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Fünfzehntes Kapitel.
Der Traum

Rohan träumte einen seltsamen Traum. Er sah sich an derselben Stelle, auf der er eingeschlafen war, liegen, zu dem Bildnis des Gekreuzigten emporblickend. Um ihn und über ihm herrschte tiefste Finsternis; der Wind heulte, der Regen platschte einförmig in das Granitbecken, er aber lag zusammengekauert in dem nassen Ginster, horchte und beobachtete mit Spannung, er wußte nicht was. Sein Herz klopfte zum Zerspringen, sein Puls raste, denn übernatürliche Laute hatten seine Phantasie erregt.

Er lauschte nur noch aufmerksamer und glaubte ganz deutlich einen leisen menschlichen Seufzer zu vernehmen. Dieser wiederholte sich und siehe da – von Angst und Entsetzen gepackt, bemerkte Rohan, wie die Gestalt am Kreuze den Kopf von einer Seite zur anderen bewegte. Nicht wie im Schmerz, auch nicht bewußt, sondern wie ein Schläfer, der im Begriffe ist, aus langem, tiefem Schlaf zu erwachen.

Rohan blieb das Herz stehen und er hatte das Gefühl, als ob er sterben müsse. Er wollte fliehen, aber die Beine versagten ihm den Dienst; er wollte schreien, aber die Kehle war ihm wie zugeschnürt. Einen Augenblick lang verlor er das Bewußtsein. Als er die Augen wieder aufschlug, war das Kreuz leer und Christus stand aufrecht am Fuße desselben.

Wind und Regen hatten aufgehört, der Mond war aus den Wolken getreten; gespensterhaft erhob sich das Kreuz im fahlen Mondlicht, während die Gestalt auf dem Sockel wie weißer Marmor schimmerte. Die Augen waren weit geöffnet und blickten zu dem zusammengekauerten Rohan hinab; Arme und Füße bewegten sich und die Lippen hauchten: »Erhebe dich!«

Der gebannte Körper Rohans gehorchte dem höheren Willen und erhob sich sofort. In demselben Augenblick fühlte Rohan, wie alle Furcht von ihm wich. Er blickte zu dem heiligen Antlitz empor, ohne ein Wort zu sprechen. Und das Antlitz stillte durch seine erhabene Schönheit sofort die Qualen seines Herzens, wie das Mondlicht die bewegten Wellen des Meeres beruhigt. Er wollte sich anbetend und freudetrunken zur Erde werfen, aber Christus sprach: »Folge mir!«

Wie ein Geist, der kaum die Erde berührt, stieg Christus vom Sockel des Kreuzes hinab und schwebte schweigend weiter. Rohan folgte ihm, voll Angst, daß die Vision jeden Augenblick verschwinden könne und es doch nicht wagend, sich ihr ganz zu nähern. Stumm und rasch schwebten sie weiter. Rohan erschien es im Traume, als ob nicht seine Füße ihn trügen, sondern als ob er von unsichtbaren Händen geschoben würde; auch Wälder und Felder schienen sich zu bewegen, wie die vor dem Winde fliehenden Wolken, die Erde entglitt unter seinen Füßen. Rohan folgte bald bewußt, bald unbewußt der göttlichen Gestalt. Von Zeit zu Zeit schienen ihn die Sinne zu verlassen; so oft er aber wieder die Augen aufschlug, sah er die weiße Gestalt vor sich hingleiten; öfter blieb sie auch stehen, drehte sich nach ihm um und winkte ihm, zu folgen.

Im Traume verwandeln sich bekanntlich Sekunden zu Ewigkeiten. Rohan kam es vor, als ob er seinem Begleiter unzählige Stunden hindurch gefolgt wäre. Sie schwebten über einsame Wälder, über vom Mond beschienene Bergspitzen, über ungeheure glitzernde Flüsse, über einsame melancholische Seen, über in stillen Thälern schlummernde Dörfer, über riesige Städte mit Straßenlabyrinthen. Endlich kamen sie zu einem herrlichen Park mit prächtigen Anlagen. Auf einem freien Platz stand eine Anzahl von Springbrunnen; von da führte ein sorgfältig gepflegter Kiesweg zu einem großen Gebäude mit zahllosen Fenstern, die im Mondschein glitzerten. Ausgedehnte Rasenplätze und farbenprächtige Blumenbeete erfreuten das Auge.

