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Neunundzwanzigstes Kapitel.
Allerseelen!

Während Rohan Gwenfern, mit der Handlaterne bewaffnet, das römische Gewölbe oder besser gesagt, den Aquädukt, zum zweitenmal durchforschte, läuteten zu Kromlaix die Kirchenglocken und riefen die andächtige Menge zur Nachtmesse. Die Thüre jedes Hauses stand geöffnet, der Tisch war sauber gedeckt, das Abendessen bereit gestellt, im Kamin brannte ein lustiges Feuer, das bis zur Morgendämmerung aufrecht erhalten werden mußte, denn heute war »die Nacht der Toten.« Dem Volksglauben zufolge kommen in der Nacht von Allerheiligen auf Allerseelen, nachdem die heilige Totenmesse gelesen, das Abendbrot eingenommen ist und die Hausbewohner sich zur Nachtruhe zurückgezogen haben, die Seelen der Toten in die Häuser, thun sich an den gedeckten Tischen gütlich und führen Zwiegespräche miteinander. Wohlverstanden, es kehren nicht nur die Seelen jener Toten, die droben im Friedhof ihr Grab haben, dorthin zurück, wo sie gestorben oder wo ihre Verwandten hausen, sondern auch alle jene, die auf dem fernen Schlachtfeld oder zur See ihr Leben eingebüßt haben.

Die Nacht war stockfinster, hoch in der Luft ertönten unheimliche Laute, die Seelen der Toten huschten wohl über Land und Meer durch dieselbe, um das Heim derer, die sie im Leben geliebt, aufzusuchen. Oben in dem Kirchlein celebrierte Vater Rolland die Totenmesse, die stark besucht war, denn es gab in Kromlaix wohl kaum ein Haus, in welchem man keine Toten zu beklagen gehabt hätte. Marcelle Derval ließ ihre Mutter in der Kirche zurück und ging in Begleitung einiger Freundinnen nach Hause.

Sie fand die Küche nett aufgeräumt, Kerzen auf dem Tische, ein hellloderndes Feuer im Herd, vor welchem der Held von Dresden im Sonntagsstaat schlummerte, eine große Thonpfeife, die er aus Deutschland mitgebracht, im Munde.

»Ah! Bist du es, Marcelle?« rief er, auffahrend. »Der Alte war um euch besorgt und ist euch entgegengegangen. Wo ist die Mutter und die Jungens?«

»In der Kirche; du weißt ja, Mutter verläßt dieselbe vor Schlag Zwölf nicht. Ich bin zu müde und will zu Bette gehen.«

»Das Nachtmahl ist bereit, setz' dich und iß 'was!« meinte Gildas wohlwollend.

»Ich kann nicht, mir ist nicht recht wohl. Gute Nacht, Bruder!« Damit nahm sie ihr Öllämpchen und stieg müde in ihr Kämmerchen. Sie sah wirklich sehr blaß und abgespannt aus, denn sie hatte den ganzen Tag an Rohan gedacht und für ihn gebetet. Während die anderen für die Seelen der Toten ihre Andacht verrichteten, dachte sie nur an diesen Lebendig-Toten, der ein so schweres Kreuz auf sich geladen, mit dem sie litt und fühlte. Sie glaubte unter ihrem großen Schmerz zusammenbrechen zu müssen und deshalb sehnte sie sich nach Einsamkeit in ihrem stillen Kämmerchen. Die anderen würden ebenfalls bald aus der Messe kommen, essen und die Küche dann den armen Seelen der Verstorbenen überlassen. Ach, wenn doch auch diejenige Rohans käme, um sich an all den aufgetischten guten Sachen einmal ordentlich satt zu essen!

