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Richard Hönigswald, Philosophie und Sprache. Problemkritik und System.

Basel: Haus zum Falken Verlag 1937. X, 461 S.

Kant hatte Anstalten getroffen, die Probleme der Philosophie in einem eng umschränkten, logisch genau abgesteckten Bezirk zur Entscheidung zu bringen. Er suchte in den Grundlagen der exakten Wissenschaften das Fundament der Theorie aller Erkenntnis auf. Den Gegner dieser exakten Wissenschaften sah er im Dogmatismus und insbesondere im dogmatischen Anspruch der Konfessionen. Die begründete Ablehnung dieses letzteren ist der Ertrag der kritischen Prüfung, die Kant der Metaphysik angedeihen ließ. Was die neukantische Schule angeht, so gehört es zu ihrer Signatur, daß sie den Aufmarschplan des kantischen Denkens beibehielt, obwohl der Gegner längst in ganz anderer Richtung zu suchen war. Denn inzwischen hatte sich die Funktion der exakten Wissenschaften, an denen der Kritizismus groß geworden war, geändert. Der Positivismus erschien als ihr letztes Wort. In der Jugendzeit des deutschen Bürgertums waren sie zu einem Weltbild zusammengetreten, dessen geschichtlicher Aufriß seinen Fluchtpunkt im Reich der Freiheit und des ewigen Friedens besessen und hinter dem kosmischen Aufriß nicht zurückgestanden hatte, der von Kant nach Laplace war entworfen worden. Der Begriff des Erhabenen ist auf solcher Entsprechung der beiden Reiche aufgebaut. »Man kann das Erhabene«, sagt Kant, »so beschreiben: es ist ein Gegenstand (der Natur), dessen Vorstellung das Gemüt bestimmt, sich die Unerreichbarkeit der Natur als Darstellung von Ideen zu denken.« (Kant, Werke, ed. Cassirer, Bd. 5, Berlin 1922, S. 340) Im Weltbild der Helmholtz, Du Bois-Reymond oder Haeckel hatte die Natur aufgehört, den Hebel zur Befreiung des menschlichen Daseins zu bilden. Sie war nicht mehr das Material der Pflicht sondern Instrument einer Herrschaft, die sich um so weiter über den Erdball ausdehnte, je kleiner der Kreis derer wurde, die sie ausübten. Die Völker und Rassen, die dem Zeitalter der Aufklärung in paradiesischer Zerstreuung erschienen waren, rückten zur Kundenmasse auf dem Weltmarkt zusammen. Der Abglanz ihres Ursprungs erlosch in ihnen und damit die Verheißung einer besseren Zukunft, die man vordem an. ihm besessen hatte.

Das war die drückende Konstellation, in die die Erneuerung des Kantischen Denkens fiel. Man darf mutmaßen, daß es die stets verleugnete, unbewußte Komplizität mit dem Positivismus gewesen ist, die die Schwäche des Neukantianismus ausmacht. Diese steckt vor allem in seinem Systemgedanken. Nirgends schlägt Kants Originalität reiner durch als in seiner Kritik der Urteilskraft. Dieser Schlußstein seines Systemgewölbes war es, in den kurz vor seinem Tode die Namen der deutschen Klassizistik gegraben wurden. Der Cohenschen Ästhetik fehlt eben diese exakte historische Phantasie. Bei ihm hat der Systemgedanke nur noch den interpretativen Charakter, nicht mehr den planenden. Die Kräfte der Kritik und der Phantasie nehmen im gleichen Maße ab und aus dem gleichen Grund: sich mit dem Bestehenden einzurichten, fällt den Herrschenden immer leicht. Vollends deprimierend wurde das Bild, als die Starrheit, mit welcher Cohen an den strategischen Positionen des achtzehnten Jahrhunderts festgehalten hat, sich lockerte. Cohens Essai »Über das Eigentümliche des deutschen Geistes«, Natorps »Deutscher Weltberuf« markieren hier eine Schwelle. Der altersschwache Kritizismus begann, nach Sprache und nach Geschichte auszugreifen. In deren Namen hatte einst die historische Schule dem Kritizismus und der Aufklärung insgesamt den Prozeß gemacht. Inzwischen waren Geschichte und Sprachwissenschaft aus ihrer romantischen Periode herausgetreten. Sie waren damit dem Kritizismus nicht näher gerückt. Je entschiedener vielmehr diese Wissenschaften an Strenge es den exakten gleichtun wollten, desto prompter und unauffälliger konnten sie, im Schutze des Alibis, zu dem die Akribie der Quellenstudien ihnen verhalf, den jeweiligen offiziösen Anforderungen entsprechen. Zwei Umstände waren es demgemäß, die die »kritische Philosophie« der Sprache und der Geschichte inauguriert haben: die Verkümmerung des oppositionellen Willens im Bürgertum und die Verkümmerung des geschichtlichen Anspruchs, der in ihm lebte.