Christus schritt unentwegt weiter, bis zur Thüre des großen Gebäudes, zu der eine schöne Marmortreppe führte. Dort blieb er stehen und erhob seine Hand. Die Thüre sprang auf und er trat, von Rohan gefolgt, ein.

Die endlosen Korridore waren finster wie die Nacht, aber von den Füßen des Heilands strahlte ein mattes Licht aus, so daß alle Dinge ringsum sichtbar waren. Sie durchschritten zahllose Gemächer – viele ungeheuer groß und düster, nur von einzelnen Mondstrahlen bewohnt, andere dunkel und verhängt, in welchen Frauen, Männer oder Kinder schliefen – stille Gänge, geisterhafte Säle mit zahllosen Bildern an den Wänden, Marmorstatuen und Büsten auf Sockeln und in den Nischen. Überall herrschte Totenstille. Nichts rührte, nichts bewegte sich. Und obgleich ihre Schritte in den hohlen Gängen dumpf wiederhallten, weckten sie niemand aus dem Schlaf. Überall öffneten sich die Thüren leise vor ihnen und wie von selbst, aber die Schläfer schliefen ungestört auf ihren Kissen weiter, der einzige vernehmbare Laut war das Säuseln des Windes in den stillen Höfen.

Wieder schwand Rohan das Bewußtsein; als seine Seele ihre Empfindung zurückgewann, sah er sich im Schatten einer verhängten Thüre, vor ihm stand Christus, zu seiner vollen Höhe aufgerichtet und mit seiner marmorweißen Hand den Vorhang zur Seite schiebend. Mit dem Rücken zu ihnen gekehrt, saß ein Mann vor einem Schreibtisch und arbeitete eifrig. Das Gemach schien ein Vorzimmer zu sein, durch dessen offene Thüre man in ein zweites Zimmer blicken konnte, in welchem ein großes Himmelbett stand. Auf dem Schreibtisch brannte eine Lampe, die ihr volles Licht auf die Arbeit des Mannes warf, während im Zimmer ein dämmeriges Dunkel herrschte.

Rohan lechzte danach, das Antlitz des Mannes zu sehen, aber es blieb über den Tisch gebeugt. Stunden vergingen und der Mann schrieb noch immer. Er war halb entkleidet, wie jemand, der sich zur Ruhe begeben will, aber während die ganze Welt schlief, saß er wach und arbeitete rastlos. Rohans Herz krampfte sich zusammen. Es bedünkte ihm schrecklich, daß gerade dieser eine Mensch thätig war, während die ganze Schöpfung ruhte. Ermüdet schloß er einen Augenblick die Augen; als er sie öffnete, war das Gemach leer, aber die Lampe brannte noch immer. Verwirrt blickte er zu seinem göttlichen Führer empor, dieser deutete auf den Tisch, seine Lippen hauchten das eine Wort: »Lies!«

Rohan durchquerte das Gemach und neigte sich zu dem mit zahllosen Papieren bedeckten Tisch. Sein Auge blieb auf dem obersten Bogen haften, auf dem die Tinte noch kaum getrocknet war. Nur zwei, mit fester, sicherer Hand geschriebene Worte standen darauf: sein eigener Name – » Rohan Gwenfern