Gildas blieb wieder allein in der Küche zurück, der Regen klatschte einförmig auf die Fensterscheiben, sonst herrschte Totenstille drinnen und draußen. Er begann sich recht unheimlich zu fühlen und erhob sich, um auf die Straße zu spähen, ob denn seine Leute noch immer nicht kommen wollten – aber es war stockfinster, wirklich die Nacht der Toten. Als der Zeiger auf halb Zwölf stand, hielt es Gildas vor Unruhe kaum mehr aus, denn die Geisterstunde nahte bedenklich. Er fuhr bei jedem Geräusch erschreckt zusammen, der Kriegsheld fürchtete sich ernstlich und bereute bitter, Marcelle nicht zurückgehalten zu haben.

Endlich ging die Thüre auf und der Korporal humpelte, bis auf die Haut durchnäßt, in die Küche: »Donnerwetter, ist das eine Nacht! Sind sie heimgekommen?«

»Nur Marcelle, die anderen sind noch in der Kirche, obgleich um diese Zeit jeder gute Christ zu Bette sein sollte,« brummte Gildas.

»Ich habe die Straße auf und ab gespäht, und da ich sie nicht entdecken konnte, ging ich an den Strand hinunter. Die Flut ist schon bis auf die Straße gestiegen und die Leute fürchten, daß es eine Überschwemmung geben wird; sie wollen die ganze Nacht wachen, obgleich das Meer spiegelglatt ist,« berichtete der Korporal, vor dem Feuer seine nassen Kleider trocknend. Plötzlich erzitterte das Haus in seinen Grundfesten, als ob ein heftiger Sturm es schüttele.

»Was bedeutet das?« schrie Gildas, entsetzt von seinem Sitze schnellend und sich bekreuzigend.

»Es muß sich ein starker Wind erhoben haben,« erklärte der Korporal, zur Thüre humpelnd und diese hastig öffnend. Draußen rührte sich aber kein Lüftchen.

»Das ist doch merkwürdig!« flüsterte der Alte, an den Kamin zurückkehrend. »Ich habe heute Nacht schon zweimal diese Erschütterung, die von einem Erdbeben herzurühren scheint, verspürt.«

»Onkel, ob das nicht die Seelen der Toten sind?« bemerkte der abergläubische Gildas.

Nun bekreuzigte sich auch der Korporal und starrte gedankenvoll in die Flammen. Einige Minuten vergingen in beängstigendem Schweigen. Plötzlich erzitterte das Haus, ohne jedes Vorzeichen, von neuem! Den Korporal wie auch seinen Neffen beschlich jenes schwindelnde Gefühl, welches mit einem Erdbeben verbunden zu sein pflegt. Der Boden schien unter ihren Füßen zu wanken, alle Gegenstände an den Wänden hüpften und tanzten. Die Thüre der kleinen Kuckucksuhr sprang auf und das hölzerne Vögelchen rief zwölfmal Kuckuck, Kuckuck! Die Geisterstunde war also da! Der Korporal vermochte seine Unruhe nicht länger zu bemeistern.

»Das ist doch unerklärlich, weshalb deine Mutter und die Jungens noch nicht zurück sind. Ich will noch einmal nach ihnen ausschauen.«

Und ehe Gildas etwas einwenden konnte, war er wieder in seinen grauen Soldatenmantel geschlüpft und im Dunkel der Nacht verschwunden. Der junge Kriegsheld war dieser Situation nicht gewachsen. Angstschweiß trat ihm auf die Stirne – kein Wunder übrigens, denn die Luft war von unheimlichem Schweigen erfüllt, nur der Regen klatschte, als ob alle Schleusen des Himmels geöffnet wären, gleichförmig an die Fenster und wenn das Haus, wie von Geisterhänden geschüttelt, wiederholt erzitterte, war die Wirkung eine lähmende. Gildas stand in der offenen Thüre und starrte in den Gußregen hinaus. Es war stockfinster, er hatte die Empfindung als ob kalte Hände ihn streiften und ein leises Wimmern der abgeschiedenen Seelen an seine Ohren zitterte. In jedem Fenster der langen Dorfzeile brannte ein Lichtchen für die Toten und alle Thüren standen sperrangelweit offen, wie die seinige. Gildas hielt es in seiner namenlosen Angst nicht länger aus, er trat in die Küche zurück, näherte sich der Holztreppe und rief ins Kämmerchen hinauf: »Marcelle, Marcelle!«

Keine Antwort.

