einem geschäftigen Bienenhause. Fast alle Welt war auf der Straße; die blendend weißen Hauben, bunten Röcke und gestickten Mieder der Frauen leuchteten förmlich in der Sonne, auch die Männer hatten sich zum großen Teil in ihren Sonntagsstaat geworfen und lungerten in Gruppen an den Straßenecken herum. Trotz der frühen Morgenstunde hatten sich doch schon viele auf den Weg nach St. Gurlott gemacht.

Als Marcelle wieder in die Stube trat, stand das Frühstück schon auf dem Tische, der Korporal und seine Neffen saßen an ihren Plätzen und aßen Schwarzbrot. Vor jedem stand ein Zinnbecher und in der Mitte des Tisches ein Krug mit Apfelwein. Der Korporal erhob seinen Becher und wandte sich an die »Makkabäer«: »Habt acht! Wir trinken auf das Wohl unseres großen Kaisers!«

Die Burschen leerten ihre Becher auf einen Zug, denn der Apfelwein war gut und für sie ein seltener Luxus. Auch Marcelle hatte Platz genommen und versucht, einen Bissen Brot herunterzuwürgen, aber vergebens – es wollte ihr nicht gelingen. Frau Derval machte sich noch immer beim Feuer zu schaffen.

»Mütterchen, Mütterchen, komm, setz' dich zu uns!« rief Onkel Ewen mit sanftem Vorwurf. »Willst du uns denn mit aller Gewalt das Herz schwer machen? Kopf hoch! Bedenke doch, daß nicht alle Namen gezogen werden und vielleicht nicht ein einziger deiner Jungens! Wenn das Schlimmste zum Schlimmen kommen sollte, wirst du, wie ich dich kenne, stolz darauf sein, deinem Kaiser in seiner Not beistehen zu können und er wird dir deine Lieben gesund und mit heilen Gliedern zurückschicken, wenn er sie nicht mehr braucht.«

Die Witwe antwortete mit einem tiefen Seufzer. Die jungen Leute sahen recht vergnügt aus, sie waren noch nicht alt genug, um eine Gefahr zu fürchten, ehe sie ihnen an den Kragen ging; überdies hatte ihnen der Exkorporal eine tüchtige Portion Mut und Kampflust anerzogen.

»Pah, ich habe nicht ein bißchen Angst; wenn ich einrücken muß, werde ich eben einrücken! Wir stehen ja alle in Gottes Hand!« bemerkte Hoël.

»Wenn's bei der Ziehung nur ehrlich zugeht!« warf Gildas mißtrauisch ein.

»Krähenseele!« brauste der Alte auf. »Sorgt unser Kaiser nicht dafür? Und wer wagt es, ihn zu verdächtigen?! Hoël hat ganz recht, Gott mischt die Nummern und die Menschen ziehen sie. Seht eure Schwester Marcelle an! Wenn sie ein Mann wäre, würde ihr das Herz brechen, wenn sie nicht mit in den Krieg ziehen könnte.«

»Das ist leicht gesagt, wenn man ein Weib ist!« brummte Gildas.

»Hört also mich, der ich ein Mann bin! Du, liebe Schwägerin, mußt dir die Geschichte so vorstellen. Sterben müssen wir alle, nicht wahr? Wenn unsere Zeit kommt, wenn der Engel mit dem weißen Gesicht an unsere Thüre pocht, müssen wir sie öffnen; es nützt kein Verstecken zu Wasser oder zu Lande. Er findet uns überall. Wenn es Gottes Wille ist, daß wir sterben, so ist es gleich, ob es zu Hause geschieht oder auf dem Schlachtfelde – – –«