Während er im Traume das Geschriebene las, beschlich ihn ein entsetzliches Angstgefühl. Er hatte die dunkle Empfindung, als ob dieser sein niedergeschriebener Name für ihn etwas Schlimmes, Furchtbares bedeute – was und warum, wußte er freilich nicht. Er fühlte nur ganz deutlich die schreckliche Macht dieses einen Menschen, der da wachte, während die ganze Welt schlief, und der Namen niederschrieb wie von zum Tode Verurteilten. Von Entsetzen erfaßt, sank Rohan in die Kniee und blickte mit erhobenen Händen, wie Hilfe aus einer ihm unbekannten Gefahr suchend, zu seinem Führer empor. Aber mit Blitzesschnelle, wie es im Traum zu geschehen pflegt, schwebte Christus ins Nebenzimmer und zog den schweren Bettvorhang zur Seite und siehe da – Rohan sah klar und deutlich das Antlitz des schlafenden Mannes. Er kroch ganz dicht ans Bett heran und erkannte seinen Peiniger. Weiß wie Marmor, mit gesenkten Augenlidern und festgeschlossenen Lippen, mit dem steinernen Antlitz, das er auf Münzen und Bildern so oft gesehen, ruhte – der große Kaiser! Er schlief so fest, daß man kaum seinen Atem hören konnte. Rohan starrte ihn eine Weile wie gebannt an, dann neigte er sich im Traum über den Schlafenden, weil er glaubte, daß er nicht schlafe, sondern tot sei. Auch die auf der Decke ruhende Hand sah wie von Marmor aus; es war eine zarte weiße Hand, wie die einer Frau und sie war zu einer Faust geballt, wie die eines schlafenden Kindes.

Als Rohan sich wieder aufrichtete, fand er sich allein in dem Gemach. Sein Führer war verschwunden. Draußen im Vorzimmer brannte noch immer die Lampe, aber mit matterem Licht als bisher. Am ganzen Körper zitternd, stand Rohan vor dem Bette des großen Kaisers und vermochte den Blick nicht von dem steinernen Antlitz zu wenden. Solange die übernatürliche Erscheinung Christi an seiner Seite geweilt hatte, hatte er keinerlei Furcht empfunden; jetzt, nachdem sie verschwunden war, erfaßte ihn ein geradezu lähmendes Angstgefühl und eine entsetzliche Hilflosigkeit. Er wollte fliehen, konnte aber kein Glied rühren und mußte immerfort in das schlafende Antlitz des Tyrannen starren. Allein mit dem Herrn seines Lebens zu sein, ihn wie tot vor sich liegen zu sehen – das war mehr als er ertragen konnte. Er kämpfte und kämpfte voll Verzweiflung und Entsetzen gegen dieses lähmende Gefühl und stieß endlich im Traume einen furchtbaren Schrei aus. Der Kaiser rührte sich nicht, aber draußen wurden sofort Stimmen laut, Füßegetrappel näherte sich dem Gemach, er versuchte nochmals zu fliehen, aber seine Füße waren wie festgewurzelt. Während die Vorzimmerthüre aufgerissen wurde, allerlei Höflinge und Soldaten mit gezückten Schwertern hereinstürmten, fiel er in Ohnmacht und – erwachte.

*

Er lag noch immer im nassen Grase am Fuße des Kreuzes. Die Dämmerung brach gerade an. Die Luft war empfindlich kalt. Der Steinchristus hing über ihm – mit brechenden Augen und ganz naß vom nächtlichen Regen.

Rohan war halb erstarrt; er reckte und streckte die Glieder und wollte sich gerade erheben, um ein geschützteres Plätzchen aufzusuchen, als Stimmengemurmel und Füßegetrappel an sein Ohr schlug. Jetzt fiel ihm erst ein, wie nahe von der Landstraße er sich befand. Er warf sich flach in den hohen Ginster, hielt den Atem an und lag bewegungslos.

Die Stimmen kamen immer näher, Rohan zitterte in seinem Versteck, denn er erkannte ganz deutlich die Stimmen seiner beiden Vettern Hoël und Gildas. Plötzlich ward es eine Weile still; dann hörte er das Kommando des alten Korporals: »Vorwärts! Marsch!«

Die Gesellschaft setzte sich wieder in Bewegung und stimmte ein patriotisches Lied an. Sie marschierte hart an dem Kreuze vorbei, hinunter in den Hohlweg. Rohan rührte sich nicht, bis die Stimmen in weiter Ferne verklangen. Er wußte, daß jetzt die Konskribierten von Kromlaix, von Freunden und Verwandten eine Strecke Weges begleitet, zum großen Heer des Kaisers einrückten, um direkt nach dem Rhein zu marschieren.


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