»Marcelle, schläfst du?«

»Bist du es, Onkel?« ertönte eine Stimme von oben.

»Nein; ich bin's, Gildas. Liegst du schon?«

»Ja! Was giebt es?«

»O, nichts!« entgegnete Gildas, der sich schämte, seine Furcht einzugestehen. »Ich bin nur besorgt, daß Mutter mit den Buben noch nicht zu Hause ist. Onkel ist ihnen entgegengegangen; es regnet in Strömen.«

»Mutter wird vor Mitternacht nicht aus der Kirche gehen, sie kann also noch nicht da sein. Gute Nacht, Gildas, ich bin schläfrig!«

»Gute Nacht!« gab der Held von Dresden kleinlaut zurück. »Laß deine Thüre offen, Marcelle, vielleicht habe ich dir noch etwas zu sagen.«

»Sie ist offen!«

Gildas kehrte zum lodernden Kaminfeuer zurück, aber kaum saß er einige Minuten, als abermals das dumpfe unterirdische Geräusch ertönte und das Häuschen in allen Fugen zitterte. Mit einem Satz war Gildas an der Treppe.

»Marcelle, hast du das gehört?«

»Das Geräusch? Ja, es ist der Wind, laß mich schlafen!«

»Es ist der Teufel!« brummte Gildas und ärgerte sich über Marcelles Ruhe, die schlafen konnte, während er vor Angst fast verging. Er trat noch einmal vor die Thüre hinaus und starrte ins Dunkel, der Regen schlug ihm ins Gesicht, vom Wind keine Spur, er konnte deutlich das Murmeln des Meeres hören.

Doch was war das? Sein Herz stockte und das Blut gerann in seinen Adern. Das war kein Meeresrauschen. Aus der Richtung der Kirche brauste und gurgelte es, als ob das Meer dort oben am Hügel läge. Bevor er seine Sinne recht sammeln konnte, klangen entfernte menschliche Hilferufe an sein Ohr und die Sturmglocke läutete. Vom Strande her eilten dunkle Gestalten die Dorfstraße entlang, er rief sie an, aber sie antworteten nicht. Er lauschte mit atemloser Spannung; kein Zweifel: die Kirchenglocken läuteten Sturm, etwas Ungewöhnliches mußte geschehen sein – aber was? Jetzt eilten einige Gestalten an ihm vorüber, er fragte, was denn los sei und bekam die entsetzte Antwort: »Rette sich, wer kann!«

Seiner Sinne kaum mächtig, lief er, ohne lange zu überlegen, den Leuten nach.

Es hatte seit Wochen fast ununterbrochen geregnet, die Bäche und Flüsse des Festlandes waren angeschwollen und überfluteten die Thäler und Wiesen. Alle Elemente vereinigten sich zu einem Monstrekonzert und gaben das Zeichen zu einem ungeheuren Sturm. Das Meer erhob sich und überschwemmte den ziemlich hoch gelegenen Strand, der Fluß stieg bedenklich in seinem Bett und, was das Schlimmste war, von den Bergen stürzten wahre Wildbäche ins Thal; dabei regnete es fortwährend wie mit Scheffeln.

Kromlaix, das an der Mündung eines engen Thales dicht am Meer lag, schwebte stets in der doppelten Gefahr, von den Bergwassern sowohl wie vom Meere überschwemmt zu werden; seltsamerweise war es aber seit vielen Generationen von diesem Übel verschont geblieben. So lange, daß die ältesten Leute im Dorfe von der letzten großen Überschwemmung nur vom Hörensagen wußten.