Von Natorp führt der Weg über Cassirers »Philosophie der symbolischen Formen« zu Hönigswald. In seinem Verlaufe hat die transzendentale Fragestellung sich allmählich in ein Zeremonial verwandelt, das keinerlei realer Denkleistung mehr zugute kommt. Bei Hönigswald ist aus der transzendentalen Einheit der Apperzeption die Einheit des Kulturbewußtseins geworden, das seinen Niederschlag in der Sprache hat. Die magna charta dieser Anschauungsweise ist die Vorstellung von einem »Kontinuum« – eben dem der Sprache –, auf dem die Gegebenheiten sich sachte verflößen lassen. »Sie umfassen alles, woran trivial ausgedrückt und etwas flüchtig formuliert ›nun einmal nichts zu ändern‹, was eben ›so‹ ist... Glaube und Staat, Recht, Sittlichkeit, Sprache, Natur, Innenleben usw. Sie alle sind schließlich ›Gegebenheiten‹.« (S. 32) »Kulturschaffend und kulturumhegt« bewegt sich die Menschheit auf diesem Strom dahin.

Das Buch beobachtet einen astronomischen Abstand von allen konkreten sprachwissenschaftlichen Fragestellungen. Es steht darin im größten Gegensatz zu der fundamentalen »Sprachtheorie« von Bühler, welche drei Jahre vor ihm erschienen ist (siehe Zeitschrift für Sozialforschung 4 [1935], S. 260f.). Die Untersuchungen über die Tiersprache und die Kindersprache, über mimischen Ausdruck und Aphasie greifen in dem derzeit von ihnen erreichten Standard in die Überlegungen Bühlers ein. Bei Hönigswald ist das nicht der Fall. Das leicht isolierbare Problem der Onomatopoetik mag das veranschaulichen. Die einschlägige Stelle bei Bühler lautet: »Wer die Sprache beiseite schiebt, kann lautmalen nach Herzenslust; die Frage ist einzig und allein, ob und wie man es innerhalb der Sprache zu tun vermag. Es gibt bestimmte Fugen und Spielräume in der Struktur der Sprache, wo dies geschehen kann; aber das eine kann nicht geschehen, daß diese zerstreuten sporadischen Fleckchen, wo Freiheitsgrade bestehen, durch Fusion zu einem kohärenten Darstellungsfelde werden.« (Karl Bühler, Sprachtheorie, Jena 1934, S. 196). Bei Hönigswald gipfelt die Behandlung des Problems in Feststellungen, die ein Minimum an Verständlichkeit mit einem Maximum an Banalität verbinden. Am Onomatopoetikum »stellt sich ... die Frage nach den Naturvorgängen zur Erörterung, deren akustische Valenzen in gewissen Worten wiederkehren. Daß und wie sich nun diese Valenzen im Rahmen geschichtlich bestimmter Sprachsysteme darstellen, das erst erscheint als das eigentliche aber auch schwierigste grundsätzliche Problem der Onomatopoese.« (S. 321) Soweit es einen Prozeß des Denkens fördert, handelt es sich um ein gründlich verdinglichtes, Dafür ist Hönigswalds Definition des Menschen kennzeichnend. Daß sie auf den ersten Blick etwas skurril erscheint, wäre gewiß ihr geringster Fehler. Der Begriff des Menschen umfaßt, von der Sprachtheorie her gesichtet, »gewisse organisierte Körper, die possessiv an ›jemanden‹ gebunden sind, jemandem ›gehören‹, genauer auch als organisierte Körper geradezu dadurch bestimmt erscheinen, daß sie ›jemanden‹ gehören müssen« (S. 274). Dieser Ansatz könnte zu etwas führen, wenn er nicht sowohl an eine Bestimmung des Menschen als des Besitzes gewandt wäre. Er schließt eine Kritik des Besitzes in seinem landläufigen Sinne ein; er weist auf Schranken in diesem Verhältnis hin, wie der Leib sie seinem Besitzer auferlegt. Diese Seite der Sache hervorzukehren, wäre dem kritischen Denken angelegen. Bei Hönigswald ist das nicht der Fall. Er bewegt sich mit seiner Definition im Kreise: ›jemand‹ ist eben nur ein Mensch. Jemand ist niemand sonst denn ein namhafter. Damit träte das Problem des Namens in die Betrachtung ein. Benennung und Bezeichnung stellen die Pole dar, zwischen denen der Funke überspringt, den die Philosophie der Sprache zu bergen trachtet. Das lehrt ihre Geschichte seit dem »Kratylos«. Das Buch reflektiert auf diese kaum. Es ist ›systematisch‹ in dem fragwürdigen Sinne, der ebensowohl die Rücksicht auf die historischen Bedingungen jeder früheren wie auf die der eigenen Erkenntnis beiseite läßt.