»Das ist wahr,« unterbrach ihn die Witwe, »aber –«

»Es giebt kein Aber, meine Liebe! Sieh' dir mal den Bruder deines seligen Mannes an. Ich bin Soldat gewesen, habe alle Schrecken des Krieges mitgemacht, habe Pulverdampf genug gerochen und lebe doch noch. Corbleu, ich bin bis auf diesen verfluchten Stelzfuß so gesund wie irgend ein Mann meines Alters. Habe ich meinen ›kleinen Korporal‹ nicht nach Ägypten, nach Italien und über die Alpen begleitet? Ich kannte ihn, als er noch General in Cismone war, meine Jungens und habe es erlebt, ihn als gekrönten Kaiser von Frankreich zu sehen. Das Jahr darauf habe ich mein Bein verloren. Bah, ein Bein! Wenn ich beide verloren hätte, würde ich mir auch nichts daraus gemacht haben, denn es wäre ja für meinen Kaiser gewesen. Aber ihr seht, ich bin nicht gestorben. Wie oft bin ich im dichtesten Kugelregen gestanden, ohne verletzt worden zu sein! Warum, Mütterchen? Weil jede Kugel von Gottes Hand gezeichnet ist und kein Soldat ohne Gottes Willen auf dem Schlachtfelde bleibt.«

Er sprudelte das alles in einem Atem hervor, sich bald an seine vergrämte Schwägerin, bald an die jungen Leute wendend, um ihnen ein wenig Mut zu machen. Zum Teil gelang ihm das auch, denn sogar die Witwe begann zu hoffen, daß sie ihre Söhne behalten könne. Übrigens hatte der Exkorporal seine Kaiserpropaganda nicht nur am häuslichen Herd mit Erfolg betrieben, sondern so ziemlich im ganzen Dorfe. Seinen Aufmunterungen war es zu danken, daß die jungen Fischer mit Zuversicht und frohem Mut dem »Tag der Tage,« wie Derval den Ziehungstag nannte, entgegensahen und die Konskription als einen lustigen Spaß anzusehen begannen. Manche arme Mutter hatte sich zwar schon vor Tagesgrauen zur Kalvarie hinaufgeschlichen, um den Schutz des Heilands für ihr Kind zu erflehen, aber im allgemeinen herrschte an jenem Morgen in Kromlaix Festesstimmung. Lachend und scherzend versammelten sich die Gruppen der Konskribierten und ihrer Begleiter in der Hauptstraße und mehr als einer hatte bereits über den Durst getrunken.

Zur anberaumten Stunde trat der Korporal an der Spitze seiner Neffen auf die Straße hinaus. Ihm zur Seite Marcelle, blaß wie der Tod, aber in ihren schönsten Kleidern. Jannick trug seinen Dudelsack an einem bunten Bande um den Hals geschlungen und blies lustig darauf los, ebenso Alain seine Blechtrompete.

»Vorwärts!« rief Onkel Ewen.

Sie wurden mit Hochrufen begrüßt und sofort schloß sich ihnen eine Anzahl anderer junger Leute an, Freunde der »Makkabäer.« Unter diesen ein schmächtiger, düster dreinblickender junger Fischer, den der Korporal bei seinem Namen begrüßte: »Guten Morgen, Mikel Grallon!«

Mikel dankte höflich und näherte sich Marcelle, die ihm wohl freundlich zunickte, sich aber nicht weiter mit ihm befaßte, denn ihre Gedanken weilten anderswo. Sie blickte ungeduldig die Straße hinauf und hinab – in der Hoffnung, eine hohe Gestalt auftauchen zu sehen. Auch der Korporal war auf dem qui vive.

»Der Kerl verspätet sich; es ist unerhört, sich an einem solchen Tage zu verschlafen!« brummte er.

Die ganze Gesellschaft blieb in der Nähe einer alten kleinen Schenke stehen.

»Wen erwarten Sie denn noch?« fragte Grallon.

»Noch ein Schäflein meiner Herde,« entgegnete Onkel Ewen. »Sein Name ist auch auf der Liste und doch verspätet er sich.«

»Wenn Sie Rohan Gwenfern meinen, dürften Sie vergebens warten,« bemerkte Mikel mit bezeichnendem Lächeln. »Ich traf ihn gestern Abend und er sagte mir, daß er zu sehr beschäftigt sei, um mitzukommen – Sie oder ein anderer seiner Freunde möge für ihn ziehen.«

Der Korporal war wie vom Donner gerührt. »Zu beschäftigt, um dem Ruf des Kaisers zu folgen! Zu beschäftigt, um an diesem Tag der Tage seine Mannespflicht zu erfüllen! Das ist ja beispiellos!« Er schüttelte mißbilligend sein Haupt und konnte nicht daran glauben.