Der Herbst 1813 jedoch sollte dem Fischerdörfchen verhängnisvoll werden. Seit vielen Jahren hatte es kein so anhaltendes Regenwetter gegeben, keine so heftigen Herbststürme wie in diesem. Der unterirdische Fluß mahnte allnächtlich zur Vorsicht, so zwar, daß die Erde häufig unter seinem Warnungsschrei erzitterte; die Springflut stieg höher als es seit einem Jahrzehnt ihre Gewohnheit gewesen – kurz, es gab der Zeichen viele, welche die kommende Gefahr verkündeten, aber die Leute ließen sie unbeachtet.

In der Nacht der Toten, da die Erde, die Luft und das Meer von den Seelen der Gestorbenen, die ihr Heim aufsuchen wollten, wimmelte, da alle Kirchen die ganze Küste entlang mit Andächtigen überfüllt waren, erhoben sich die Wasser und forderten ihre Opfer. Durch das enge Thal über dem Dorfe stürzte die rasende, tobende Flut wie ein Gießbach herunter, Bäume entwurzelnd, Hausdächer und Felsstücke mit sich reißend. Rascher als ein Mensch auf dem flinksten Roß galoppieren oder der geübteste Matrose auf dem besten Schiff segeln kann, rollte die Flut heran, auf dem ganzen Wege Tod und Verderben bringend und zu immer stärkerer Macht anschwellend. Als sie die einsamen Sümpfe von Ker Léon erreichte, stockte sie eine volle Stunde, als ob sie sich in die lockere Erde verlieren wollte, wie der Fluß, der seinen Lauf hier beendet. Von den umliegenden Bergen stürzten aber neue Fluten hinzu, so daß auch die Sümpfe überflossen und damit war das Schicksal von Kromlaix besiegelt.

Während dieses kurzen Stillstandes in den Sümpfen bestieg ein beherzter Landmann von Ker Léon sein ungesatteltes Pferd und jagte nach Kromlaix hinüber, um die Nachbarn vor der Gefahr zu warnen. Es schlug gerade Zwölf, als er das Kirchlein am Hügel erreichte. Vom Regen durchnäßt, blaß wie der Tod, stürzte er in die Kirche und brachte die Botschaft von der nahenden Gefahr. Zum Glück waren noch die meisten Bewohner des Dorfes bei der Messe.

»Laßt sofort die Sturmglocke läuten,« befahl der beherzte Vater Rolland. Es geschah auch sofort.

In diesem Augenblick trat der Korporal, ebenfalls durchnäßt und übler Laune, in die Kirche und fand seine Schwägerin und ihre beiden Söhne bereit, den Heimweg anzutreten. Er hieß sie einen Augenblick warten und bahnte sich einen Weg durch die jammernde und verzweifelte Menge zu dem Landmann: »Vielleicht ist die Gefahr doch nicht so arg wie es den Anschein hat? Die Sümpfe von Ker Léon sind groß und tief!«

Aber noch ehe der Mann antworten konnte, brüllte die durch das Thal herabstürzende Flut die Antwort.

»Rette sich, wer kann, auf den Hügel hinauf!« rief der Pfarrer.

Wehklagend, schluchzend und fluchend stürzte die Menge zur Kirche hinaus und den Hügel hinauf. Es goß in Strömen, aber niemand beachtete es. Einige besonnene und mutige Leute führten das Kommando, die übrigen folgten wie eine Schafherde. Der alte Korporal half seiner von der allgemeinen Panik ergriffenen Schwägerin und stützte die vom Schreck fast Gelähmte. Da erklang ganz in ihrer Nähe eine Stimme: »Mutter! Onkel Ewen!«

»Das ist Gildas und allein!« schrie Frau Derval auf. »Allmächtiger Gott, wo ist Marcelle?«

»Sie schläft zu Hause,« entgegnete Gildas. »Aber was ist denn los? Seid ihr denn alle toll geworden?«

»Die Flut ist da! Die Flut ist da!« klang es jetzt aus Hunderten von Kehlen verzweiflungsvoll und wirklich löschten rasende Gewässer bereits die Kerzen in der Kirche aus und die Flut stürzte sich mit gieriger Hast auf das dem Verderben geweihte Kromlaix.


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