Für diesen Ausfall historischer Perspektiven in seinem Problembereich bietet Hönigswalds begriffliche Bestimmung der Geschichte keine Entschädigung. Sie entspricht in ihrer verbindlichen Glätte dem Formalismus, den sie zu stützen hat. »Schilderung und Bekenntnis«, so heißt es bei Hönigswald, »verknüpfen sich in aller Geschichtsschreibung zu unlösbarer ... gegenstandsgewisser Gemeinschaft.« (S. 260) Hat man begriffen, daß es dieser unreinliche Begriff von Geschichte ist, in dem die ›reinlichen Begriffsbestimmungen‹ die ihm vorangehen, konvergieren, Die Definition der historischen Quelle etwa ist folgendermaßen abgefaßt: Ein Gegenstand »kann Quelle heißen, sofern er nur unter dem Gesichtspunkt einer möglichen Absicht darzustellen bestimmbar erscheint... Das ... verleiht der Quelle eine ganz einzigartige Gegenständlichkeit. Diese besteht nur gemäß den Bedingungen derjenigen ›Darstellung‹, der sie als selbst darstellungsbedingte Instanz zur Unterlage dienen soll. Nur vom Ziel der Darstellung aus, die sich aber wieder auf die Darstellungsqualitäten der Quelle stützt, ist deren gegenständliche Bedeutung zu beurteilen.« (S. 221/22) so ermißt man die Bestimmung des Menschen, von der die Rede war, in ihrer völligen Nichtigkeit. Der Verfasser erläutert sie denn auch wie folgt: »Das Wort jemand gewinnt seine Bedeutung im Sinn des ›Menschen‹, sobald der damit gemeinte Erlebnismittelpunkt einen ›unvermittelten‹ Bezug auf ›Wort‹ und ›Kultur‹ d.h. auf die Geschichte ausprägt.« (S. 274).

In solchen Bestimmungen hat man Ausschnitte aus dem »System der Gegenstände selbst« zu erblicken, wie es sich in der Sprache gestaltet, »und zwar nach äußerst verwickelten ... Bedingungen. Die Sprache bestimmt ... den Gegenstand...; sie gehört zu den Bedingungen seiner nie erschöpften Bestimmtheit selbst, ähnlich wie ... die Kausalität.« (S. 23) Eine mehr triste als tragische Ironie will es, daß dieser Kritizismus, der die Stiftungsurkunde der Gegenständlichkeit in der Sprache ans Licht gezogen haben will, bei der Bekanntmachung seiner Funde am Kauderwelsch sein Genüge findet. Würde z.B. »bedeutet..., daß die gemeinschaftsbezogene ›Person‹ selbst nur im Ausblick auf die Qualität wertbedingter ›Würde‹, also im Ausblick auf die Möglichkeit ihres ›Handelns‹ bestimmt ist. In diesem Sinne, d.h. als Subjekt des Handelns befindet sich die Person in funktioneller Abhängigkeit von jenem Wert aller Werte... Sie wird vermöge ihres Wissens um jene Bindung an einen höchsten Wert ›frei‹, d.h. sie gewinnt die ihren Begriff bedingende Valenz der Persönlichkeit‹.« (S. 238/39)

Im Angesicht solcher Dunkelheit, in denen die Vokabeln der praktischen Vernunft ihrer methodischen Armatur beraubt herumgeistern, erkennt man, daß ihr Schicksal nicht wesentlich von dem der Geistesfürsten verschieden ist, die in spiritistischen Zirkeln beschworen werden. Sie müssen, von ihrem Werk abgelöst, zu einer Apotheose herhalten. So die Termini der transzendentalen Philosophie. Wie kam es, daß sie so weit gesunken sind? Kant wollte die Erkenntnis begründen, soweit ihre Struktur in der reinen Vernunft beruhte. Der Anspruch der Epigonen ist nicht so eng. Sie ›begründen‹ alles und jegliches. Ihre Kraft reicht nicht mehr, etwas auszuschließen. Ihrer Begründung wohnt keinerlei kritische Arglist inne, wie sie in der transzendentalen Dialektik Kants so siegreich zum Zuge kommt. Darum taugt dieses epigonale Denken nur zu einer Beschönigung dessen, »was sich nun einmal nicht ändern läßt«. Die Worte, die jedem dienen müssen, konnten in der Tat wie geschaffen scheinen, die Eideshelfer einer so beflissenen Philosophie abzugeben.


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