»Bei den Gebeinen des heiligen Gildas, das kann nicht wahr sein!« brüllte er. »Wenn Rohan dir das sagte, Mikel Grallon, dann hat er dich einfach zum besten halten wollen. Ich sehe es klar, Jungens, der Spitzbube wollte uns einen Possen spielen und hat sich allein auf den Weg gemacht. Vorwärts, wir werden ihn an der Urne treffen.«

Alain und Jannick bliesen wieder auf ihren Instrumenten und die ganze Gesellschaft setzte sich in Bewegung. Marcelle sagte nichts, aber sie erinnerte sich plötzlich, daß Rohan ihr schon vor einigen Tagen die Möglichkeit seiner Abwesenheit bei der Verlosung der Namen angedeutet hatte. »Falls ich nicht dort sein sollte, ziehe du oder der Onkel für mich; es ist ja ganz gleich, wer es thut. Sollte das Schicksal gegen mich sein, werde ich mich auch so zufrieden geben.« Es war schon spät am Abend und finster, als er das sagte, so daß sie den furchtbaren Ausdruck in seinem Gesichte nicht hatte sehen können, sonst hätte sie der Ziehung mit noch größerem Bangen entgegengesehen.

Auf der nach dem Provinzstädtchen führenden Landstraße trafen sie mit anderen Gruppen, die dasselbe Ziel verfolgten, zusammen – jungen und alten Frauen und Männern, Knaben und Mädchen, welche ihre Brüder zur Urne begleiteten. Als sie an der Kalvarie vorbeikamen, hielten die Musikanten in ihrem Spiel inne; der Korporal nahm die Mütze ab, Marcelle und ihre Geschwister knieten nieder und sprachen ein kurzes Gebet. Vor der Kirchenthüre erwartete sie der Pfarrer. Er streckte seine feisten Hände aus und segnete die ganze Schar. St. Gurlott lag etwa 20 Kilometer von Kromlaix entfernt. Die Landstraße zog sich durch eine kahle, von ungeheuern Granitfelsen umringte Gegend hin. Rechts und links nichts als Steinmassen und fußhoher Ginster – ein trostloser Anblick, der nicht dazu diente, eine frohe Stimmung zu erzeugen. Trotz seines Stelzfußes humpelte Onkel Ewen ganz munter auf dem holperigen Wege vorwärts; aber er war doch herzlich froh, als ein von einem fetten Paar Ochsen gezogener Leiterwagen sie einholte, auf welchem eine Anzahl festtäglich gekleideter Jungfrauen und Burschen saßen und ihm und Marcelle Plätze anboten.

Ein echter Galgenhumor beherrschte die kleine Gesellschaft während der langen Fahrt. Endlich wurden die Türme des Städtchens in weiter Ferne sichtbar. Gar manches Herz begann bei diesem Anblick rascher zu pochen, namentlich dasjenige Marcelles, die auf dem ganzen Wege ängstlich nach Rohan ausgeschaut hatte.

»Seht!« rief plötzlich eines der Mädchen, »humpelt nicht dort die alte Mutter Goron am Arme ihres Sohnes?«

Marcelle bejahte und bat den Wagenlenker anzuhalten. Der junge Goron, ein ärmlich gekleideter Bursche, eine wahre Reckengestalt, trat vor und ersuchte die Gesellschaft, seine erschöpfte Mutter aufzunehmen. Als er die Greisin hinaufhob, fiel sie in Ohnmacht. Die Mädchen hatten Mühe, sie aus derselben zu erwecken. Sie sprach kein Wort und starrte nur wie geistesabwesend zum Himmel empor – die fast unerträgliche Seelenangst und die körperliche Anstrengung schienen die schwache Greisin vollständig gebrochen zu haben. Der Sohn schritt dicht hinter dem Wagen einher, denn sie hielt seine Hand fest und wollte sie nicht loslassen.

Endlich bog der Wagen auf den Marktplatz ein, der ein buntes, lebhaftes Bild bot. Wagen reihte sich an Wagen, Bude an Bude, Holzstand an Holzstand; in den letzteren wurden allerlei Erfrischungen feilgehalten. Gruppen von Frauen und Männern standen umher; hier wurde ein Jüngling, der eine böse Nummer gezogen, wehklagend umringt, dort beglückwünschte man ein altes Mütterchen, deren Sohn losgekommen war. Am lebhaftesten ging es vor dem Rathause zu, einem alten, baufälligen Steingebäude, in welchem die Ziehung bereits begonnen hatte. Äußerlich vermochte man kein Zeichen der Unzufriedenheit oder des Kummers der Bevölkerung wahrzunehmen. Die Behörde hatte ihr Möglichstes gethan, um dem Städtchen ein festliches Gepräge zu verleihen. Von den meisten Dächern des Marktplatzes flatterten bunte Fahnen, von allen Seiten ertönten Musikklänge, alte Soldaten gingen von Gruppe zu Gruppe, den Fischern und Bauern Mut zusprechend und allerlei Schnurrpfeifereien treibend oder lustige Geschichtchen vom »kleinen Korporal« erzählend. Viele der Bursche, die bei der Urne Pech gehabt, hatten in ihrer Verzweiflung bereits über den Durst getrunken; andere, die erst an die Reihe kommen sollten, lachten und scherzten laut, um ihre innere Angst zu bemänteln; nur die alten Frauen zeigten ihre Verzweiflung unverhohlen.

Derval scharte seine Schäfchen um sich und schritt an ihrer Spitze dem Rathause zu. Marcelle klammerte sich nervös an seinen Arm und spähte nach Rohan aus. Alle Welt kannte den alten Stelzfuß und machte ihm Platz. Selbst die Beamten begrüßten ihn vertraulich, ehe sie ihre Blicke bewundernd auf der hübschen Marcelle ruhen ließen.

»Onkel!« flüsterte diese, nachdem sie unter einem Kreuzfeuer von bewundernden Blicken die Schwelle überschritten hatten. »Rohan ist nicht hier.«

»Verflucht!« tobte der Alte. »Aber vielleicht wird er schon im Saale sein!« Er nahm, als er den »heiligen« Ort betrat, seine Mütze ab, und bahnte sich einen Weg durch die Menge, Marcelle nach sich ziehend.

Der Rathaussaal sah sehr imposant aus. Am obersten Ende desselben saß der Bürgermeister, ein militärisch aussehender, mit einer Schärpe und zahlreichen Orden geschmückter untersetzter, kleiner Mann, vor einem Tische, auf welchem die verhängnisvolle Urne stand; er war von mehreren Stadtrepräsentanten und einem Infanterieoffizier umringt. Hinter ihnen stand eine Reihe von Gendarmen in Positur. An einem Seitentischchen saß ein Beamter, vor sich ein großes offenes Buch, in das er jeden Namen und jede Nummer, die verlesen wurden, gewissenhaft eintrug. Neben ihm stand ein alter Sergeant der Großen Armee barhaupt und verlas mit lauter feierlicher Stimme die gezogenen Nummern.

Jedes Dorf, jeder Weiler kam gesondert in alphabetischer Ordnung an die Reihe. Der Name jedes dazu gehörigen Konskribenten wurde laut ausgerufen. Jeder Jüngling mußte persönlich vortreten oder sich durch jemand vertreten lassen und aus der Urne eine Nummer ziehen. Man hatte für jede Ortschaft eine bestimmte Anzahl von Konskribierten festgesetzt; für Kromlaix zum Beispiel fünfundzwanzig. Demzufolge mußte jeder der auf der Liste stehenden Jünglinge von Kromlaix, der eine der Nummern von 1 bis 25 zog, einrücken, während alle, die höhere Nummern zogen, frei waren – vorausgesetzt, daß die fünfundzwanzig diensttauglich befunden würden.

Die Kromlaixer brauchten nicht lange zu warten, bis die Reihe an sie kam und der Offizier am Tische mit lauter Stimme in den Saal hineinrief: »Kromlaixer vor!«

Die jungen Fischer drängten sich dicht an den Tisch heran, während der Sergeant die Namen alphabetisch vorlas. Ganz vorne behauptete der Exkorporal mit seinen Neffen und Marcelle den Platz. Der Sergeant machte den Offizier, dieser den Bürgermeister auf ihn aufmerksam und alle drei lächelten ihm zu. Der Bürgermeister ließ sich sogar herbei, ihm »Guten Tag, Korporal!« zuzurufen.

Dieser errötete vor Stolz, salutierte und gab seinen Jungens ein Zeichen, dies gleichfalls zu thun.

»Willkommen, mein Alter; ich sehe, Sie bringen uns die schönste Gabe eines tapferen Veteranen, einen Strauß von strammen Rekruten für den Kaiser. Aber wer ist das hübsche Mädchen an Ihrer Seite? Es steht doch sicherlich nicht auf der Liste?« scherzte der Bürgermeister.

Alle lachten. Marcelle errötete, als Derval erklärte: »Es ist meine Nichte und dies sind ihre Brüder, die alle auf der Liste stehen.«

Die Namen wurden laut aufgerufen, viele der Bursche kehrten ganz vergnügt von der Urne zu ihren Begleitern zurück, denn sie hatten höhere Nummern gezogen. Die minder Glücklichen lachten aus Verzweiflung.

»Alain Derval!«

Alain übergab seine geliebte Trompete dem zitternden Jannick, trat erhobenen Hauptes an den Tisch, verbeugte sich vor den Beamten und versenkte seine Rechte rasch in die Urne, während Onkel Ewen ihn aufmerksam beobachtete, sich zur vollen Höhe aufreckte und noch fester als sonst auf seinen Beinen stand.

Alain zog seine Nummer, rollte sie auf, las sie und reichte sie dem Sergeant, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.

»Alain Derval – 173!« tönte es durch den Saal.

Alains Gesicht drückte Enttäuschung aus, als er auf seinen Platz zurückging.

»Mein gewohntes Pech!« flüsterte er Marcelle zu. »Ich wollte, ich hätte eine niedrige Nummer gezogen!«

»Gildas Derval!«

Die Herren am Tische musterten den jungen Riesen voll Bewunderung.

»Ein prächtiger Junge!« flüsterte der Bürgermeister seinem Nachbar zu.

Gildas zog phlegmatisch seine Nummer. Ein kaum merklicher Schatten flog über sein Gesicht, als er sie las, aber er reichte sie achselzuckend dem Sergeant.

»Gildas Derval – 16!«

» Vive l'Empereur!« rief der Korporal, während Marcelle einen Schreckenslaut ausstieß. Gildas kehrte mit schlotterigen Schritten auf seinen Platz zurück und erwiderte den herzlichen Händedruck seines Onkels nicht besonders begeistert.

»Hoël Derval!«

Der zweite Zwilling trat rasch zur Urne, als ob er gespannt wäre, sein Schicksal zu erfahren.

Einen Augenblick später verkündete der Sergeant: »Hoël Derval – 27!«

Marcelle that einen tiefen Atemzug, der Korporal zuckte zusammen und Hoël war wie vor den Kopf geschlagen. Nur Gildas' Miene heiterte sich auf, denn er wußte, daß nun auch der Zwillingsbruder sein Schicksal teilen würde, da der Siebenundzwanziger erst dann als befreit gelten konnte, wenn die bestimmten Fünfundzwanzig allesamt die ärztliche Prüfung bestanden, was nicht anzunehmen war.

Eine kurze Pause entstand, denn der Beamte schrieb eifrig ins große Buch, und Marcelle benutzte dieselbe, um ihrem Onkel ins Ohr zu flüstern: »Rohan ist noch immer nicht hier – kannst du dir das erklären? Was läßt sich da thun? Er wird eine Rüge, vielleicht gar eine Strafe bekommen.«

»Ich werde statt seiner ziehen,« entgegnete der Veteran ärgerlich.

»Laß mich ziehen, Onkel!« bat Marcelle zitternd. »Ich habe es ihm versprochen, im Falle er nicht kommen sollte.«

» Corbleu! Man wird dich auslachen, Mädchen!« meinte er laut.

»Still!« mahnte Marcelle.

»Jannick Goron!« las der Sergeant.

Goron trat aus der Menge hervor. Seine Mutter, die bis an die Lippen erbleichte und sich kaum mehr aufrecht erhalten konnte, mußte man mit Gewalt zurückhalten, damit sie sich nicht vordränge. Die Hand des jungen Menschen zitterte sichtlich, als er sie in die Urne versenkte. In seiner Aufregung reichte er dem Sergeant den Zettel, ohne ihn zu öffnen.

»Lesen Sie ihn zuerst selbst,« mahnte der Sergeant.

Der junge Mann that es wie im Traume.

»Jannick Goron – 200!« tönte es durch den Saal.

Freudenthränen schimmerten in seinen Augen, als er auf seine Mutter zuschritt, die bei Verlesung der hohen Nummer vor Glück in Ohnmacht gefallen war. Jedermann gönnte Mutter und Sohn die Freude.

»Mikel Grallon!«

Zitternd, die Mütze in der Hand, trat er an die Urne. Die helle Angst blickte ihm aus den kleinen Fuchsaugen, zögernd stand er da.

»Spute dich, mein Sohn, es sind noch andere da,« mahnte der Sergeant.

Grallon griff mit geschlossenen Augen hinein, blickte hastig auf den Zettel, wobei seine Augen freudig aufblitzten.

»Mikel Grallon – 99!«

Mit hastigen Schritten näherte er sich Marcelle, als ob er in seiner Freude ein gutes Wort von ihr erwarte; aber sie sah ihn gar nicht, ihre Blicke waren starr auf die Urne geheftet, ihre Lippen bewegten sich wie im Gebet …

»Rohan Gwenfern!« ertönte es.

Totenstille. Der Korporal blickte auf seine Nichte, diese auf ihn.

»Rohan Gwenfern!« las der Sergeant zum zweitenmal.

»Ja, wo steckt denn der Angerufene?« fragte der Bürgermeister stirnrunzelnd.

»Mein Neffe konnte nicht selbst erscheinen, m'sieu, er ist unwohl,« stotterte der Korporal. »Wenn Sie es gestatten, werde ich oder meine Nichte für ihn ziehen.«

»Was sagst du dazu, Kleine? Bist wohl sein Liebchen?« bemerkte der Bürgermeister.

»Ich bin seine Cousine,« entgegnete Marcelle einfach.

»Weißt du denn nicht, daß im Französischen Cousine sehr oft auch Liebchen bedeutet? Es sei! Ziehe statt seiner und bringe ihm Glück!«

Alle Bekannten blickten gespannt auf Marcelle, während sie mit schnellem Griff den Zettel zog.

»Mut, Kleine!« ermahnte sie der Offizier, »sieh' dir doch die Nummer an!«

Sie reichte das zusammengerollte Zettelchen stumm ihrem Oheim; dieser entfaltete es und während er es anstarrte, stieß er einen Fluch aus.

»Lesen Sie, Korporal!« befahl der Offizier. Marcelle war bis an die Lippen erblaßt.

»Das ist nicht zum Glauben!« rief Onkel Ewen; das Blättchen in seiner Hand zitterte merklich, als er es dem Sergeant überreichte.

»Rohan Gwenfern – Eins!« schrie dieser in den Saal hinein.

Marcelle schwankte und mußte sich an den Arm des Korporals klammern, um nicht umzusinken.

» Eins! Und ich hab's gezogen!« stöhnte sie.


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